E-Book, Deutsch, 226 Seiten
Woltmann Sonnen im Herbst
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7583-3873-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
ein Tagebuch
E-Book, Deutsch, 226 Seiten
ISBN: 978-3-7583-3873-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
März 2018, ein Abschied, der keiner war, beim Tod ihres Mannes Günter. Ausatmen? Einatmen, ein Hineingehen, fast Hineingleiten in ein neues, unbekanntes Land. Eine Sinn- und Sinnesreise, die die Autorin zur Niederschrift ihrer Tagesgedanken anspornte. Die Leser und Leserinnen werden miteinbezogen in die Ereignisse und Beobachtungen dieser auch von der Pandemie bestimmten Zeit. Sie werden eingeladen nach da und dort, in und um ihren Wohnsitz Arnbach im oberbayerischen Wittelsbacher Land, wo sich nicht nur Fuchs und Has, sondern auch die Amper und sanfte Hügellandschaften begegnen.
Johanna Woltmann wurde 1940 in Bad Mergentheim geboren als Tochter des Regensburger Kunstmalers Anton Zeitler und seiner Frau Betty, einer geborenen Nahr. Johanna wuchs in München auf, lebte aber nicht nur an der Isar, sondern auch am Schliersee und an der Donau zu Regensburg. Nach Studien in Germanistik und Romanistik setzte sie sich für die Vermittlung von Literatur und bildender Kunst ein. Die Welt der Kunst wahrnehmbar zu machen, erscheint ihr, ohne leidenschaftliche und zugleich kritische Beobachtung, kaum möglich. Die Literaturwissenschaftlerin unterrichtete in Annecy und München und lehrte 1967 bis 1969 an der Universität Orléans. Ihre Arbeiten für Kindlers Literaturlexikon beendete sie als Chefredakteurin mit der Herausgabe des letzten Bandes. Über viele Jahre widmete sie sich dem Werk und Nachlass der 1943 in Ausschwitz ums Leben gekommenen jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar und promovierte. Anschließend befasste sie sich mit Publikationen zum künstlerischen Nachlass ihres Vaters. Jetzt - längst in den persönlichen 80gern angekommen - erzählt die, seit vielen Jahren fast Erblindete, aus ihrem immer spannenden, immer positiv nach vorne schauendem Leben und resümiert: Ich bin zwar alt, fühle mich aber in meinem Innersten, wie wohl viele andere auch, geradewegs alterslos.
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Die letzten gemeinsamen Tage
Ich denke an die letzten Tage mit dir, zu Hause und im Krankenhaus. Sie waren anstrengend und fast ohne Wärme. Am Montag, dem 26. Februar, ist Frau Mayer, unsere begnadete Helferin an Schreibtisch und PC, bei uns. Du diktierst ihr vier Stunden lang unter großer Anstrengung deinen Essay Frieden auf Erden ist möglich, in Anlehnung an einen Buchtitel von Franz Alt, den du schätzt. Am Mittwoch sind wir zur Kontrolle des Augendrucks in Dachau. Am Samstag kommen Frau Rygh und deren Nachbar Christian Wittmann zu uns, um unseren Drucker wieder in Gang zu setzen. Du hast nicht mehr die Kraft, sie zu begrüßen. Die kommende Nacht ist unsere letzte gemeinsame. Ich denke wehmütig und dankbar daran zurück. Ein Gefühl der Nähe habe ich noch, aber keine konkrete Erinnerung. Am Sonntagmorgen, dem 4. März, bekommst du wenig Luft und spürst dein Herz. Eine Ärztin kommt, du wirst ins Krankenhaus Indersdorf eingewiesen. Es folgt der hektische Aufbruch ins Krankenhaus, wo man eine leichte Lungenentzündung diagnostiziert, die dann am nächsten Tag zu einer schweren wird. Du bekommst Antibiotika, vom Herzen spricht niemand. An den folgenden Montag habe ich kaum Erinnerungen. Ich weiß nur, daß mich Erwin Heilander, unser Vermieter und Nachbar, mittags ins Krankenhaus bringt. Am Abend bin ich mit Frau Rygh beim Turnen, ganz nah bei dir, denn die Turnhalle liegt nur wenige Meter unterhalb des Krankenhauses. Ich sage niemandem, daß du dort liegst, aber ich denke unentwegt daran. Vom Dienstag an besitze ich ein Telefonprotokoll mit allen Telefonaten aus der Klinik. Ich kann auch die Adressaten erkennen. Am späteren Abend ist Frau Rygh bei uns zu Hause. Und auch dein Freund Bodo Motzkau, der Kraftfahrer und engagierte Gewerkschaftler, kommt. Es ist der von dir geplante Termin unseres politischen Zirkels. Du rufst immer wieder an, so daß ich immer wieder ans Telefon laufen muss und kaum zum Sitzen komme. Du willst dabei sein; um 23:33 Uhr sagen wir uns dann „Gute Nacht.