E-Book, Deutsch, 204 Seiten
Woelk Freigang
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-423-40163-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 204 Seiten
ISBN: 978-3-423-40163-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; »Aspekte«-Literaturpreis für das Debüt >Freigang< (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman >Die letzte Vorstellung< wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (>Mord am Meer<). Ulrich Woelk lebt in Berlin.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Ich habe meinen Vater umgebracht.
Die Idee kam im Suff. (Ich schwöre es.)
Schreiben als Funktion des Gedächtnisses: Ich schreibe,
um Nina noch einmal zu erleben.
Seit meiner Einlieferung werde ich nicht müde zu gestehen. Ich gestehe den Ärzten, insbesondere Doktor Früger, den Pflegerinnen und Pflegern, insbesondere Schwester Leonie.
Seit der Nacht: Neonlicht, die Glastür, die Friedenstaube, die Treppen, Nina in der Dunkelheit.
Seit der Nacht gestehe ich, hartnäckig, verlange ein ordentliches Verfahren.
Was schreckt die Gerichte ab, sich für meinen Fall zu interessieren? Warum überlassen sie mich bereitwillig Doktor Früger?
Allein die Umstände meines Geständnisses: Nina, die vor mir zurückweicht, unbekleidet; allein die Umstände müßten für eine Strafverfolgung ausreichen.
Mein Geständnis: Alle zeigen sich interessiert, doch die Art, mit der sie darüber hinweggehen, befremdet mich, macht mich von Zeit zu Zeit mutlos.
Früger mit seinem weißen Kittel. Die Hornbrille, mit der er nicht spielt, während er redet: er nimmt sie nicht ab, zeigt nicht mit ihr auf imaginäre Punkte, betrachtet sie nicht nachdenklich oder putzt sie gar, um einer belanglosen Rede Bedeutung zu verleihen. Hat er mich begrüßt, versenkt er die Hände meist in den Taschen des weißen Kittels, nimmt sie nur heraus, sich gelegentlich zu kratzen.
Was erwartet man von mir? Was kann man mehr von mir verlangen, als daß ich geständig bin?
Nina trifft keine Schuld.
Einmal zu Früger: Die Justiz ist hochmütig geworden. Sie fühlt sich durch ein Geständnis beleidigt, empfindet es als Zweifel an ihrer Fähigkeit, einen Fall auch ohne die bereitwillige Mithilfe des Angeklagten zu klären. Nur in einem Indizienprozeß können Staatsanwalt und Verteidiger glänzen. Und die Richter? Sie fühlen sich durch ein Geständnis zur Nutzlosigkeit verdammt: ein Richter, der nichts zu richten hat.
Das Geständnis macht den Angeklagten zum Herrn des Prozesses, was ihm nicht verziehen wird; er wird ignoriert und dem überlassen, der ihn haben will, zum Beispiel Ihnen, Früger. Einen Leugnenden würde man Ihnen niemals so widerstandslos aushändigen. Sie sind der Müllschlucker der Justiz.
Ich erwarte keine große Verhandlung; ein, zwei Tage genügen. Ich bin bereit, die Urteilsbegründung selber zu verfassen.
Es kommt vor, da bilde ich mir ein, Früger habe nicht nur ein medizinisches, sondern ein menschliches Interesse an mir, aber es trifft wohl zu, daß diese Unterscheidung für ihn keine ist. Menschsein ist für ihn etwas Pathologisches an sich, der kranke Mensch eine Tautologie. Menschen handeln, um etwas zu erreichen, Handlung und Motiv sind im Wesen dasselbe. So Früger einmal.
Morgens fragt er mich regelmäßig, ob ich Zeitung gelesen hätte. Ich antworte immer gleich: Warum sollte ich?
Bereits seit längerem verlange ich meine Abenteuergeschichten. Früger mag es lächerlich vorkommen, daß ich an zu Kinderzeiten Geschriebenem hänge. Die Ursachen haben ihn nichts anzugehen: ich bin nicht wegen meiner Marotten hier, sondern wegen meines Mordes. Im übrigen kann ich ihm die Geschichten durchaus empfehlen: Ich erdachte Welten aus Ruinen und geheimen Gängen, in denen es mir besser gefiel als in der Wirklichkeit. Das müßte doch etwas für ihn sein: Bereits in der Kindheit angelegter Kampf zwischen Realität und eigener Scheinwelt, möglicherweise Untrennbarkeit beider, dadurch Realitätsverlust.
Früger einmal: Warum lesen Sie keine Zeitung? Es passiert viel in der Welt, Katastrophen, wobei ich nicht an die großen Unglücke denke, Flugzeugabstürze, Hotelbrände, wer sind die Opfer? Tote ohne Vergangenheit; gestorben wird überall.
