Wintersteiner | Transkulturelle literarische Bildung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: ide-extra / Band: 12

Wintersteiner Transkulturelle literarische Bildung

Die Poetik der Verschiedenheit in der literaturdidaktischen Praxis

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: ide-extra / Band: 12

ISBN: 978-3-7065-5852-5
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Dieses Buch plädiert für einen Paradigmenwechsel – von der nationalen zur transkulturellen literarischen Bildung. Sie erzieht zum Respekt vor der Verschiedenheit der Kulturen und entwickelt eine "Kultur der Mehrsprachigkeit". Damit leistet sie einen spezifisch ästhetischen Beitrag zu einer solidarischen Weltgesellschaft.
"Transkulturelle literarische Bildung" erweitert den Kanon über die deutschsprachige Literatur hinaus – durch die Einbeziehung der nationalen Minderheiten, der Migration und der Kontaktzonen zu den Nachbarländern sowie durch ein neues Konzept von Weltliteratur, das auch die Literaturen der "Dritten Welt" berücksichtigt. Methodisch befähigt sie die Lernenden zu Perspektivenwechsel und Fremdverstehen.
Der Band zieht eine kritische Bilanz der bestehenden Literaturdidaktik und skizziert die Aufgaben und Methoden transkultureller literarischer Bildung. Zahlreiche Beispiele und didaktische Exkurse bieten Anregungen für die Unterrichtspraxis.
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1
Für eine »Poetik der Verschiedenheit«
Einleitung
Keine Kunstgattung eignet sich besser, eine andere Mentalität, eine anders laufende Geschichte, eine Variante in der Sozialisierung oder in der Psychologie verstehen zu lernen als die Literatur. Marianne Gruber     1.1 »Poetik der Verschiedenheit« als literaturdidaktischer Paradigmenwechsel
Neulich, in der Galerie, spricht Galeristin G. doppelt so lahm mit mir, auch nach neuerlichem, meinerseitigem Versichern, ich verstünde die deutsche Sprache, sie wäre mir nicht fremder als ihr selbst, der Galeristin, die doppelt so lahm mit mir spricht aufgrund meines Aussehens, doppelt so fremd vielleicht. Eine Situation, in die ich häufig gerate. Es knirscht an meinem Selbstbewußtsein, nehme ich mich verstärkt aus ihrer Perspektive wahr, der Perspektive derer, die mein fremdes Äußeres mehr hören als sehen. Bald antworte ich auf solch gedehnt verzerrtes Deutsch mit eindeutigem Stottern und angedichtetem Akzent, bald glaube ich, die falsche Position zu vertreten, ihnen, jenen, recht geben zu müssen – doch nicht, nie berechtigt gewesen zu sein, sicheres, perfektes Deutsch sprechen zu können, wie auch, sieht nicht alles dagegen? Mein Stammeln bestätigt ihr Sehen; sie fahren fort, idiotisch zu reden, ich fahre fort, mich diebisch zu fühlen, benutze ich unberechtigterweise diese Sprache, unerlaubterweise perfekt. (Kim 2004, 36) Die in Wien aufgewachsene, in Korea geborene Schriftstellerin Anna Kim berichtet ein Alltagserlebnis, das symptomatisch unser Verständnis von Sprache, Kultur und Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Da sie anders, »asiatisch« aussieht, kann sie gar kein richtiges, korrektes Deutsch sprechen. Die Sprache, verstanden als genuiner Ausdruck der angeborenen Nationalität, ist Privileg der jeweiligen Nation und Unterscheidungsmerkmal von den anderen. Diese Haltung ist selbstverständlich und verinnerlicht: »Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß all dies harmlose Verwunderung, kindliches Staunen, kein absichtliches Verletzen sei, kein Ausschluß aus