E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Wolfram Handbuch Naturraumpädagogik
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-451-82424-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
in Theorie und Praxis
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-451-82424-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Natur ist inzwischen anerkannter Bildungsort.
Anke Wolfram liefert in diesem Buch fundiertes Hintergrundwissen genauso wie praktische Beispiele, wie Wald und Wiese als Bildungsort optimal genutzt werden können.
Ebenso werden Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zur Gestaltung und Führung von Waldkindergärten oder Waldprojekten in Regeleinrichtungen beschrieben.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2. Menschenbild und Bildungsverständnis
in der Naturraumpädagogik
2.1 Naturraumpädagogik als Handlungskonzept
Im Mittelpunkt jedes frühpädagogischen Ansatzes steht das Kind. Das Bild vom Kind, das in einer Einrichtung vorherrscht, prägt die jeweilige pädagogische Ausrichtung. Jeder Erwachsene, der mit Kindern umgeht und mit ihnen Bildungsprozesse gestaltet, ist auf- und herausgefordert, sich Gedanken über das eigene Bild vom Kind zu machen. Die eigene Kindheit, persönliche Erfahrungen und Lebenshintergründe spielen dabei eine Rolle. Pädagogische Teams haben die Aufgabe, sich über ihre Vorstellungen auszutauschen und sich über das Bild vom Kind zu verständigen, das in der Einrichtung von allen gelebt wird. Dass dieser Austausch kontinuierlich zu reflektieren ist, ergibt sich nicht nur durch personelle Veränderungen im Team, persönliche Weiterentwicklung und einen sich permanent erweiternden Erfahrungshorizont, sondern ist gleichsam eine pädagogische Pflicht. Veränderte Kindheit
„Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit. Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander so zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im Übrigen aber frei und unbeschwert auf dem wunderbaren Spielplatz, den wir in dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen. Gewiss wurden wir in Zucht und Gottesfurcht erzogen, so wie es dazumal Sitte war, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und wir spielten und spielten und spielten, sodass es das reine Wunder war, daß wir uns nicht totgespielt haben. Wir kletterten wie die Affen auf Bäume und Dächer, wir sprangen auf Bretterstapel und Heuhaufen, daß uns die Eingeweide nur so wimmerten, wir krochen quer durch riesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche, unterirdische Gänge entlang, und wir schwammen im Fluss, lange bevor wir überhaupt schwimmen konnten“ (Lindgren 2004, S. 44?f.). Astrid Lindgrens Schilderungen ihrer Kindheit machen deutlich, wie sehr sich seit damals die Lebenswirklichkeit von Kindern verändert hat. „Kinder wachsen heute in einer kulturell vielfältigen, sozial komplexen und hoch technisierten Welt auf, die beschleunigten Wandel aufweist“ (BayBEP 2013, S. 5). Sie haben es heute ungleich schwerer, sich selbst und die Natur intensiv zu erleben. Vor allem ihre Chancen auf spontane Spiele in der Natur und ihrem direkten Umfeld schwinden. Zum einen, weil häufig nahgelegene, natürliche Spielräume fehlen; zum anderen, weil Kinder durch Ganztagsbetreuung oder zahlreiche Aktivitäten in Vereinen, durch die Teilnahme an Förderangeboten und Freizeitkursen weniger Zeit finden, um ungezwungen und spontan draußen mit Freunden zu spielen. Die Freizeit der Kinder ist heute weitgehend verplant und von Erwachsenen vorstrukturiert. Noch in der Generation heutiger Eltern war es möglich, sich als Kind das eigene Wohnumfeld meist zu Fuß in sich ständig erweiternden Radien zu erschließen. Heute wird die Lebenswelt der Kinder zu verinselten Erfahrungsräumen konstruiert. Diese sind meist für die Kinder nicht mehr eigenständig erreichbar und lassen kaum Zusammenhänge erkennen. Vergleicht man den Aktionsraum und die Bewegungsfreiheit von Kindern früherer Generationen wird deutlich, wie unselbstständig Kinder sich heute ihre Welt erschließen können und dürfen. Auch die vielfältigen Angebote vorgefertigter Spielmaterialien schränken die Kreativität und das Sinneserleben ein. Der Forscherdrang und die Eigenwirksamkeit von Kindern werden in der Folge häufig gehemmt. Computer, Tablet, Smartphone und Fernseher haben im Kinderzimmer Einzug gehalten und ersetzen zunehmend fehlende Spielkameraden, Geschwisterkinder und vor allem Erfahrungen mit den Dingen aus erster Hand. Der Schwerpunkt kindlicher Förderung wird auf kognitive Leistungen gelegt. Das theoretische Wissen steht im Vordergrund, weil Eltern oft befürchten, dass ihre Kinder in der heutigen Wissensgesellschaft sonst nicht mithalten können. Leistungsdruck und Überforderung belasten deshalb oftmals bereits Kleinkinder (vgl. Miklitz 2007). Kindheit findet immer weniger draußen statt. Sie wurde nach innen verlegt. Unsere