E-Book, Deutsch, 152 Seiten
Witkiewicz Rudolf Nurejew
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95749-088-9
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Biographie
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
ISBN: 978-3-95749-088-9
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Rudolf Nurejew' erzählt die Geschichte des berühmtesten Balletttänzers der Welt. Geboren 1938 in Sibirien, er absolvierte noch mit 17 Jahren die renommierte Staatliche Choreografie-Schule Leningrad (heute: Waganowa-Ballettschule). Während einer Tournee 1961 in Paris beantragte er Asyl in Frankreich. Mit seinen Choreografien hat er viele klassische Ballettwerke wie 'Nussknacker', 'Don Quijote' und 'Schwanensee' wiederbelebt und in die Moderne fortgeschrieben. Er machte den männlichen Rollenpart gleichberechtigt zu dem der Ballerina und tanzte mit den berühmtesten Tänzerinnen des 20. Jahrhunderts. Rudolf Nurejew war bis zu seinem frühen Tod 1993 ein leidenschaftlicher Mensch und ist bis heute eine unvergleichliche Ikone des Balletttanzes.
'Was für eine Urkraft war Rudolf Nurejew, was für ein Ereignis. Er war und ist eigentlich bis heute ein Star. Er war besessen, besessen von Tanz, Theater. (...) Sein anspruchsvoller Arbeitsstil, der wie er selbst legendär war, wirkte sich auf die ganze Generation der Tänzerinnen und Tänzer aus, sowohl auf der Bühne als auch in seiner Intendantenzeit im Ballettensemble der Pariser Oper. Ich persönlich bewundere Rudolf Nurejew für seinen starken Charakter, Ausstrahlung und die enorme Energie.' Aus dem Vorwort von Vladimir Malakhov
Mit zahlreichen Abbildungen. Enthält bisher unveröffentlichtes Fotomaterial.
Aus dem Polnischen von Andreas Volk.
Jan Stanislaw Witkiewicz
Autor zahlreicher Bücher im Bereich Oper und Ballett und seit Jahren ein steter Begleiter des künstlerischen Schaffens von Vladimir Malakhov. Er war außerdem Fotograf und Kurator bei diversen Ausstellungen in Polen, Deutschland und Österreich.
Zuletzt erschienen von ihm im Verlag Theater der Zeit 'Vladimir Malakhov und das Staatsballett Berlin'; 'Shoko Nakamura & Wieslaw Dudek'; 'Beatrice Knop' und 'Rudolf Nurejew'.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
"Die Ausstrahlung eines Popstars" - Vladimir Malakhov über Rudolf Nurejew
von Vladimir Malakhov/ Seite 5
"Rudolf Nurejew. Die Biographie"
von Jan Stanislaw Witkiewicz / Seite 7
Chronik / Seite 147
Autorenvita / Seite 151
Impressum / Seite 152
Ich organisierte einen Auftritt in London, erinnerte sich Fonteyn, der Erlös sollte wohltätigen Zwecken zugutekommen. Wir luden ihn ein. Er kam nach London, um alles zu besprechen. Er kam spät nachmittags direkt vom Flughafen zu uns. Ich ging nach unten, um ihn zu begrüßen. Das Erste, was mir au?el, war, dass er sehr blass und mager aussah. Damit hatte ich nicht gerechnet. Wir tranken Tee. Ein Kollege von mir war dabei. Wir unterhielten uns, wobei wir uns gegenseitig aufmerksam beobachteten. Irgendetwas musste passiert sein, denn er begann plötzlich zu lachen. Wie schön, dass du lachst!, rief ich, denn in diesem Augenblick wusste ich, dass alles gut werden würde. Er sprach nicht viel Englisch. Es war sein erster Aufenthalt in England. Aber schon damals war ich erstaunt über seine außergewöhnliche Intelligenz. Etwas später gab er ein Fernsehinterview. Ich wollte ihm helfen, aber bereits nach zwei Fragen sah ich, dass er ausgezeichnet allein zurechtkam. Er wusste genau, was er sagen wollte. Auch wenn sein Englisch nicht besonders gut war.