der Gemeinschaft, nur Einüben in das Gewöhnen an das Außergewöhnliche« (Kim 2004, 36). Die kulturelle Hegemonie dieser Einstellung ist so mächtig, dass sie sogar die erfasst, die größtes Interesse haben müsste, dagegen anzukämpfen: Anna Kim reagiert – wider Willen – »mit eindeutigem Stottern und angedichtetem Akzent«. Sie ist irritiert, es »knirscht« in ihrem Selbstbewusstsein, sie fühlt sich »diebisch«, schuldig, einen grundlegenden Regelverstoß begangen zu haben. Anna Kim hat mir ihren Schuldgefühlen »recht«. Sie hat tatsächlich einen klassischen Glaubenssatz angezweifelt, ein heiliges Grundgesetz verletzt, sie hat die »logische Gleichung« Sprache=Nation in Frage gestellt, durch ihr allzu perfektes Deutsch außer Kraft gesetzt. Sie rüttelt damit an einer ehrwürdigen, gut eingeführten, traditionsreichen Auffassung von Kultur und Gesellschaft, mehr noch: an einem tief sitzenden Denkmodell, einem Paradigma der Wahrnehmung von kulturellen und gesellschaftlichen Vorgängen – an der Ideologie des Monokulturalismus. Monokulturalismus, das ist die Theorie der Nation in ihrer klassischen Ausformung, das Modell des Nationalstaats, der auf der einen nationalen Tradition, der einen nationalen Sprache, dem einen Nationalvolk beruht. Ich spreche von Modell, um das Idealtypische dieser Konstruktion zu betonen. Natürlich geben realistische Monokulturalisten zu, dass dieses Modell im konkreten Fall nicht immer erreicht werden kann: Dem Ideal der Einsprachigkeit stehen ethnische Minderheiten oder Einwanderer entgegen, die nationalen Traditionen sind oft nicht besonders offensichtlich und müssen eher erfunden als gefunden werden, das Nationalgefühl ist nicht – wie eigentlich vorgesehen – der Motor für die nationalstaatliche Vereinigung, sondern zumeist erst deren späteres Nebenprodukt. Doch immer bleibt nach dieser Anschauungsweise nationale Einheit, kulturelle Reinheit und Monolingualismus des Staatsvolkes das Ideal, der eigentliche Maßstab für das Gelingen des Projekts Nation. Heute, in Zeiten des Postkolonialismus und der Globalisierung, ist die Nation als Modell und Träger von Identität – und mit ihr auch nationale Bildung – fragwürdig geworden. Treibende Faktoren dafür sind einerseits der Widerstand der Marginalisierten – der bisher aus dem kulturellen Machtspiel ausgeschlossenen »Minderheiten« oder nicht als vollwertig anerkannten »Nationen«. Dies zeigt sich an dem Erstarken von indigenen Bewegungen in allen Weltteilen sowie am Renouveau sprachlicher und ethnischer Minderheiten, wie er auch in Europa deutlich zu registrieren ist. Zugleich – und dieser Faktor ist wohl noch bedeutender – hat die massenhafte Migration weltweit neue Dimensionen angenommen, und die Erwartungen, dass diese MigrantInnen schnell und im Selbstlauf von der »Mehrheitsbevölkerung« assimiliert und deren »Leitkultur« untergeordnet werden können, hat sich als pure Illusion erwiesen. Die multikulturelle Gesellschaft, lange Zeit bekämpft, oft geleugnet, mehr als Gefahr denn als Wunschbild betrachtet, ist in allen Ländern Europas längst Realität geworden. Andrerseits steigt aber der hegemoniale Druck der größten Mächte, die dank der medialen Revolution, der Globalisierung der Verkehrs- und Kommunikationsmittel, nun buchstäblich in die letzten Winkel der Welt eindringen, welche bisher abgeschottet existieren konnten. Diese Tendenz wird oft als Amerikanisierung oder McDonaldisierung denunziert – zwei Formulierungen, die der Komplexität der Entwicklung in keiner Weise