Woelk | Rückspiel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Woelk Rückspiel

Roman
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-423-40396-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-423-40396-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein virtuoser Roman über das Lebensgefühl der Generation, die auf die Studentenbewegung folgte Ein virtuoser Roman über das Lebensgefühl der Generation, die auf die Studentenbewegung folgte Die Hochzeit endet mit einen Eklat: Auf seine »Jugendsünden« während der Studentenproteste Ende der sechziger Jahre angesprochen, beschimpft der Bräutigam seinen ehemaligen Lehrer als alten Nazi, der einen Schüler in den Tod getrieben habe. Ein politischer Generationskonflikt bricht auf, der wie Stirner, der jüngere Bruder des Bräutigams, weiß, - auch private Ursachen hat. Scheinbar unbeteiligt und nur aus Neugier, spürt Stirner den Gründen des Streits nach, der sowohl in der Zeit des Nationalsozialismus als auch in jenem legendären Jahr 1968 wurzelt. Seine Recherchen führen ihn nach Berlin, doch was er in den Wirren der deutschen Vereinigung aufdeckt, erweist sich als ein Liebesdrama, das auch ihn selbst betrifft.

 Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; »Aspekte«-Literaturpreis für das Debüt >Freigang< (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman >Die letzte Vorstellung< wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (>Mord am Meer<). Ulrich Woelk lebt in Berlin.
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Ich habe Schluß gemacht gestern, schlicht Erschöpfung, was bedeutet, daß die Ereignisse wieder neun Stunden älter geworden sind, also unaufhaltsam Richtung vollendete Vergangenheit driften und dabei eine Deformation nach der anderen erfahren. Ich mache mir nichts vor, in jeder Sekunde verändert sich die Vergangenheit, unermüdliche Arbeit des Gehirns am Geschehenen, Verwandlung von Ereignissen in Erinnerungen, ich muß mich beeilen, wenn ich nicht hinterher feststellen will, daß alles bereits sauber sortiert ist, als Geschichte sortiert, weil nur Geschichten in mein Gehirn passen. Ich muß mich betäuben, das Denken durch Schreiben vollständig binden, vielleicht sollte ich mir auch die Erschöpfung nicht mehr erlauben, sollte regelmäßig lüften. Es ist kühl, ansonsten bekommt man nicht mit, was für ein Wetter eigentlich ist. Ich sehe auf einen Baumstamm, um dessen Fuß ein Strauß Triebe hervorgeschossen ist und dessen Wurzeln den Hofasphalt aufgebrochen haben. Die Krone sehe ich nicht, wenn ich hier sitze und schreibe, ich müßte aufstehen, aber jede Pause bedeutet Gefahr, ins Nachdenken zu kommen über alles, dem Gehirn also eine Chance zu geben, das Ganze in die ihm eigene Logik zu gießen.

Im Grunde, scheint mir, hat mein Bruder genau das mit seiner Vergangenheit getan, sie in ein System integriert, das nahtlos zu seinem jetzigen Leben paßt, einen Bruch hat es für ihn nicht gegeben.

Als ich ihn zwei Wochen vor der Hochzeit angerufen habe und eine halbe Stunde später bei ihm war, haben wir über die Vergangenheit geredet. Karin hing im Wohnzimmer über einer Bleistiftskizze und berechnete die Sitzordnung für die Festtafel. Entweder, sagte sie, gute Freunde sitzen sich direkt gegenüber oder sie sind deutlich getrennt, sonst wird kreuz und quer geredet. Das war so ihre Grundgleichung, ziemlich willkürlich, wie ich fand, aber immerhin eindeutig genug, um das Problem zu einer netten Logelei zu machen, auf die mein Bruder keine Lust hatte.

Wir gingen in den Garten und setzten uns unter die Weide, die ihre hängenden Äste nach uns ausstreckte, und er legte mit seinen Erinnerungen los, was damals so alles an der Tagesordnung gewesen sein soll und daß er auch heute noch für Kaufhausbrandstiftung ist, denn in puncto Konsum, da hätten sie verloren. Ob sich denn alle ins Flugzeug setzen müßten, um sonst wohin zu fliegen!, wo es ihm ausreichte, ins Elsaß zelten zu fahren. Aber vieles war durchgesetzt, behauptete er, beispielsweise Sexualität und Bildung.

