Witzel | Vondenloh | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 287 Seiten

Witzel Vondenloh


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95757-722-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 287 Seiten

ISBN: 978-3-95757-722-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Frank Witzels hinreißend komischer Roman über Leben und Werk der Schriftstellerin Bettine Vondenloh - deren Romane 120 Seiten nie überschreiten und stets Bestseller werden - ist Literaturbetriebskrimi ebenso wie skurrile Dorfgeschichte: Ein gigantischer Wal beginnt darin gehörig zu stinken, die Psychoanalytiker Jacques Lacan und Wilhelm Reich entkommen knapp einem gefährlichen Sturz, eine riesige Wachsstatue Himmlers offenbart ihr Innenleben und der Erzähler kommt in Verdacht, ein Verhältnis mit der in die Jahre gekommenen Schriftstellerin gehabt zu haben. Am Ende wissen wir zwar nicht mehr als zuvor, aber sind um einiges klüger.

Frank Witzel, geboren 1955, lebt und arbeitet in Offenbach. Für seinen Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 bekam er den Robert Gernhardt Preis und den Deutschen Buchpreis 2015. Für das gleichnamige Hörspiel gewann er den Deutschen Hörspielpreis 2016. Zuletzt veröffentlichte Frank Witzel gemeinsam mit Philipp Felsch das Gesprächsbuch BRD Noir. Für seinen Roman Direkt danach und kurz davor ist er nominiert für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017.