gerecht werden. Weder ist dieses Phänomen auf die angloamerikanische Sprache und Kultur begrenzt, noch ist dieser Prozess einseitig als Kolonialisierung zu interpretieren.1 Die Folge dieser vielfältigen und oft kontroversen Trends ist ein äußerst widersprüchlicher, permanenter Prozess der Mischung von Kulturen, der gleichzeitig von Druck, Widerstand, Aneignung und Subversion gekennzeichnet ist. Es entstehen, im besten Falle, immer neue »nicht-authentische« kulturelle Formen und Ausdrucksweisen, deren wahre Authentizität nicht in einer konsequenten Bewahrung lokaler Traditionen, sondern in einer permanenten Auseinandersetzung mit den realen Problemen der Gegenwart besteht. Die Elemente für diese Auseinandersetzung kommen von überall her – aus der traditionellen »eigenen« Volkskultur ebenso wie aus der industriell gefertigten globalen Massenkultur, die selbständig angeeignet und »relokalisiert« wird, aus »exotischen« Elementen fremder Volkskulturen wie benachbarter Hochkulturen. Dies ist vielleicht am deutlichsten im Bereich der Musik zu registrieren, wo klassische Musik nicht mehr nur mit traditioneller Volksmusik angereichert wird, sondern zunehmend mit Instrumenten, Melodien, Rhythmen und Musikstilen aus aller Welt, mit internationaler Popmusik wie »autochthoner« Musik aus der Dritten Welt – ein Phänomen, das meist mit dem unscharfen Begriff »world music« bezeichnet wird. Für alle diese Trends, Tendenzen und Entwicklungen sind nun nicht mehr die Reinheit und die Einheit, sondern die Verschiedenheit und die Mischung das Typische und Charakteristische. Wolfgang Welsch hat dafür den Begriff »Transkulturalität« vorgeschlagen, ein Konzept, »das deskriptiv und normativ ein anderes Bild vom Zustand und Verhältnis der Kulturen entwirft: eines nicht der Isolierung und des Konflikts, sondern der Verflechtung, Durchmischung und Gemeinsamkeit« (Welsch 1997, 13). Damit sagt Welsch zweierlei: – Erstens, dass kulturelle Mischung, Multikulturalität und Mehrsprachigkeit nicht den Ausnahmezustand, sondern den Normalzustand darstellen; und – Zweitens, dass dieser Zustand nicht widerwillig hingenommen werden soll, sondern auch einen positiven Wert darstellt, der das alte Ideal der Reinheit, der Monokulturalität und des Monolingualismus ablösen sollte. Mit Welsch bin ich der Meinung, dass der Begriff Transkulturalität schärfer als der besser eingeführte Begriff Interkulturalität die Hybridität und Mischung kultureller Elemente zum Ausdruck bringt.2 Transkulturalität grenzt sich bereits als Begriff ab von einem Ethnopluralismus oder »pluralen Monokulturalismus« (Sen 2006, 104), also einem Nebeneinander von Traditionen, die möglichst nicht miteinander in Berührung kommen sollen, um ihre »Authentizität« zu bewahren. Transkulturalität macht auf eindringliche Weise deutlich, dass es nicht einfach um die Darstellung neuer kultureller Phänomene geht, sondern – viel grundsätzlicher – um eine neue Sichtweise auf das Phänomen Kultur.3 Diese neue Sichtweise muss auch rückblickend auf die nationale Epoche der Kulturbetrachtung angewandt werden. Dieser Standpunkt hat erhebliche Konsequenzen für unser Konzept von kultureller und literarischer Bildung. Literarische Bildung ist als nationale Bildung entstanden. Europäische Literatur...


Werner Wintersteiner, Deutschdidaktiker und Friedenspädagoge an der Universität Klagenfurt, ist Co-Herausgeber der Zeitschrift "Informationen zur Deutschdidaktik" (ide).


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