E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Wodolaskin Luftgänger
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8412-1470-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1470-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Eine faszinierende Jahrhundertchronik Russlands.' BBC.
Ein Mann erwacht in einem Krankenzimmer und kann sich an nichts erinnern Sein Arzt verrät ihm nur seinen Namen: Innokenti Platonow. Als die Erinnerung langsam zurückkommt, formt sich das Bild eines bewegten Lebens: Eine behütete Kindheit im Russland der Zarenzeit, der Sturm der Revolution, roter Terror und der Verlust einer ersten großen Liebe. Bald treibt ihn vor allem eine Frage um: Wie kann er sich an den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erinnern, wenn die Tabletten auf seinem Nachttisch aus dem Jahr 1999 stammen?
Jewgeni Wodolaskin, geboren 1964 in Kiew, arbeitet nach einem Philologiestudium und der Promotion seit 1990 in der Abteilung für Altrussische Literatur im Puschkinhaus (Institut für russische Literatur) in St. Petersburg. Sein Roman 'Laurus', ein internationaler Bestseller, wurde bisher in 29 Sprachen übersetzt. 'Luftgänger' wurde bisher in 14 Sprachen übersetzt und stand 2016 auf Platz 2 des renommiertesten russischen Buchpreises 'Bolschaja kniga' (Großes Buch). Jewgeni Wodolaskin lebt mit seiner Familie in St. Petersburg. Ganna-Maria Braungardt, geboren 1956, studierte russische Sprache und Literatur in Woronesh (Russland), Lektorin, seit 1991 freiberufliche Übersetzerin. Sie übertrug u.a. Swetlana Alexijewitsch, Polina Daschkowa, Ljudmila Ulitzkaja und Boris Akunin ins Deutsche.
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Montag
Im Winter standen wir immer um sechs auf, hell wurde es erst gegen Mittag. Den Morgen empfand ich als den schlimmsten Teil des Tages. Mochte ich abends auch kaputt sein vor Schmerzen, Müdigkeit und Kälte, so gab es abends immerhin die Hoffnung auf die nächtliche Erholung. Morgens dagegen öffnete ich die Augen mit dem Gedanken, dass nun alles von vorn losging. Oft war ich unfähig aufzuwachen. Ich öffnete die Augen, stand auf (für die geringste Verzögerung setzte es Stockschläge), wurde aber nicht wach. Während wir zur Arbeit geführt wurden, schlief ich in der Kolonne; man kann auch im Gehen schlafen. Wir wuschen uns nicht, dafür war keine Zeit, manchmal rieben wir uns bei der Arbeit das Gesicht mit Schnee oder nassem Moos ab. Wir aßen nur unser Stück Brot und tranken Wasser dazu. In die Arbeitskompanie wurde heißes Wasser gebracht, doch bis es ausgeschenkt wurde, war es fast kalt. Aber das war auch egal, wir hatten sowieso nichts zum Hineintun. Und nichts zum Hinunterspülen. Ich träumte nur von zwei Dingen auf der Welt: mich satt essen und ausschlafen.
Dienstag
Professor Woronin holten sie am Abend. Mürrisch, konzentriert, wie es sich gehört für Leute, die eine große Macht repräsentieren. Die nicht aus eigenem Antrieb handeln. Bei der Durchsuchung des Zimmers ließen sie sich Zeit. Mit ungeübten Fingern blätterten sie Buch für Buch durch. Als ihnen das zu mühsam wurde, fassten sie die Bücher am Einband und schüttelten sie kräftig. Lesezeichen und Postkarten fielen heraus, einmal schwebte kreisend ein vorrevolutionärer Zehnrubelschein zu Boden. Genauso gründlich durchsuchten sie die Wäsche. Ich stand im Flur und sah, wie ihre Finger die Laken betasteten, auf denen Anastassija schlief.
Anastassija. Als die GPU-Leute ihre Papiere vorzeigten, sank sie in einen Sessel. Der Professor verlangte noch Erklärungen, doch sie saß bereits reglos und wortlos da. So blass hatte ich sie noch nie gesehen. Auch Woronin erschrak, als er sie anschaute. Er hockte sich vor den Sessel, fasste nach ihrem Kinn und sagte, es werde alles in Ordnung kommen. Die Männer führten ihn in eine andere Ecke des Zimmers. Einer brachte Anastassija ein Glas Wasser – ein kurzes Aufblitzen von Menschlichkeit.