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2
DER GÜNDELHOF
Der einstige Gündelhof, das jetzige Heimatmuseum Leinheim, war ein unheimlicher Ort, der die Fantasie von uns Kindern gefangen hielt. Das weitläufige und in ein Hauptgebäude und zwei Seitenflügel aufgeteilte Anwesen befindet sich auf einer kleinen Erhebung gleich rechts am Ortseingang. Ein großes Holztor, in das eine schmale Tür eingelassen ist, verschließt den gepflasterten Hof, in dessen Mitte ein Brunnen und ein alter, in den letzten hundert Jahren bedauerlicherweise schon dreimal vom Blitz getroffener und deshalb toter Eichenstamm steht. Während des Krieges wurden die Zimmer und vor allem die Kellerräume als Munitionsdepot benutzt. Kurz vor Einmarsch der Alliierten verminte der Sohn des damaligen Bürgermeisters das Gelände so gründlich, dass selbst die Amerikaner sich unverrichteter Dinge zurückziehen mussten. Man erzählt Fremden und Besuchern in Leinheim gern die Geschichte einer zehntägigen Belagerung, wahrscheinlich um in ihr den dörflichen Zusammenhalt zu symbolisieren. Tatsächlich hatten die Besatzer einen einzigen Panzer und einen Jeep nach Leinheim abkommandiert, weil man in der Gegend von Ulm Lager- und Konstruktionsplätze für Geheimwaffen vermutete. Als die beiden Insassen des Jeeps jedoch bei einem ungeschickt ausgeführten Anfahrmanöver zum Gündelhof eine der Minen auslösten und dabei bedauerlicherweise ums Leben kamen, während der ihnen nachfolgende Panzer aus unerfindlichen Gründen ein nur fenstergroßes Loch in das Mauerwerk hatte schießen können, beschloss die Vorhut, wieder abzudrehen und den strategisch unwichtigen Ort sich selbst zu überlassen. Währenddessen war der Bürgermeistersohn am Morgen nach seiner nächtlichen Aktion mit einem demolierten Armeemotorrad neben der Bahnstrecke nach Riedhausen einem Gütertransport hinterhergerast, hatte jedoch bei einer Wegschlaufe die Kontrolle über sein Gefährt verloren, war kopfüber in einen Stacheldrahtzaun gestürzt und schließlich von seiner ihm nachkommenden Maschine erschlagen worden. Dies war der Grund, warum niemand im Ort wusste, wo genau sich die um den Gündelhof vergrabenen Minen befanden, ein Umstand, der sich tief in das Gedächtnis der Leinheimer eingrub und selbst Anfang der Sechzigerjahre noch präsent war, als man uns Kinder, wenn auch scherzhaft, vor den »Tret-Tellern« warnte. Sei man erst einmal, so wurde später bei Gruppenstunden und in Zeltlagern erzählt, auf eine Mine getreten, müsse man vollkommen ruhig bleiben, den Fuß auf keinen Fall von dem Sprengsatz zurückziehen und unbedingt den Kontakt mit dem Metall halten, da sich sonst der Zünder lösen und eine Detonation herbeiführen würde. Anstatt also dem aufkommenden Gefühl der Panik nachzugeben und fortzulaufen, sei es vernünftiger, auszuharren und um Hilfe zu rufen, damit andere das eigene Körpergewicht durch einen schweren Stein oder einen anderen Gegenstand ersetzen könnten. Mit dem Abstand von bald vierzig Jahren frage ich mich, ob in dieser Anweisung nicht ein Sinnbild für die Existenz innerhalb einer dörflichen Gemeinschaft wie der von Leinheim zu finden ist: die Unterdrückung instinktiver Regungen, das Ausharren an einem Ort und nicht zuletzt die Sorge für einen Nachfolger und Ersatz, bevor man es wagen kann, sich zu entfernen. Allerlei Erlebnisberichte, passend für jede Altersgruppe und Stellung innerhalb des sozialen Verbandes von Leinheim, malten die reale Bedrohung in grellen Farben aus und führten ein angemessenes Verhalten exemplarisch vor. Identifikationsfigur der heranwachenden Jugend war der vierzehnjährige Rolf Kamstarr, der im ungewöhnlich frostigen April 1947 eine ganze Nacht auf besagte Weise ausgeharrt hatte, um erst in den frühen Morgenstunden von einem vorbeifahrenden Bauern und mithilfe eines halben Mühlsteins aus seiner unglücklichen Lage befreit zu werden. Dabei verlor er zwar nicht sein Leben, büßte jedoch sein rechtes Bein ein, das von der einseitigen und starren Belastung abgestorben war und amputiert werden musste. Der Mythos aber braucht den Ritus, um sich aktiv im Alltagsleben verankern zu können. Doch bereits Ende der Fünfzigerjahre, als Helga und ich den Kindergarten der Sankt-Marien-Kirche besuchten, gehörte die alljährliche Mutprobe des »Minenpflügens« der Vergangenheit an. 1956 hatte das Land Baden-Württemberg diesem nicht ganz ungefährlichen Treiben ein Ende bereitet, indem Experten mit neuester Minensuchgerätschaft das Gelände um den Gündelhof weiträumig abgingen und durch mit speziellen Greifarmen ausgestattete Panzerfahrzeuge der gerade neu gegründeten Bundeswehr von seinen letzten Altlasten befreien ließen. Die Bevölkerung von Leinheim begriff instinktiv, dass der Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft von einer fragwürdigen Aufgeklärtheit der Nachkriegszeit bedroht wurde, und setzte alles daran, die dörfliche Mythenbildung weiter wuchern und das relativ frisch erworbene Brauchtum fortleben zu lassen. So zogen an jedem ersten Samstag im April die Burschen herausgeputzt und in Tracht durch die Straßen und hinaus zum Gündelhof, wo sie eine Unzahl über das Jahr angefertigter und am Vorabend dort versteckter Tretminen-Attrappen mit gezielten Stockschlägen aus dem Boden hebelten. Anfänglich beobachteten wir Kinder dieses Treiben mit ungläubigem Staunen, ahmten aber schon bald mithilfe alter Besenstiele und ausrangierter Pappdeckel von Waschmitteltrommeln das Minenschlagen bie unserem Spiel im Hof nach. Faszinierender, eben weil es uns in seiner strengen und rituellen Ausführung fremd bleiben musste, war für uns hingegen die Verhüllung des Schlupfs. Der Schlupf war die durch den Beschuss des Panzers seinerzeit im Mauerwerk des Gündelhofs entstandene Lücke, die man aus einem Aberglauben heraus viele Jahre unverschlossen hielt. Anfänglich wurde das Loch nicht vermauert, da man sich im Rathaus durch diesen Schaden gegenüber den Alliierten einen Anspruch auf Reparationskosten ausrechnete. Tatsächlich war zwei Tage nach dem Beschuss ein Colonel mit großer Gefolgschaft erschienen, um die sterblichen Überreste der beiden Jeep-Insassen zu bergen und am Waldrand, in sicherem Abstand zum Minenfeld, einen schlichten Obelisken als Gedenkstein niedersetzen zu lassen. Eine genaue Untersuchung des Vorfalls wurde angekündigt und der Bürgermeister aus diesem Grund angewiesen, nichts an dem Einschussloch zu verändern. Die amerikanische Fahne wurde gehisst, nach einigen Minuten des schweigenden Gedenkens wieder eingezogen, von zwei Soldaten zusammengefaltet und auf den Leichenwagen mit den beiden Eisensärgen gelegt. Dann verließen die Amerikaner gemessenen Schrittes, wobei der Colonel und sechs seiner Begleiter zu Fuß hinter dem Wagen hergingen, das Dorf. In den nächsten Monaten geschah trotz mehrerer Nachfragen und Eingaben der Stadt Leinheim von Seiten der Alliierten nichts. Stattdessen tauchten jedoch in der Bevölkerung alte Gerüchte wieder auf, die von einem Schatz sprachen, den die Frau des Grafen Gündel in der Nacht auf den Antlasstag noch schnell in einem unterirdischen Gang hatte in Sicherheit bringen können, bevor das rebellische Bauernvolk sie und ihren Mann in einem Fackelzug zum Hirschberg geleitete, wo man sie »wie räudige Hunde« erschlug. Durch die Lücke im Mauerwerk hatte nun jedermann zumindest die theoretische Möglichkeit, ins Innere des Gündelhofs zu gelangen, auch wenn er dazu das damals noch nicht geräumte Minenfeld hätte überqueren müssen. Und obwohl es recht unwahrscheinlich war, dass jemand dies tatsächlich versuchen würde, begann man, sich im Dorf gegenseitig zu verdächtigen. Einmal hieß es, die Eltern des Rolf Kamstarr seien für den Verlust seines Beines verantwortlich, da sie ihn losgeschickt hätten, nach dem Gündelgeld zu suchen. Dann wieder beschuldigte man den Bürgermeister, sein Sohn habe den Gündelhof nur deshalb vermint, weil er den Schatz entdeckt und allein habe bergen wollen. Derartiges Gerede brachte Unruhe in die Gemeinde. Die schweigsame Übereinkunft, unterschiedliche Positionen und Anschauungen während des Krieges, wie man die Nazizeit hier abkürzte, nicht allzu genau zu untersuchen und das Vergangene im Allgemeinen vergangen sein zu lassen, schienen gefährdet. Die angenehme Gleichheit einer neu erworbenen Demokratie, deren dörfliche Umsetzung unterschiedliche Parteien ohnehin nur nominell kannte, drohte sich in eine unbarmherzige Positionierung von gegensätzlichen Verschwörungstheorien zu verkehren. Der amerikanische Colonel sei ein Schauspieler gewesen, der Sohn des Bürgermeisters überhaupt nicht tödlich verunglückt, sondern vielmehr mit dem Gündelschatz auf und davon, und das verlorene Bein des armen Rolf Kamstarr nicht die Folge eines Missgeschicks, sondern der Blutzoll für den Versuch, das Lügengeflecht aufzudecken. Die Logik einer zeitlichen Abfolge war innerhalb dieser Beweisführungen außer Kraft gesetzt. Zuschreibungen von...


Frank Witzel, geboren 1955, lebt und arbeitet in Offenbach. Für seinen Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 bekam er den Robert Gernhardt Preis und den Deutschen Buchpreis 2015. Für das gleichnamige Hörspiel gewann er den Deutschen Hörspielpreis 2016. Zuletzt veröffentlichte Frank Witzel gemeinsam mit Philipp Felsch das Gesprächsbuch BRD Noir. Für seinen Roman Direkt danach und kurz davor ist er nominiert für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017.



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