E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Winkler Creep
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8412-2775-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-8412-2775-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Blick ins dunkle Herz der Hypermoderne
Sie kennen uns, denn sie beobachten uns. Und wir lassen sie in unser Zuhause, teilen online unsere intimsten Gedanken und Bilder.
In seinem zweiten Roman nach seinem gefeierten Debüt »Hool« erzählt Philipp Winkler die Geschichten von Fanni in Deutschland und Junya in Japan - beide suchen im Leben fremder Menschen, woran sie sonst verzweifeln: Kontrolle, Zugehörigkeit, Befreiung. Dabei überschreiten sie Grenzen, die für sie schon längst nicht mehr gelten.
»Creep« ist ein so berührender wie unerbittlicher Roman darüber, wie uns die Hypermoderne deformiert und wozu wir bereit sind, um der Dunkelheit - in uns - zu entkommen.
Die Presse über Philipp Winklers Bestseller-Debüt HOOL:
»Philipp Winkler versteht es, wie zuvor in »Hool«, nicht nur in die Welt der Außenseiter abzutauchen und sie zu erkunden. Er findet eine Sprache, die die Welt dar- aber nicht ausstellt.« WDR 1LIVE über »Carnival«
»Ein außerordentliches literarisches Werk über das Verlieren. « STERN über »Hool«
Philipp Winkler, 1986 geboren, aufgewachsen in Hagenburg bei Hannover. Studierte Literarisches Schreiben in Hildesheim. Für seinen Debütroman »Hool« erhielt er den ZDF aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt, stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und war zum Festival Neue Literatur in New York eingeladen. Der Roman war ein Spiegel-Bestseller, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert. Eine Verfilmung ist in Vorbereitung. Er lebt in Niedersachsen auf dem Land.
Autoren/Hrsg.
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FANNI
Während die Naumanns den Esstisch für das Frühstück decken, schiebt Fanni die Tastatur bis auf den Standfuß ihres Primärmonitors, um Platz für die Rationsbeutel zu schaffen.
Im Videowiedergabefeld des Video Annotation Tools hilft Moira ihren Eltern beim Tischdecken, legt drei rechteckig abgerundete Platzsets aus Kork auf den Tisch. Ihr Okapi steht bereits am Kopfende.
Der Tisch ist aus Vollholz und war Georgs Gesellenstück. Das hatte er auf Nachfrage mal Freund_innen erzählt, die zu einem Brettspieleabend bei den Naumanns waren. Die Freund_innen fanden das beeindruckend. Fanni auch. Wenn auch bestimmt auf eine elementarere Weise.
Bis auf Rechner hat sie noch nie etwas Materielles gebaut. Und PC Building ist ohnehin etwas anderes, als einen Tisch selbst zu schreinern. Man setzt vorgefertigte interoperable Komponenten unter den Hauptgesichtspunkten von Performance und Effizienz zusammen, anstatt etwas von Grund auf aus einem Basismaterial zu formen.
Fanni holt die türkische 24 Hour Civilian Ration – Menüvariante 2 – aus ihrem Rucksack. Im Gegensatz zu den Soldat_innenrationen, die Fanni hauptsächlich nutzt, ist sie bunt, in satten Farben gehalten. Das Foto eines – so schätzt Fanni – Sees in der Türkei, die Berge im Hintergrund, ist allover auf die Tüte gedruckt.
Mit konzentriert herauslugender Zungenspitze trägt Moira drei ineinandergestapelte Müslischalen zum Tisch.
Fanni sortiert die in silbernen Beuteln versiegelten Breakfast-Bestandteile aus dem Rationspaket. Vier Scheiben Lavash-Brot, Käsebällchen, Adjikasoße und schwarze Oliven, nicht entkernt. Dazu ein Teebeutel Lipton Yellow Label und eine kleine Tube Honig.
Moiras Mutter Uta tritt in den Frame der Kamera. Sie verknotet ihr ewig langes dunkelbraunes Haar zu einem unordentlichen Dutt, bei dem Fanni immer an eine nicht näher definierte widerspenstige Steppenpflanze denkt. Uta schiebt ein paar Prospekte auf dem Tisch zusammen und legt sie irgendwo außerhalb des Kameraframes hin.
Als Fanni vorhin das Video Annotation Tool auf ihrem Arbeitscomputer geöffnet und sich sofort in den Account und die Indoor-Cam der Naumanns geloggt hatte, saß Georg schon mit seiner ersten Tasse Kaffee am Tisch und sah sich die Prospekte an. Soweit Fanni es erkennen konnte, handelte es sich um Prospekte verschiedener Fährunternehmen – Fanni konnte kleine, von Wasserblau dominierte Karten und die schwedische Flagge ausmachen.
Jeden Spätsommer besuchen die Naumanns Georgs Eltern, die für ihren Ruhestand nach Schweden ausgewandert sind. Zumindest haben sie es die vergangenen zwei Sommer so gemacht.
Fanni war vor etwas mehr als zwei Jahren auf die dreiköpfige Familie gestoßen, als sie nach Feierabend durch die Kund_innen-Datenbank zappte.
Fanni sah sie durch die bodentiefen Fenster hinter dem Esstisch. Uta und Georg topften auf der Terrasse Pflanzen um. Sie konnte nicht hören, worüber sie sich unterhielten. Moira lief barfuß herum und verteilte mit einem ernsthaften Gesichtsausdruck überall Blumenerde, so als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Das war etwas anderes als die gewöhnliche Impulsivität von Kleinkindern – Kindern im Allgemeinen –, die Fanni aus den Kamerafeeds und dem Real Life vom Sehen kannte. Moiras Eltern störten sich nicht an dem Schmutz. Sie sahen glücklich aus. Lachten und machten den Eindruck zufriedenen Existierens, ohne den Aftertaste von Selbstverständlichkeit. Das fand Fanni irgendwie sympathisch. Und war zu ihrer eigenen Überraschung gehooked. Sie prägte sich den in der BELL-Datenbank eingetragenen Namen und die dazugehörige Adresse ein, so dass sie sie wiederfinden würde.