Sarezki verhehlte nicht, dass das Ganze auf seine Denunziation zurückging. Damit bei der Durchsuchung auch ja nichts ausgelassen wurde, zeigte er den GPU-Leuten sogar Woronins Schrank in der Küche. Sie fanden einen Durchschlag, eine Reibe und mehrere leere Konservengläser. Wonach sie suchten, wusste niemand, wahrscheinlich nicht einmal die Suchenden selbst.
»Jetzt sind Sie für sie verantwortlich«, flüsterte mir Woronin im Flur zu.
Wir umarmten uns. Dann umarmte er seine Tochter. Der Mann, der Anastassija Wasser gebracht hatte, löste ihre Hände vom Hals des Vaters. Beides gehörte wahrscheinlich zu seinen gewohnten Tätigkeiten. Vor ihrem Vater weinte Anastassija nicht, aus Angst, er würde das nicht ertragen. Sie weinte erst, als er weg war. Beim Sprechen brachen die Worte mit Schluchzen aus ihr hervor, stockend, wie Wellen von Erbrechen. Sie litt, weil er am Abend fortgegangen war, nicht am Tag oder in der Nacht, wenn die Ordnung der Dinge fest scheint, sondern in der unsicheren Übergangsstunde.
Ich ging zu Sarezkis Zimmer und rüttelte an der Tür. Sie war von innen zugehakt. Ich riss mit beiden Händen daran, und der Haken sprang heraus. Sarezki saß da, die Hände auf dem Tisch. Der Tisch war leer, nicht einmal Wurst lag darauf.
»Ich bring dich um, du Laus«, sagte ich leise.
»Wenn Sie einen Proletarier umbringen, kommen Sie vor Gericht«, erwiderte Sarezki ebenso leise.
In seinen Worten lag keine Herausforderung, eher Traurigkeit. Er saß reglos da, nur ein Kaumuskel zuckte. Eine Amphibie. Ein trauriges Reptil. Ich trat dicht vor ihn.
»Ich töte dich so, dass es niemand erfährt.«
Diese Nacht verbrachte ich im Zimmer der Woronins. Anastassija saß im Sessel, ich neben ihr auf dem Boden. Gegen Morgen schlief sie ein, und ich trug sie in ihr Bett.
Als ich sie hinlegte, öffnete sie die Augen und sagte: »Töten Sie ihn nicht. Hören Sie, töten Sie ihn nicht.«
Ich schwieg, denn ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte – schön, ich tu’s nicht? Ich werd mich bemühen, ihn nicht zu töten? Ich dachte: Wie wird es jetzt weitergehen nach der Verhaftung ihres Vaters? Ich blickte zu Anastassija – sie schlief wieder.
Ich schlafe jetzt auch ein. Einmal ist mir schon der Stift aus der Hand gefallen und hat mich geweckt. Morgen fahre ich fort.
Mittwoch
Ich fahre fort. Nach der Verhaftung des Professors ging das Leben seltsamerweise fast genauso weiter wie zuvor. Täglich begegneten wir – ich, meine Mutter und Anastassija – Sarezki, in der Küche, im Flur, vor der Toilette. Erstaunlicherweise grüßten wir ihn. Als Erste meine Mutter (sie fürchtete, Sarezki werde weiter denunzieren, und hoffte, sich damit sein Schweigen zu erkaufen), dann ich und schließlich auch Anastassija. Mutter grüßte ihn verbal, wir beide nickten ihm nur zu. Wir machten uns keine Gedanken wegen möglicher weiterer Denunziationen, aber wenn man mit einem Menschen unter einem Dach lebt, ist es schwer, so zu tun, als wäre er nicht da. Es ist schwer, in ständigem Hass zu leben, selbst wenn er berechtigt ist.
Manchmal lagen Anastassija und ich beieinander, gestatteten uns aber nach wie vor keinerlei Zärtlichkeiten. Wir glaubten, kein Recht auf derlei zu haben, solange ihr Vater im Gefängnis saß, und dass es allein unsere Schuld wäre, sollte ihm etwas zustoßen. Das ist schwer zu erklären, aber wir knüpften seine Freilassung an unsere Keuschheit. Als Anastassija am Ende des Winters sechzehn wurde, änderte sich deshalb nichts an unserer Beziehung. Wir hätten nun heiraten können, doch unter den gegebenen Umständen war das für uns ebenso unmöglich wie zuvor.
