E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: dtv- premium
Woelk Was Liebe ist
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-423-41609-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: dtv- premium
ISBN: 978-3-423-41609-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; »Aspekte«-Literaturpreis für das Debüt >Freigang< (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman >Die letzte Vorstellung< wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (>Mord am Meer<). Ulrich Woelk lebt in Berlin.
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EINS
DAFÜR, DASS ER EPILEPTIKER IST, hat er seinen Weg gemacht. Er ist sechsunddreißig, promovierter Jurist und hält zehn Prozent der Anteile des elektrotechnischen Familienunternehmens, das sein Großvater in den dreißiger Jahren gegründet hat. Auf dem Markt für Großtransformatoren und Starkstrom-Umspannanlagen ist die Firma weltweit mit Erfolg aktiv. Anlagen der Ziegler Group stehen unter anderem in Kanada, Mexiko und Südafrika.
Das sind die Länder, in denen er vor Ort war, was mit seiner Krankheit nicht selbstverständlich ist. Manche Fluggesellschaften verlangen von Epileptikern, dass sie sich vor dem Abflug beim Kabinenpersonal melden. Man möchte während des Flugs keine unliebsamen Überraschungen erleben. Er gibt seine Epilepsie beim Check-in trotzdem nicht mehr an. Durch die Wahl des richtigen Medikaments ist er seit ungefähr zehn Jahren anfallsfrei. In dieser Hinsicht hat er Glück gehabt, denn Anfallsfreiheit wird medikamentös keineswegs bei allen Epileptikern erreicht.
Deswegen beunruhigt ihn das unheilvolle, schwer zu fassende Gefühl, das sich in ihm verdichtet, als er in Berlin vor einem Straßencafé aus dem Taxi steigt. Für Ende Oktober ist es ungewöhnlich warm und schwül. Der Luftzug eines Busses wirbelt ein paar Blätter über den Gehweg. Irgendetwas geschieht in diesem Moment in ihm. Er spürt einen Druck in der Magengegend und eine unbestimmte, in nichts wurzelnde Angst.
Er lockert den Knoten seiner Krawatte, aber diese Geste, mit deren Beiläufigkeit er sich selbst ein wenig beruhigen möchte, bringt keine Erleichterung. Das vage, vom Bauch aufsteigende Gefühl säuerlicher Wärme lässt nicht nach und auch die unbestimmte Angst nicht, so dass er schließlich denkt: Was, wenn es die Vorahnung eines kommenden Anfalls ist?
Die Tür des Cafés steht offen. Hinter dem Panoramafenster zur Straße lesen die Gäste Zeitung oder beschmieren kleine Brötchen mit Marmelade. Es ist Frühstückszeit. Dass in dem Café gelesen wird, wertet er als Beleg dafür, dass es sich bei den Gästen um besonnene, informierte und letztlich intelligente Mitmenschen handelt. Sollte er einen Anfall haben, wäre das sicher ein Vorteil. Von dem zufällig zusammengewürfelten Straßenpublikum in einer Großstadt wie Berlin lässt sich das wahrscheinlich nicht sagen.
Außerdem könnte der Fußboden dort ein Holz- oder Teppichboden sein und also federnd oder sogar weich im Vergleich zu den harten Betonplatten des Gehwegs. Das Café scheint den Schutz zu bieten, den er braucht, falls es wirklich zu einem Anfall kommen sollte. Ihm bleibt nicht viel Zeit, sich zu entscheiden. Oft vergehen nur Sekunden, bis sich aus der Vorahnung eines epileptischen Anfalls – einer Aura – ein Anfall entwickelt.
Er weiß, welche Optionen er hat und was in seinem Körper möglicherweise geschehen wird, aber dass es geschehen könnte, trifft ihn nach zehn Jahren ohne Anfall unvorbereitet und hart. Vielleicht irrt er sich ja. Vielleicht interpretiert er nur die Tatsache fälschlicherweise als Aura, dass der Himmel sich allmählich bewölkt und die Luft drückend wird, so wie es am Morgen in den Radionachrichten, die er im Hotel beim Rasieren gehört hat, angekündigt worden ist.