Sie wohnen sogar hier in der Stadt. Im Norden. Nicht irgendwo sonst in Deutschland, in irgendeiner random Stadt. Auch wenn Lokalpatriotismus in Fannis Augen eine Form von Low-Key-Nationalismus ist, findet sie das so was Ähnliches wie schön.
Sie legt den Flameless Ration Heater auf den Boden des Heating Bags, steckt den gezippten Trinkbeutel dazu und gießt 100 ml Wasser in den Heating Bag, um die Redoxreaktion des FRH auszulösen. Dann drückt sie die Adjikasoße auf die runden Lavash-Scheiben und isst eine der öligen Oliven, während sie Moira dabei zusieht, wie sie die Knie voran auf ihren Stuhl am Tischende klettert. Uta bringt zwei Tassen Kaffee und ein Glas Orangensaft mit Fruchtfleisch für Moira. Georg rückt ihren Stuhl näher an den Tisch und schüttet Müsli aus einem zylinderförmigen Glasbehälter in ihre Schale.
Fanni verteilt die Käsebällchen auf den Lavash-Scheiben, drückt sie in die Soße, damit sie nicht so leicht rausrutschen können, wenn sie das dünne Fladenbrot wie Tortillas zusammenrollt.
»Sag, wenn’s reicht«, kommt Georgs Stimme aus den PC-Boxen, die an den Trennwänden von Fannis Büro-Cubicle hängen.
Immer mehr Müsli häuft sich in Moiras Schale auf. Sie grinst ihren Vater verschmitzt an und stützt sich mit durchgedrückten Armen auf der Tischplatte ab. Fanni kann kaum hinsehen.
Vor ein paar Wochen war Moira aus der gleichen Position abgerutscht und hatte sich im Sturz an der Tischkante gestoßen. Sie hatte sogar eine kleine Platzwunde an der Stirn. Ihre Eltern reinigten die Wunde und klebten ihr ein Pflaster auf. Bevor Moira überhaupt anfangen konnte zu weinen, lenkten Georg und Uta sie mit einem Taschenspiegel ab und zeigten ihr die rote Strähne, die das Blut im Pony ihres Topfschnitts hinterlassen hatte.
»Wow, wie schick«, sagte Uta, und Georg dachte laut drüber nach, ob er sich auch eine Strähne seines weißblonden Haars rot färben sollte. Moira schüttelte kichernd den Kopf, und darüber war Fanni froh.
»Was«, sagt Georg in gespieltem Erstaunen, »so viel Hunger hast du? Lässt du Mama und mir denn auch noch was über?«
Moira nickt eifrig und bejaht. Ihr Pony fliegt auf. Die native Full-HD-Auflösung der Indoor-Cam reicht nicht aus, um zu erkennen, ob sie eine kleine Narbe zurückbehalten hat, da, wo die Platzwunde war.
Fanni hofft, dass die Verkaufszahlen der aktuellen Version der Indoor-Cam bald rückläufig sein werden, weil das bedeuten würde, dass BELL die nächste auf den Markt wirft. Diese wird in der Lage sein, reinzuzoomen. Sobald die Verkäufe dieses Modells dann zurückgehen, wird die Version mit 4K-Auflösung und per App schwenkbarem Kamerakopf veröffentlicht. Die Prototypen der nächsten beiden Kameragenerationen sind bereits ausgetestet und bereit, in Serie zu gehen. Das weiß Fanni aus einem Dokument, das jemand unverschlüsselt und ziemlich sloppy im Intranet hat rumliegen lassen – sie musste Zeit totschlagen, als die Kundin, die sie gerade beim Yoga beobachtete, in einen nicht von Kameras erfassten Bereich ihres Hauses ging. Da sich sämtliche aktuellen Kameramodelle BELLs aber sowohl in den USA als auch in Europa, Indien und Teilen Ostasiens noch wie geschnitten Brot verkaufen, hat der Konzern keine Eile damit, die nächsten Generationen zu veröffentlichen.
Beim Frühstück reden Uta und Georg über eine Bewohnerin des Alten- und Pflegeheims, in dem Uta als Ergotherapeutin angestellt ist. Vorigen Monat war die Bewohnerin gestürzt, jedoch ohne sich etwas zu brechen oder zu prellen. Seitdem beharrt die Frau darauf, auch die kürzesten Wege mit dem Rollstuhl zurückzulegen. Uta sagt, dass sie sich Sorgen mache und dass solche Ängste oftmals zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen würden.
Fanni isst die zusammengerollten Brote. Die Käsebällchen darin knistern. Sie beobachtet Moira, die ihre Eltern wiederum mit besorgt hochgezogenen Augenbrauen beim Tischgespräch beobachtet. Sie schaufelt sich löffelweise Müsli, Joghurt und Blaubeeren in den Mund und kaut in der Wange, so dass das Auge auf der Seite ein wenig zusammengekniffen ist. Sie wirkt, als würde sie jeden Moment eine sehr kritische, wohlüberlegte Frage stellen, hört aber nur weiter still zu. Beobachtet. So wie Fanni.
Nach dem Frühstück räumen sie alle gemeinsam ab. Die drei Naumanns ihren Esstisch aus Vollholz. Fanni ihren weißen Schreibtisch im weißen Cubicle.
Sie kommt von der Damentoilette zurück, auf der sie die leeren Rationsbeutel entsorgt hat, und wechselt in die Videotürklingel der Naumanns. Moira schlüpft gerade in ihre ...