Woelk | Pfingstopfer | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: dtv- premium

Woelk Pfingstopfer

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-423-42442-4
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: dtv- premium

ISBN: 978-3-423-42442-4
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit welcher Wahrheit können wir leben? Über die Freiheit des Willens und religiösen Fundamentalismus Ein bizarrer Mord: Im Garten eines freikirchlichen Gemeindehauses wird die Leiche einer Prostituierten gefunden. In ihrem Schädel findet sich ein Zettel mit einer religiösen Botschaft: »Die Wahrheit wird euch frei machen.« Als der Kriminalbeamte Anton Glauberg vom Tatort nach Hause kommt, sitzt überraschendseine ehemalige Kollegin Paula Reinhardt vor der Tür. Reinhardt war vor Jahren selbst wegen Mordes verurteilt worden - jetzt ist sie auf Bewährung wieder frei. Glauberg nimmt Paula mit auf seine Ermittlungen, die ihn bald zu einem Forscher am Max-Planck-Institut für Neurobiologie führen.Dieser hatte aus wissenschaftlicher Perspektive Gott für tot erklärt - und damit die Vertreter der Freikirche gegen sich aufgebracht. 

 Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; »Aspekte«-Literaturpreis für das Debüt >Freigang< (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman >Die letzte Vorstellung< wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (>Mord am Meer<). Ulrich Woelk lebt in Berlin.
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2


Es war noch kühl in der Küche, die Heizung hatte gerade erst begonnen zu arbeiten. Luxuriös war das achtzig oder neunzig Jahre alte Haus nicht gerade. Der Boden bestand aus grau gewordenen Holzdielen, und die Fenster waren für heutige Verhältnisse zu klein. Glauberg schaltete das Licht ein. Er füllte die Kaffeemaschine und sah hinaus in den trüben verregneten Morgen. Der Deich hinter der Straße verlor sich in der kargen nordfriesischen Landschaft. Das Haus war von Wiesen umgeben, die ein paar Mal im Jahr Besuch von Schafherden bekamen. Ansonsten war in der Gegend, abgesehen von einem jährlichen Deichlauf und dem beständigen Sprießen neuer Windräder, nicht viel los.

Eine Katze strich um Glaubergs Beine. Er kraulte sie und sagte: »Na, Jeannie.« Den Schwanz aufgerichtet wie eine Antenne, rieb sie ihren Kopf an seiner Hose. Dann zog sie weiter und setzte sich mit erwartungsvoll angehobenem Blick vor den Kühlschrank. Glauberg füllte Futter in ihren Napf und sah dabei zu, wie sie sich niederließ, um das Futter zunächst skeptisch zu beschnuppern, bevor sie zu fressen begann.

Sah man von Jeannie ab, wohnte Glauberg allein in dem alten Bauernhaus. Es wäre für eine Familie auch zu klein gewesen. Glauberg hatte Familie: eine Frau, Sylvia, und einen Sohn, Felix. Aber er lebte mit beiden nicht zusammen. Er hatte sich vor zehn Jahren von Sylvia getrennt, allerdings hatten sie sich nie scheiden lassen. Vor dem Gesetz waren sie immer noch Mann und Frau.

Ihre Ehe und Nicht-Ehe war nicht gerade eine Erfolgsgeschichte. Sylvia war nach der Trennung zunehmend depressiv geworden. Wahrscheinlich war sie es auch vorher schon gewesen. Aber nachdem Glauberg aus ihrem ehemals gemeinsamen Haus ausgezogen war, kam es immer häufiger vor, dass sie mittags noch im Morgenmantel war und müde und ungepflegt und gleichgültig aussah, wenn sie die Tür öffnete. Irgendwann ließ sie Glauberg nicht mehr hinein, wenn er Felix abholen wollte, sondern schickte den Jungen mit seinen Sachen wortlos auf die Straße.

Glauberg sprach Felix darauf an, bekam aber immer nur ausweichende Antworten. Erst als das Kind einmal mit einer nur notdürftig verbundenen Hand an der Straße stand und Glauberg wissen wollte, was geschehen war, konnte der Junge die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er hatte sich bei dem Versuch, eine Raviolidose zu öffnen, am Dosendeckel geschnitten.

Gefragt, warum er das Öffnen der Dose nicht seiner Mutter überlassen habe, antwortete er, dass sie das nicht mache, dass sie gar nichts mehr mache, überhaupt nichts, und er habe doch Hunger gehabt! Glauberg öffnete den Verband. Die Wunde war noch frisch und lief quer über die Innenhand. Er fuhr mit Felix ins Krankenhaus, der Schnitt konnte noch genäht werden.