Das Sicherste wäre es ohne Zweifel, sich sofort hinzulegen, an Ort und Stelle, im Anzug und mit Aktentasche. Auf dem Gehweg liegend könnte er einen Anfall abwarten, ohne durch einen Sturz gefährdet zu sein. Manche Epileptiker, die eine Aura spüren, handeln so. Es ist vernünftig. Die irritierten, befremdeten und vielleicht auch ärgerlichen Blicke von Passanten stören sie nicht. Aber er möchte so nicht mehr angesehen werden. Nicht nach zehn Jahren ohne Anfall. Nicht nachdem er seinen Weg gemacht hat.
Er betritt das Café wie in Trance. Tische, Stühle und der Tresen, an dem Kaffee und Speisen ausgegeben werden, haben nüchterne, funktionelle Formen. Das Licht und die Farben sind warm und freundlich. Er setzt sich auf den ersten Stuhl, den er erreicht, und fühlt sich danach etwas sicherer, auch wenn es nach wie vor möglich ist, dass er das Bewusstsein verliert.
Auren sind nicht eindeutig. Unter medizinischen Gesichtspunkten sind sie kleine Anfälle, begrenzte epileptische Ereignisse, die mal in einen sogenannten Grand-mal-Anfall mit Krämpfen und Bewusstseinsverlust münden, mal aber auch folgenlos abklingen. Während er versucht, die Wahrscheinlichkeiten abzuwägen, die für das eine oder andere sprechen, sagt eine Stimme: »Entschuldigung.«
Die Frau, die vor ihm steht, trägt eine verwaschene schwarze Jeans mit ein paar Rissen und darüber ein ebenfalls schwarzes T-Shirt mit einer großen weißen Aufschrift, von der aber nur die Buchstaben IGH zu erkennen sind. Anfang und Ende des Schriftzugs werden von einer abgewetzten Lederjacke verdeckt. IGH – als Jurist assoziiert er RIGHT.
Die Frau ist Ende zwanzig und hat dunkle, kurz geschnittene Haare. Hier und da schießen ein paar eigenmächtige Strähnchen hervor. Ihr Gesicht ist schmal, hell. Sie betrachtet ihn irritiert, wie er da im Anzug und mit Aktentasche vor ihr sitzt. Vermutlich ist er nicht der Typ von Mann, mit dem sie üblicherweise zu tun hat. »Entschuldigen Sie«, sagt sie noch einmal, »aber Sie sitzen auf meinem Platz.«
Auf dem Tisch steht eine Schale mit einem zur Hälfte getrunkenen Milchkaffee. Das bemerkt er erst jetzt. Daneben liegt eine aufgeschlagene Ausgabe des Spiegel vor einem Aschenbecher mit zwei ausgedrückten Zigaretten.
Er murmelt: »Tut mir leid … es geht schon wieder.«
Sie sagt: »Stimmt etwas nicht?« Und als er nichts entgegnet und nur eine unklare, halb zustimmende, halb abwehrende Bewegung mit dem Kopf macht, fügt sie hinzu: »Ich bringe Ihnen ein Glas Wasser.«
Wie nahezu alle Epileptiker ist er darum bemüht, seine Krankheit gegenüber anderen zu verbergen. Es gibt zu viele Vorurteile über Epileptiker. Manchmal heißt es, epileptische Erkrankungen seien den Menschen anzusehen, was nicht stimmt. Oder die Epilepsie wird als eine Form von geistiger Behinderung betrachtet, die auch die Intelligenz begrenzt. Oder man hält Epileptiker für aggressiv und unterstellt ihnen, dass sie besonders häufig psychische Probleme haben bis hin zur Schizophrenie.