veränderte Lebensweise zieht gesundheitliche, gesellschafts- und umweltpolitische Folgen nach sich. Vor allem der daraus resultierende Bewegungsmangel hat erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern, beeinträchtigt die körperliche wie psychische Leistungsfähigkeit und die Gehirnentwicklung. Eine deutliche Zunahme folgender Erkrankungen im Kindesalter ist zu beobachten: Ungeschicklichkeit, feinmotorische Defizite, Übergewicht, Allergien, psychische und psychosomatische Störungen wie Rücken- und Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, Hyperaktivität, Gereiztheit, Aggression und Depressionen (vgl. Hurrelmann o.?J.). Es fällt auf, dass immer weniger Kinder über ausreichend Fitness und Ausdauer verfügen. Es fehlt ihnen an Muskelkraft und Körperspannung. Viele Kinder weisen einen unsicheren Laufstil, eine eingeschränkte Fein- und Grobmotorik oder Schwierigkeiten in der Koordination auf. Die Zahl der Unfälle, die auf mangelnde Bewegungserfahrung zurückzuführen sind, nimmt stetig zu. Der Natursoziologe Rainer Brämer (2010) untersuchte Auswirkungen der Naturentfremdung bei Kindern und Jugendlichen (vgl. Brämer et al. 2010). Seine Studien quittieren deutschen Kindern: ? ein defizitäres Naturverständnis und mangelnde Naturverbundenheit, ? ein geringes Umweltbewusstsein, ? mangelhafte Natur- und Artenkenntnisse, ? fehlendes Wissen um naturbezogene Zusammenhänge, ? fehlendes Wissen über forst- und landwirtschaftliche Nutzungsformen, ? einen Mangel im achtsamen Umgang mit Natur und Lebewesen und ? mangelndes Wissen und Beachtung von globalen, naturrelevanten Zusammenhängen. Das Bild vom Kind in der Naturraumpädagogik
Naturraumpädagogik reagiert auf die veränderten Bedingungen für die Bildung und Entwicklung von Kindern. Es besteht die Grundüberzeugung, dass naturnahe, ganzheitliche Impulse in der heutigen Zeit Basis für eine starke, kreative und positive Entwicklung sind. Die Herausforderungen, vor die uns das Informationszeitalter stellt, werden sich nur mithilfe eines zukunftsweisenden Bewusstseins lösen lassen. Kinder brauchen Möglichkeiten, die sie dabei unterstützen, ? auf ihre eigenen Fähigkeiten und die Fähigkeiten von anderen zu vertrauen, ? soziale Kompetenzen zu entwickeln, ? Visionen entwickeln zu können und Mut zu haben, diese umzusetzen, ? sich anpassungsfähig und flexibel zugleich zu verhalten. Die Natur wirkt dabei wie ein Katalysator: Sie bietet eine Umgebung, die es jungen Persönlichkeiten ermöglicht, die eigenen Kompetenzen zu spüren. Dazu gehören erste Bindungserfahrungen ebenso wie das Erleben von Freiheit im Sinne einer möglichen Entscheidung entsprechend des Alters und der Situation sowie Sicherheit und Vertrauen. Daraus entstehen Handlungskompetenz und Stärke, um Verantwortung für sich selbst, das persönliche Umfeld, die Gesellschaft und die Umwelt zu übernehmen. Folgende Überlegungen zeichnen den Hintergrund für das Bild vom Kind, wie es im Sinne der Naturraumpädagogik zur Basis pädagogischen Handelns wird: Kinder … ? sind einzigartig ? sind kompetent von Anfang an ? haben eine individuelle Lernbiografie „Die moderne Säuglingsforschung hat gezeigt, dass Neugeborene – lange vor dem Spracherwerb – sehr viel kompetenter sind als ursprünglich angenommen.“ (Haug-Schnabel 2020, S. 56). Der Säugling tritt von Anfang an in Interaktion mit seinem Umfeld. Er kommt bereits mit einem enormen Verhaltensrepertoire sowie mit einer schier unendlichen Lernkapazität auf die Welt – „vorausgesetzt, die ‚Umwelt‘ bietet die für einen Erfahrungsgewinn nötigen Sinneseindrücke liebevoll und angemessen“ (ebd.). Jedes Kind unterscheidet sich durch seine Persönlichkeit und Individualität von anderen Kindern. Es bietet ein Spektrum einzigartiger Besonderheiten durch seine Anlagen, Stärken, Bedingungen des Aufwachsens, seine Eigenaktivitäten und sein Entwicklungstempo. Die kindliche Entwicklung ist ein vielschichtiger und individueller Prozess (vgl. BayBEP 2013). Durch den hohen Anteil an Freispiel in naturraumpädagogischen Einrichtungen haben Kinder die Chance, sich stets ihrem Entwicklungsstand entsprechend ihre Umwelt zu erschließen. Sie sind somit Pioniere und Entdecker ihrer eigenen Bildungsgeschichte. Die Pädagoginnen und Pädagogen stehen in einer engen Bindung als Begleiter und Unterstützer zur Verfügung und versuchen, die Kinder weder zu über- noch zu unterfordern. Kinder … ? sind aktive Gestalter ihrer eigenen Bildungs- und Entwicklungsprozesse ? sind neugierig und wissbegierig ? geben ihr Wissen gerne weiter ? haben ein Recht auf Teilhabe und Mitbestimmung ? sind bereit, Erwachsene an ihren Erlebnissen teilhaben zu lassen Laut Schäfer (2004) kann ein Kind nicht nicht lernen. Das Lernen ist dabei ein aktiver Prozess, den das Kind durch sein Handeln selbst bestimmt und steuert. Entsprechend ist eine Einwirkung von außen kaum möglich (vgl. Spitzer 2007). Kinder haben einen inneren Antrieb, sich...