Ich bin ein romantischer Tänzer, sagte er in diesem Interview, aber ich möchte mich auch im modernen Tanz versuchen. Im Übrigen möchte ich alles ausprobieren. Ich kann meinen Stil nicht ändern. Ich tanze so, weil ich so bin. Ich tanze, was ich denke und fühle. Vielleicht werde ich eines Tages in eine ganz andere Richtung gehen, aber ändern werde ich mich nie. Als er im Westen blieb, erinnerte sich Dame Ninette de Valois, war das so, als wäre eine Bombe in der Ballettwelt eingeschlagen. Sein Tanz war virtuos, und gleichzeitig war Nurejew ein großer Künstler. Diese Kombination war für uns etwas völlig Neues. So etwas hatten wir noch nicht erlebt. Es war phantastisch, ihn hier zu haben. Auf einmal, erzählte Christa Himmelbauer, erschien Rudolf mit seiner überdurchschnittlichen Technik auf den europäischen Bühnen. Er verbeugte sich vor dem Publikum wie kein Tänzer je zuvor. Dies allein schon war ein Schauspiel für sich. Er hing der Philosophie an, dass er darüber zu entscheiden habe, wohin das Publikum in einem bestimmten Moment blickt. Jeder Schritt, jede Geste, sogar der Blick – alles war genauestens einstudiert. Es war faszinierend zu beobachten, wie ein so junger Tänzer – er war damals nicht viel älter als zwanzig – sich so bewusst auf der Bühne bewegte. Außerdem war er ungewöhnlich gut aussehend, in diesem Fall kann man wirklich sagen: Er war bildhübsch. Als wir ihn zum ersten Mal sahen, starrten wir ihn mit o?enen Mündern entgeistert an. Wir brachten kein Wort heraus. Derart beeindruckt waren wir von seinem Auftreten im Ballettsaal. Zudem hatte er eine ungewöhnlich erotische Ausstrahlung, was man von unseren Tänzern keinesfalls behaupten konnte. Plötzlich erschien jemand, der das Gebaren eines Pfaus an den Tag legte. Es war also kein Wunder, dass alle ihm zu Füßen lagen. Bevor Nurejew das erste Mal mit Fonteyn tanzte, war er mit dem Ensemble des Marquis de Cuevas in Israel auf Tournee. In Paris musste er sehr vorsichtig sein, weil er Racheakte des KGB befürchtete, in Israel fühlte er sich dagegen frei. Er wollte überall sein und alles sehen. Und dort, am Strand von Tel Aviv, entdeckte er anonymen Sex. Er lernte junge Männer kennen, mit denen er schnell in der Garderobe verschwand. Für uns war das schrecklich, erinnerte sich Ghislaine Thesmar. Wir hatten einige hübsche Blondschöpfe im Ensemble, aber Rudolf hatte an ihnen kein Interesse. Am Strand entdeckte er Freiheit und Anonymität, Partner, die er später nicht mehr tre?en musste. Das gefiel ihm. Sex zwischen Männern ist einfach und unkompliziert. Es geht allein um das Körperliche. An vielen Orten überall auf der Welt kann man schnell jemanden kennenlernen und mit ihm ins Bett steigen, ohne sich unterhalten zu müssen. Ohne unnötige Komplikationen, ohne Zeit zu verlieren, ohne großen Aufwand zu betreiben, bekommt man das, worauf man gerade Lust hat. Und Nurejew wollte Sex, überall, ständig, mit wem auch immer. Je anonymer, desto besser. Und häufig, besonders später, ohne Worte, ohne überflüssige Gespräche. Recht bald entdeckte er auch, dass man Sex kaufen kann. Dass man sich, fast wie in einem Geschäft, genau das aussuchen kann, wonach einem gerade verlangt. Man erhält ein Produkt mit den entsprechenden Parametern. Einen auf den Körper reduzierten Geschlechtspartner – wobei »Partner« in diesem Zusammenhang etwas euphemistisch klingt –, der die Lust befriedigt. Einen Körper mit allem Drum und Dran, der soundso aussehen soll. Wie ein Steak à la Chateaubriand, genau so und nicht anders gebraten. Immer öfters war übrigens das Stück Fleisch auf dem Teller wichtiger als das Fleisch im Bett. Aber diese Entdeckung machte Nurejew erst später. Jetzt freute er sich an den neu gewonnenen Möglichkeiten. Darin unterschied er sich stark von Erik Bruhn, mit dem er damals zusammen war. Erik war im Grunde genommen sehr wählerisch und keusch, erinnerte sich