Als Sarezki wieder einmal betrunken durch den Flur ging, sagte er zu mir: »Ich weiß ja selber nich, warum ich den Professor angezeigt hab. Muss wohl einen Grund gehabt haben, also bin ich hin und hab ihn angezeigt.« Er machte einige Schritte in Richtung Toilette und drehte sich noch einmal um. »Aber Sie werd ich nich anzeigen, da könn Sie ruhig sein.«
Später dachte ich oft darüber nach, warum er Woronin eigentlich denunziert hatte. Weil er gekränkt war? Aber wir haben Sarezki nie gekränkt, wir haben ihn einfach nicht beachtet. Tja … Vielleicht hatte ihn das am meisten gekränkt?
Von Zeit zu Zeit gingen Anastassija und ich ins GPU-Gebäude in der Gorochowaja-Straße in der Hoffnung auf eine Besuchserlaubnis, doch wir bekamen keine. Auch Päckchen für den Professor wurden nicht angenommen. Wie sehr Anastassija auch versuchte, mit den dortigen Opritschniks zu verhandeln – sie lächelte, schlug scharfe Töne an, schmeichelte –, nichts half. Ihre stumpfen Visagen blieben undurchdringlich. Ich betrachtete sie und stellte mir vor, wie ich sie bei den Haaren packe und mit Wucht gegen die Wand schlage. Aus Leibeskräften, mit Genuss, und ihr schmutzigbraunes Blut spritzt auf die Amtsstühle, auf den Fußboden und an die Decke. Diese Vorstellung beschäftigte mich jedes Mal, wenn wir dort waren. Ich denke, sie wussten das, müssen es gewusst haben. Zum letzten Mal gingen wir am 26.März hin, und diese Leute sagten uns, Professor Woronin sei erschossen worden.
Freitag
Heute kam anstelle von Schwester Valentina Schwester Anshela. Sie ist jung, aber ohne den Reiz von Valentina. Ihr Äußeres ist recht vulgär, ganz zu schweigen von ihrem Namen. Geiger hat gesagt, Valentina gehe es nicht gut, und sein Ton gefiel mir gar nicht. Ich weiß nicht, warum.
Den ganzen Tag habe ich versucht, auf dem Computer zu tippen. Ich fühlte mich wie ein Druckerpionier.
Sonnabend
Vor einigen Tagen gab mir Geiger das Buch eines Amerikaners über das Einfrieren von Toten zwecks späterer Auferstehung. Etwas Ähnliches hat er mir schon mal mitgebracht. Unterhaltsame Lektüre, besonders im Krankenhaus. Der Autor zählt die Fragen auf, mit denen die Wegbereiter des Einfrierens zu tun haben werden; sie sind kompliziert. Werden Witwen und Witwer nach dem Einfrieren des Verstorbenen erneut heiraten dürfen? Wie soll sich der Aufgetaute und Wiederbelebte dem neuen Gatten seiner einstigen Ehefrau gegenüber verhalten? Gibt es ein sanktioniertes Recht, einen Angehörigen oder (ergänze ich) einen Zimmernachbarn einzufrieren? Kann jemand, der offiziell für tot erklärt und eingefroren wurde, juristische Rechte und Pflichten haben? Darf er nach dem Auftauen wählen? Die letzte Frage fand ich wirklich rührend.
Im Übrigen, so der Amerikaner, sei die Hauptschwierigkeit nicht das Wahlrecht, sondern das Einfrieren und Wiederauftauen. Beim Abkühlen sondert der Zellsaft eine Flüssigkeit ab, die zu Eiskristallen wird. Bekanntlich dehnt sich Wasser beim Gefrieren aus und kann so die Zelle beschädigen. Mehr noch, das, was nicht zu Eis gefriert, wird zu einer hochkonzentrierten Salzlösung, die zerstörerisch auf die Zelle wirkt. Doch bei sehr schnellem Einfrieren, und das gibt Anlass zu Optimismus, sind die Eiskristalle kleiner und die Salzkonzentration ist geringer.
Zur Verhinderung von Schäden wird beim Einfrieren Glyzerin eingesetzt, das die Salzlösung neutralisiert. Wichtigste Aufgabe beim Auftauen ist es deshalb, das Glyzerin aus dem Organismus zu entfernen. Wird sie nicht gelöst, ist alles Übrige sinnlos, denn mit Glyzerin statt Blut im Körper...