Natürlich langweilten mich seine politischen Rechnungen. Für ihn ist das ein Dogma, daß die Zeit vor zwanzig Jahren noch eine Zeit war, eine echte Zeit, Einheit von Leben und politischem Kampf, der reinste Mythos. Was mich irritiert, ist, daß er diesem Kampf, und damit sich selbst, offenbar immer noch eine gesellschaftliche Relevanz zuordnet. Mein Eindruck ist ein anderer: Das interessiert heute keinen mehr. Die Parolen sind entweder Historie oder öffentliche Meinung. Wer ist denn heute nicht der Ansicht, daß der Konsum uns eines Tages alle umbringt? Dieses Bekenntnis kostet nichts, Pessimismus ist preiswert geworden, und mein Verdacht ist, daß mein Bruder sich nur deshalb jede Menge davon leistet.

Egal. Jedenfalls hat mich das nicht die Bohne interessiert, was er mir vorrechnete, als er mir gegenübersaß unter der Weide und wir uns kaum noch sehen konnten, weil der Tag den Garten verließ. Mir wäre lieber gewesen, er hätte mir erzählt, wie das war, als er sich mit Jeans und T-Shirt auf sein Motorrad gesetzt hat, losgefahren ist, nach zwei Wochen dann zurückkam und meine Eltern beschuldigte, sie gängelten ihn, weil sie eine Vermißtenanzeige aufgegeben hatten. Ich erinnere mich an die Tränen meiner Mutter, die überzeugt war, ihr Sohn sei tot. Ich habe meinen Bruder bis heute nicht gefragt, was er über die Wunden denkt, die damals geschlagen worden sind, ob die Narben für ihn noch eine Bedeutung haben oder ob die Kämpfe zu Anekdoten geworden sind, die bei passender Gelegenheit durchgenommen werden.

So jedenfalls, hatte ich den Eindruck, war es für Kollat, den Karins Sitzordnung neben mich gespült hatte, vielleicht weil er ein gesprächiger Mensch ist, was sie von mir nicht glaubt, im Grunde ein Irrtum, ich rede durchaus viel, wenn die Situation danach ist. Es kommt vor, da gehöre ich auf Festen zu den letzten, nachts und unter Alkohol bin ich bereit, mich zu verlieren, meistens allerdings rede ich wenig, weil es nur wenige Menschen gibt, bei denen ich am nächsten Morgen nicht das Gefühl habe, mich lächerlich gemacht zu haben. Bei Kollat brauchte ich mich nicht anzustrengen, er erzählte von selbst, während die restlichen Hochzeitsgäste den Raum betraten und die Platzkärtchen nach ihrem Namen absuchten. Er war recht schnell bei den alten Zeiten, erinnerte sich, daß er seine Frau über meinen Bruder kennengelernt hatte, dreiundsiebzig in Berlin. Wahrscheinlich verführte ihn die Heirat dazu, in Erinnerungen zu kramen.

Damals, in Berlin, erzählte er, das war wohl so ziemlich das steilste Auf und Ab, das er je erlebt hat. Er war bei einer Prüfung durchgefallen, unerwartet, es kommt ja vor, sagte er, da weiß man bereits vorher, daß das nichts wird, aber bei der betreffenden Prüfung bin ich mir sicher gewesen. Und dann haben sie ihn auseinandergenommen, Stück für Stück, Frage für Frage, er hat dagestanden wie der letzte Trottel. Hinterher hat er sich ins Auto gesetzt, nichts wie raus aus der Provinz, hat er sich gesagt, und auf die Gesellschaft und das System geflucht, die autoritären Strukturen, gegen die man nicht ankommt, vor denen man nur fliehen kann, und zum x-ten Mal kamen ihm Zweifel, ob das richtig sei mit dem Studium, mit der Universität überhaupt, wo eine reaktionäre Professorenschaft mit ihrem vernagelten Weltbild das Sagen hat, diese Zweifel, die seit Anfang an Thema gewesen waren zwischen ihm und meinem Bruder, den er in der Uni kennengelernt hatte.

Und wie er von diesem ganzen Unimilieu berichtete, fand ich, daß er damit halbwegs normal umging, wenig Ideologie, von wegen: wir damals!, und daß das heute alles der letzte Mist ist, weil die Studenten in arktischer Starre verharren, wenns darum geht, Stellung zu beziehen.

Ein Vorwurf, den mein Bruder gern an meine Generation, und damit natürlich an mich richtet. So auch damals, als wir uns im Garten gegenübersaßen. Ich ärgerte mich.