All das ist Unsinn. Es gibt keine Belege für irgendeine dieser Behauptungen. Manchmal gibt es Vorerkrankungen des Gehirns, zum Beispiel Tumore, die sowohl für die Epilepsie als auch für psychische oder geistige Probleme verantwortlich sind. Doch die meisten Epilepsien sind idiopathisch – das heißt, es lässt sich keine krankhafte Veränderung des Gehirns feststellen, die als Ursache für die Epilepsie in Frage kommt. In allen Tests erweisen sich die Gehirne idiopathischer Epileptiker als intakt und unauffällig. So ist es auch bei ihm.
Die Frau, auf deren Platz er sitzt, bringt ein Glas Wasser und stellt es vor ihn auf den Tisch. Er bedankt sich.
»Es geht schon wieder.«
»Vielleicht ist es das Wetter«, sagt sie und setzt sich. Als sie sich den Stuhl zurechtrückt, gibt ihre Lederjacke den Blick auf die T-Shirt-Parole frei. Quer über ihrer Brust steht nicht RIGHT, sondern FIGHT!
Allmählich geht es ihm wieder besser. Vielleicht war es wirklich nur das schwüle Wetter. Oder er hat etwas Verdorbenes gegessen, zum Beispiel das Rührei vom Frühstücksbuffet, bei dem er einen Moment gezögert hat. Er atmet durch.
»Ich muss sowieso weiter«, sagt er. »Sie sind mich gleich los.«
Jetzt lacht sie plötzlich, charmant und neugierig, offenbar ist ihr Unmut verflogen: »Wer sagt denn, dass ich Sie gleich wieder loswerden möchte? Wohin müssen Sie denn so dringend?«
Er sagt: »Zum Bundeskanzler.«
»Natürlich!«
Sie denkt, er scherzt mit ihr. Sie denkt, jetzt, da es ihm besser geht, ist es ein Spiel, vielleicht sogar ein Flirt. Sie klappt die Spiegel-Ausgabe zu, um zu unterstreichen, dass ihr die Lektüre nicht besonders wichtig gewesen ist – jedenfalls deutet er ihre Geste so. Nach dem Zuschlagen des Magazins sieht er nun dessen Cover, auf dem Adolf Hitler ganzseitig abgebildet ist, groß und frontal. Darunter heißt es: Die reale Macht des Bösen. Ist das so? Ist die Macht Hitlers noch real? Oder ist er nur noch eine Horrorfigur aus dem Gruselkabinett der Weltgeschichte?
Sie zündet sich eine Zigarette an und inhaliert tief. Aus der Art, wie sie raucht, schließt er, dass die Mischung aus Selbstliebe und Selbstzerstörung, die sich mit dem Rauchen verbindet, dem Bild entspricht, das sie von sich selbst hat.
»Und was machen Sie beim Bundeskanzler.«
»Ich vertrete ein Unternehmen.«
»Und was wollen Sie? Geld?«
»Ich nicht. Aber Schröder«, sagt er.
Er verträgt es nicht, dass sie raucht, will das aber nicht zugeben. Sie soll sich nicht die Schuld daran geben, dass die Übelkeit zurückkehrt. Um sich abzulenken, konzentriert er sich auf den Anblick unerheblicher Details: die Trinkschale mit den Resten des Kaffees, die weiße Milchglaskugel, die als Deckenleuchte im Brasseriestil an einer Messingstange hängt, Hitler auf dem Spiegel-Cover. Für Hitler und Conti und Brandt und Bouhler wäre er mit seiner Krankheit nicht mehr als eine genetische Fehlerquelle in ihrem wahnhaften Kampf um die »Gesundheit« der Rasse.
Da er nichts mehr sagt, begreift sie, was los ist, und drückt die Zigarette aus.
»Wie idiotisch von mir. Ich wohne hier in diesem Haus. Im dritten Stock. Es gibt einen Fahrstuhl. Irgendetwas gegen Übelkeit habe ich sicher....