Glen Tetley. Rudolf dagegen war lüstern und für alle Experimente o?en. Er wollte etwas erleben. Für ihn war alles eine einzige große Party. In »Schwanensee«, Wien 1964 Die ersten Proben fanden Ende Oktober 1961 in London statt. Frederick Ashton hatte sich widerwillig bereit erklärt, eine Choreographie für Nurejew zu erarbeiten – er hatte Rudolf noch nie gesehen. Nurejew wählte die Musik selbst aus: »Poème tragique« von Alexander Skrjabin. Ein kurzes Stück, das Nurejew seit jeher gefiel und zu dem er immer schon einmal tanzen wollte. Die ersten Stunden belauerten sie sich gegenseitig, lernten sich kennen. Mit eindeutigem Ergebnis: Ich habe fast alles akzeptiert, was er vorgeschlagen hat, sagte Ashton. Weswegen diese kurze Solonummer auch fast nichts von Ashton hatte, dafür aber umso mehr von dem, was man in späteren Choreographien von Nurejew sehen kann. Während der Generalprobe bemerkte Fonteyn erschrocken, mit welcher Verbissenheit er an die Sache heranging. Beim Abendessen bat sie ihn, das Ganze mit etwas mehr Distanz zu betrachten und den Tanz mit der gleichen Energie zu Ende zu bringen, mit der er ihn beginne. Das wäre Betrug, antwortete er. Wenn ich in Russland einen Tanz nicht zu Ende tanzen konnte, habe ich ihn abgebrochen und bin von der Bühne gegangen. Man konnte die Panik in Fonteyns Augen förmlich sehen. Während der Gala im Drury Lane Theatre eroberte Nurejew das Londoner Publikum im Sturm, auch wenn er im Pas de deux aus dem »Schwanensee«, mit Rosella Hightower in der Rolle des Schwarzen Schwans, viele technische Fehler machte. Doch die Leidenschaft, die in seinen Bewegungen zum Ausdruck kam, war einmalig und außergewöhnlich. Er war der Einzige, der an diesem Abend das Publikum begeisterte. Fonteyn, schrieben die Kritiker, sei müde gewesen, sie habe ihre technische Perfektion verloren und ihre besten Jahre zweifelsohne bereits hinter sich. Dennoch wollte Ninette de Valois, die Direktorin des Royal Ballet, dass Fonteyn in der folgenden Spielzeit mit Nurejew in »Giselle« tanzen solle. Die, als sie davon hörte, ausrief: Mein Gott! Das wäre so, als tanzte ein alter Klepper mit einem jungen Fohlen! Meinen Sie nicht, dass ich dafür etwas zu alt bin? Zuvor flog Nurejew aber nach New York, wo er am 19. Januar 1962 im Fernsehsender NBC auftreten sollte, als Vertretung Bruhns, der sich verletzt hatte. Er tanzte mit Maria Tallchief in »Blumenfest in Ganzano« eine Choreographie von August Bournonville. Er war sich bewusst, dass ihm – was ihm sehr wichtig war – Millionen Zuschauer am Bildschirm und Balanchine zusahen. Mit zweitausend Dollar Honorar in der Tasche flog er zurück nach London, um erstmals gemeinsam mit Fonteyn zu tanzen. Seiner Gewohnheit gemäß fuhr er vom Flughafen direkt zum Ballett, zu einer Au?ührung der »Giselle« des Ballet Rambert. Nurejew wohnte bei Fonteyn und ihrem Mann, dem Botschafter von Panama. Er musste kaltes Roastbeef essen, das ihm überhaupt nicht schmeckte, aber Fonteyns Leibspeise war. Er hielt es in der Botschaft kaum aus, weil es in diesem schönen Haus entsetzlich still war. Es gab keine Musik. Der arme Rudolf, erinnerte sich Fonteyn, ernährte sich buchstäblich von Musik. Umgeben von Stille, fühlte er sich wie ein Mensch, der langsam verhungert. Im Ballettsaal störte ihn jedoch nichts. Man fing an, intensiv zu proben. Wir begannen mit den Verhandlungen, erinnerte sich Fonteyn, jeder von uns änderte hier und da einige Pas. Am wichtigsten aber war für mich zu sehen, wie er in seiner Rolle mit Haut und Haar aufging. Zwei Stunden vergingen wie im Fluge. Ich war Giselle und er Albert. Oft verwandelte er sich jedoch in Rudolf zurück und zeigte mir mit unglaublicher Präzision, wie ich einen Pas noch besser ausführen konnte … Ein anderes Mal übte er sein Solo. Er war wie eine Dampfwalze. Aus Rudolf wurde wirklich Albert, und zwischen unseren Interpretationen herrschte...