– Warum soll ich denn ein Wort über Stammheim verlieren, sagte ich, muß doch jeder wissen, wenn er Terrorist wird, wo das enden kann, so wie der Beamte auf dem Amt endet.

Mag sein, daß ich mit dieser Bemerkung etwas zu weit gegangen bin, weil er selbst seit mehreren Jahren beamtet war. Er war wütend, und ich war es auch.

– Du hast dich doch nie mit der Geschichte des Terrorismus und seinen Hintergründen beschäftigt! sagte er.

Das stimmte. Die Fernsehberichte über Terrorismus gehörten zu meiner Jugend wie und . Einmal habe ich am Mittagstisch gesagt, man müßte die Terroristen alle an die Wand stellen, weil ich das irgendwo in der Schule gehört hatte, und mein Vater nickte.

Für Kollat war sein Haß Vergangenheit wie die Geschichte, die er erzählte, daß er auf dem Weg nach Berlin hin- und hergerissen war zwischen Wut und Euphorie, zwischen Selbstzweifeln und der Überzeugung, es allen zu zeigen. Am Ende setzte sich dann der Glaube an die eigenen Fähigkeiten durch, die Gewißheit, daß die Welt nur auf einen gewartet hat, das Gefühl, unverletzbar zu sein, diese Kraft, die einen ganz durchströmt, erst recht nach ein, zwei Flaschen Bier!, lachte Kollat, während die Kellner um Entschuldigung baten, Kaffee ausschenkten und mit Kuchentabletts das Hufeisen abschritten. In Hochstimmung kam er in Berlin an, fuhr auf nachtleeren dreispurigen Straßen mit Bäumen rechts und links, hier und da eine noch erleuchtete Kneipe, dann wechselten Schaufenster einander ab, Bekleidungs- und Lebensmittelgeschäfte, Banken und Post, eine U-Bahn-Haltestelle, anschließend wieder Wohngebiete.

– Zu Hause, sagte er, war das einfacher, die Orientierung. In der Provinz gibt es Außenbezirke und ein Zentrum, und zwar da, wo es hingehört, ein Zentrum im Zentrum.

Schließlich fand er den gesuchten Stadtteil, kreuzte die richtige Straße, parkte vor der Kneipe, deren Namen Johnny ihm genannt hatte, stieg aus und stand endlich vor der dreistelligen Hausnummer, der richtigen. Er erinnert sich noch heute an die schwere, zweiflüglige Holztür, dahinter ein dunkler Durchgang, links ein Treppenaufgang, erleuchtet durch eine trübe Glühbirne in einer halb aus dem Putz gerissenen Porzellanfassung, auf dem Fußboden Flugblätter und Werbebroschüren, Sozialismus und Sonderangebote, verbeulte Briefkästen, aufgebrochen teils, Namensschildchen auf grauen Blechtürchen, kaum lesbar, aufgeklebte Papierschnipsel mit mehreren Namen oder verblichene Schriftzüge auf vergilbtem Untergrund hinter blindgewordenen Glasscheibchen. Kollat stieg die Treppe hinauf, kein Licht im zweiten und dritten Stock. Er leuchtete mit seinem Feuerzeug nach Türschildern, hier und da angelaufene Messingplaketten mit eingravierter Schrift, kein Johnny Er sah auf die Uhr, etwas zwischen drei und vier, keine Zeit zum Denken, er wollte ein Bier. Er stieg die Treppen wieder hinunter, tastete durch die Lichtlosigkeit des zweiten Stocks, mit der Schuhspitze suchte er die Stufen zum ersten, dann das Schnappen eines Schlosses hinter ihm. Er erschrak und drehte sich um. In der geöffneten Tür stand eine fette Alte im Spitzennachthemd, in fahlen Schein getaucht durch eine Nachtleuchte in ihrem Wohnungsflur. Natürlich verteidigte er sich sofort, wegen der Uhrzeit, als sei er es, der hier etwas falsch...


Woelk, Ulrich
Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; 'Aspekte'-Literaturpreis für das Debüt ›Freigang‹ (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman ›Die letzte Vorstellung‹ wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (›Mord am Meer‹). Ulrich Woelk lebt in Berlin.

Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; 'Aspekte'-Literaturpreis für das Debüt ›Freigang‹ (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman ›Die letzte Vorstellung‹ wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (›Mord am Meer‹). Ulrich Woelk lebt in Berlin.



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