Bei Sylvia wurde ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom ohne organisch bestimmbare Ursache diagnostiziert. Natürlich, so hieß es, könne Stress, auch seelischer Stress, dabei eine Rolle spielen, wie Stress ganz allgemein ein Nährboden für depressive Erkrankungen sei. Aber meistens gebe es noch andere auslösende Faktoren, die in dem Zusammenhang berücksichtigt werden müssten – genetische, hormonelle oder umweltbedingte.

Sylvia war bereit, sich therapieren zu lassen, und konnte nach ein paar Wochen in einer psychiatrischen Einrichtung in ihr Leben als Mutter und Buchhändlerin zurückkehren. Seither war sie phasenweise – manchmal über Monate oder fast ein Jahr – psychisch relativ stabil. Doch dann brach die Krankheit wieder durch und lähmte sie, wobei die depressiven Schübe mal stärker, mal schwächer waren.

Natürlich fragte Glauberg sich nach ihrer Trennung häufig, ob die Ursachen für Sylvias Probleme nicht auch in ihrer glücklosen Ehe lagen. Doch andererseits gab es viele Ehen, die scheiterten, ohne dass es bei einem der Partner gleich zur Ausbildung einer behandlungsbedürftigen Depression kam. Sollte er sich also schuldig fühlen? Er wusste es nicht, aber die Frage war ihm nicht gleichgültig. Er konnte nicht viel tun, außer sich damit abzufinden, wie es war. Deswegen betrieb er auch die Scheidung nicht. Doch als vor drei Wochen, an einem gewöhnlichen Mittwochnachmittag sein Telefon klingelte und sich Brunner meldete, Sylvias behandelnder Psychiater, ahnte Glauberg, dass der Anruf nichts Gutes bedeutete. Und so war es. Brunner teilte ihm mit, dass Sylvia einen Suizidversuch unternommen hatte.

Ein rhythmisches Geräusch, eine Art Schnaufen oder Pumpen, riss Glauberg aus seinen Gedanken. Jeannie saß zusammengekauert und mit vorgestrecktem Kopf neben der Küchentür und würgte. Dann öffnete sie ihr Maul und entließ daraus einen sehr unansehnlichen Brei. Glauberg stand auf und spulte ein paar Blätter Küchenpapier von der Rolle. Jeannie gab einen kläglichen Laut von sich und drückte sich in eine Ecke unter dem Tisch. Von dort aus sah sie Glauberg dabei zu, wie er das Erbrochene aufwischte und die Küchentücher in den Müll warf. Danach ging er zum Telefon und wählte die Nummer von Kroll, dem Tierarzt. Nach dem fünften oder sechsten Klingeln wurde abgehoben. Glauberg entschuldigte sich für den Anruf am Sonntagmorgen und sagte: »Seit vorgestern übergibt sich Jeannie nach jeder Mahlzeit. Ich hätte dich damit gerne in Ruhe gelassen, aber jetzt bin ich doch beunruhigt.«

»Schon gut«, sagte Kroll. »Schaffst du’s bis zehn?«

»Ja«, sagte Glauberg. »Ich fahre gleich los.«

Mit etwas Geduld gelang es ihm, Jeannie aus der Ecke zu locken, in die sie sich verkrochen hatte. Er schob sie in den Transportkorb. Draußen regnete es. Er beugte sich schützend über den Korb und eilte zum Wagen. Er hatte etwa fünfzehn Kilometer zu fahren, eine übliche Entfernung für die dünn besiedelte Gegend hier. Es gab weitere Wege. Während der Fahrt ließ der Regen nach. Als Glauberg das Haus Krolls erreichte, brach die Sonne durch die Wolken. Das Haus war Teil einer losen Reihe von ähnlichen Backsteingebäuden. Der Tierarzt wohnte darin, und es war zugleich seine Praxis. Die Säulen der Pappeln am Straßenrand flammten in Sonnenlicht auf.

Glauberg ging mit dem Tierkäfig durch das Gartentor. Kroll erschien in der Haustür. Im Gegensatz zu Glauberg hatte Kroll noch volle Haare, die, gescheitelt nach links, seinen Kopf glatt und gleichmäßig bedeckten. Seine Figur, einstmals schlank, war in den mehr als zwanzig Jahren, die sie sich jetzt kannten, korpulent geworden. Sie gaben sich die Hand.