Vergessen Sie die erste Seite der Zeitungen und blättern Sie weiter. Auch heute, Seite acht oder neun, hinter Blick-in-die-Welt und um Längen geschlagen vom Sport, eingepfercht in Lokales und auch dort erdrückt von einem übermächtigen Schützenfest, dort habe sich eine wahre Katastrophe ereignet: Ein Mann, extrem kurzsichtig, praktisch blind ohne Brille, habe im Gebirge gerade diese Brille verloren, möglicherweise durch eine ungeschickte Bewegung, was nicht mehr rekonstruierbar. Chancenlos habe er dem Rückweg durch das unwegsame, steile Gelände gegenübergestanden, drei Tage auf Hilfe gewartet, aber niemand habe ihn vermißt. Dann sei er ohne Brille los. Man fand ihn am Grund eines Felsabhanges, tot selbstverständlich.
Früger ist eine typische Zeiterscheinung: Ihn interessieren nur Dinge, die den Keim einer Katastrophe in sich tragen. Daß er mit der Art der Unglücke wählerisch ist, ändert nichts daran.
Ich habe ihn jetzt ultimativ aufgefordert, meine Geschichten zu besorgen.
Frügers Rhetorik: Er flickt immer wieder bestimmte Worte wie Leitmotive in seine Rede. Das psychologische Netzwerk, nach dem das geschieht, habe ich noch nicht auflösen können. So vergeht kein Gespräch, in dem er nicht das Gutachten erwähnt. In der von ihm aufgestellten Begründungshierarchie meines Hierseins nimmt das Gutachten einen der obersten Plätze ein, soviel ist klar. Dennoch ringt er ihm die unterschiedlichsten Aspekte ab. Mal ist es Aufmunterung; es sei bald fertig. Das klingt wie: bald ist alles vorbei, bald haben wir es hinter uns. Wenn ich will, kann ich hoffen, daß es demnächst zum Prozeß kommt, aber das muß nicht so sein. Es liegt bei mir.
Manchmal macht das Gutachten Schwierigkeiten. Die Schuld dafür kann ich bei mir suchen; ich muß mich mehr anstrengen, als gelte es, eine Prüfung zu bestehen, ein Examen zu einem unbekannten Fachgebiet. Möglicherweise liegen die Schwierigkeiten aber auch bei ihm, er kommt nicht weiter, er appelliert an meine Kooperationsbereitschaft.
Manchmal jedoch verweist er lediglich auf die Existenz des Gutachtens, ohne Erläuterung. Er steht lange schweigend und murmelt dann wie laut gedacht: Das Gutachten…, und versinkt erneut in tiefes Schweigen. Hier erscheint das Gutachten als das Bewegende überhaupt; das Ding-An-Sich meines, seines, unseres gemeinsamen Seins.
Es kommt vor, da halte ich es nicht aus. Ich stehe auf und brülle ihn an, daß ich gestanden habe.
– Wann bekomme ich endlich meine Geschichten. Ihre Geringschätzung rechtfertigt nicht Ihre Nachlässigkeit in dieser Hinsicht.
Er habe in der Sache telefoniert.
Die Unsicherheit, ob ich ihm glauben soll: Er ist Arzt; von Ärzten erfährt man die Wahrheit grundsätzlich nur auf Raten.
– Um was für Geschichten handelt es sich eigentlich? Ich wußte nicht, daß Sie schreiben.
– Schreiben, sagte ich, ist auf Dauer keine sinnvolle Beschäftigung für einen Physiker, weil sich die Präzision der Sprache nicht beliebig steigern läßt. Einfache Vorgänge können Sie noch mit einem vertretbaren Aufwand an Sprache hinreichend exakt beschreiben, aber wenn die mitzuteilenden Sachverhalte einen gewissen Komplexitätsgrad überschreiten, stehen Aufwand und Effekt in keinem Verhältnis mehr. Das heißt, Literatur ist etwas für Leute, die Zeit zuviel haben.
Manchmal hat er Lust auf Diskussion.
Wenn schon Kunst, dann Literatur. Er sehe einen großen Vorteil darin, daß sich die Dichter des Wortes bedienten, was sie kritisierbar, widerlegbar mache, was man von anderen Künsten nicht gerade sagen könne, er jedenfalls sehe keine Möglichkeit, eine Statue oder eine Sinfonie zu widerlegen. Sicher, auch Sprache könne kryptisch sein, und wer entscheidet, was gut ist, und warum ist jemand gut? Hierarchie der Befähigung, ein als naturgesetzlich hingenommenes Begabungsgefälle, Abdruck des politischen Machtgefüges; wer den Kaiser hat, braucht auch den Dichterfürsten. Aber welcher Künstler zaubert aus der hohlen Hand? Künstlerverehrung ist, als lobe man die Schöpfkelle anstatt der Suppe.
– Gut? Schlecht? entgegnete ich. Es gibt Unterscheidungen, die für einen Physiker keine sind, weil die Differenz zwischen beiden Zuständen keiner objektiven Messung zugänglich ist. Das Fehlen des Meßwertes ist gleichbedeutend mit dem Fehlen der Sache.
Er sah mich an: Und trotzdem schreiben Sie?
Früger stand am Fenster, vergrub seine Hände tief in den Taschen, dadurch entstanden zwei Ausbeulungen, groß wie Tennisbälle.
– Wir brauchen genauere...