Kroll trug einen Anzug und war ausgehfertig. »Viel Zeit habe ich nicht«, sagte er. »Eine Viertelstunde.«

»Es tut mir wirklich leid«, entschuldigte sich Glauberg. »Aber das geht jetzt schon zwei Tage so. Sie frisst, und dann, ein paar Minuten später, übergibt sie sich.«

Von einem breiten Flur zweigte rechts der Warteraum ab, der jetzt leer war. Im Behandlungszimmer stellte Glauberg den Käfig auf den Tisch und öffnete das Klappgitter. Jeannie kauerte sich zusammen. So wenig sie in den Käfig hineingewollt hatte, so wenig wollte sie jetzt heraus.

»Ein Infekt, nehme ich an«, sagte Kroll. Er streckte seinen Arm in den Käfig, um die Katze herauszuziehen. »Wahrscheinlich ist sie zur Zeit viel draußen, oder?«

»Ich weiß nicht. Ich bin wenig zu Hause. Du weißt ja, dass die Dinge im Moment ein wenig …«, er suchte nach dem angemessenen Wort, »… schwierig sind.«

Kroll nickte. »Wie geht es Sylvia denn?« Er kannte Sylvia länger als Glauberg, die beiden verband eine Sandkastenfreundschaft. Als Glauberg und Sylvia geheiratet hatten, war Kroll Trauzeuge gewesen. Viel genutzt hatte das nicht, wofür man aber wohl kaum Kroll verantwortlich machen konnte, auch wenn er nie Glück mit den Frauen gehabt und selbst nie geheiratet hatte. Er packte Jeannie am Genick und zog sie aus dem Käfig. Sie leistete kaum Widerstand. Jedem anderen hätte sie die Hand ruiniert, aber bei dem Tierarzt kuschte sie.

»Den Umständen entsprechend«, sagte Glauberg. »Wenn wir miteinander reden, ist es mal so mal so. Vielleicht besuchst du Sylvia mal. Sie würde sich sicher freuen.«

»Wenn du meinst. Ich mach das gern.« Kroll presste Jeannie auf den Tisch und führte ihr ein Fieberthermometer ein. Die Katze fügte sich in ihr Schicksal und leistete keinen Widerstand mehr.

Glauberg sah aus dem Fenster. Die Sonne hatte sich durchgesetzt und ließ die Landschaft dampfen. »Wir haben alles versucht. Wir haben zusammengelebt, uns getrennt, sind noch mal zusammengezogen, haben uns wieder getrennt … Es geht einfach nicht.«

Kroll kniff die Augen zusammen und betrachtete die Anzeige des Fieberthermometers. »Achtunddreißig-fünf – viel für eine Katze. Ich spritze ihr ein Antibiotikum, dann müsste sie schnell wieder auf die Beine kommen.«

»Aber ich habe Sylvia bis heute nicht das Gefühl gegeben, dass sie mir gleichgültig ist«, sagte Glauberg. »Den Vorwurf brauche ich mir nicht zu machen.«

Kroll ließ Jeannie los und ging zu einem weißen Wandschrank mit vielen Schubladen. Anstatt ihre plötzliche Freiheit zu nutzen und vom Tisch zu springen, kauerte die Katze weiter mit eingezogenem Kopf vor dem Käfig. Sie verfolgte Krolls Handlungen, als habe sie sich ihm unterworfen wie einem allmächtigen Gott. Kroll nahm die Spritze mit dem Medikament aus der Verpackung und sagte: »Was ist mit Felix? Kommt er zurecht?«

»Er verhungert nicht, und er geht zur Schule – da habe ich mich erkundigt. Soweit ist alles in Ordnung. Ich kann ihn mit siebzehn nicht zwingen, bei mir zu wohnen. Das würde auch nichts bringen. Er hängt vorm Computer und spielt oder chattet, was weiß ich – das tun sie ja alle … Ich schaue ab und an bei ihm vorbei und frage ihn, ob er klarkommt. Aber ich glaube,...


Woelk, Ulrich
Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; 'Aspekte'-Literaturpreis für das Debüt ›Freigang‹ (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman ›Die letzte Vorstellung‹ wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (›Mord am Meer‹). Ulrich Woelk lebt in Berlin.

Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; 'Aspekte'-Literaturpreis für das Debüt ›Freigang‹ (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman ›Die letzte Vorstellung‹ wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (›Mord am Meer‹). Ulrich Woelk lebt in Berlin.



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