“ Am Mittwochmorgen um 5:10 Uhr rufst du wieder an. Es herrscht irgendwie Alarm, denn du rufst nach sechs noch dreimal an. Trotzdem fahre ich um acht Uhr in die Stadt, hole auf dem Telegrafenamt, der Post am Bahnhof, 500 Euro und gehe über den Stachus bis zur Augenklinik. Frau Dr. von Livonius stellt bei der Kontrolle fest, daß sich mein Sehvermögen nicht verschlechtert hat; so fahre ich erleichtert zurück. Von ein Uhr bis abends um sechs bin ich bei dir und werde, wie jeden Tag, von Frau Rygh nach Hause gebracht. Danach führen wir wieder viele Telefonate. Ich befrage Justines Tochter Katharina, die Internistin, wegen deiner Lungenentzündung, die sich noch nicht gebessert hat. Sie rät zu einem Breitbandantibiotikum. Um 20:51 Uhr sagen wir uns „Gute Nacht“. 8. März 2018
An diesem Donnerstagmorgen rufst du um 7:03 Uhr an. Es beginnt unser letzter gemeinsamer Tag. Du bist zunächst sehr unzufrieden, weil ich erwähne, ich spürte meine Bronchien und wollte zu Hause bleiben. Dann entschuldigst du dich immer wieder. Zum Glück entscheide ich mich gleich, ins Krankenhaus zu kommen. Du hattest recht: Wie konnte ich an diesem Tag eine Pause einlegen wollen? Um kurz nach eins bin ich bei dir, mitgenommen von Erwin Heilander. Da ich ja sehbehindert bin, helfen mir die Menschen in meiner Umgebung bei den notwendigen Fahrten. Ich weiß nicht, ob du schon etwas gegessen hast. Auch ich bekomme im Krankenhaus, wie jeden Tag, ein Mittagessen und stelle es in den Kühlschrank zum Mitnehmen. Du musst ein wenig aufstehen, bis zur Treppe laufen und diese auch noch hinaufsteigen. Es fällt dir schwer, und es ist wohl zu anstrengend. Immerhin ist die Lungenentzündung zurückgegangen. Eine leichte Reha sollst du ab jetzt bekommen. Du wünschst Frau Rygh zu sehen, das will ich gern veranlassen. Nichts Wichtiges besprechen wir sonst. Es kann ja alles so weitergehen. Ich würde heute noch gern länger bei dir bleiben, und du wolltest es auch, aber Frau Rygh ist schon unterwegs, als ich bei ihr anrufe. So drücke ich dir zum Abschied einen Kuss ins Gesicht und nehme dich in den Arm. Um 20:27 Uhr kommt dann dein letzter Anruf an diesem Tag: „Ich hatte Besuch, du musst raten, wer da war, ein Schriftsteller.“ Ich müsse wissen wer. Es war der Chefarzt Dr. Uwe Johnson; ihr hattet ein langes, schönes Gespräch miteinander. Er würde dich jetzt jeden Tag besuchen. Ein glücklicher Ausklang des Tages, eine glückliche Begegnung 9. März 2018
Um 7:05, um 8:05 und um 8:18 Uhr bekomme ich deine letzten Anrufe, Hilferufe. Ich würde gern sofort kommen, aber ich habe keinen Chauffeur. Gegen Mittag gehst du ins Bad und brichst zusammen. Dann versucht man, dich wiederzubeleben. Der Chefarzt ist bei dir und sieht, wie dein Herz immer langsamer schlägt und dann stillsteht. Es ist 12:55 Uhr. Genau um diese Zeit verlasse ich das Haus und fahre mit Frau Dudda zu dir. Sie hat ein ängstliches Gefühl, ich nicht. Ich mache mir noch nicht einmal Sorgen, als ich auf dem Gang aufgehalten werde, ich könne noch nicht in dein Zimmer. Ich warte ziemlich lange, bis eine Ärztin kommt und mich informiert. Man schließt mir dann ein Zimmer auf, das als Andachtsraum eingerichtet ist und überlässt mir den Schlüssel. Da liegst du, mein Geliebter, wie ich dich nie hätte sehen wollen. In einem Krankenbett, unter dünnem Tuch, im Nachthemd, auf der Brust eine Rose. Ich rufe nur noch: „Warum hast du das getan?“ Und ich lasse dieses Unfassliche gar nicht tief in mich hinein. Du bist schon kalt, das spüre ich, als ich vom Kopf bis zu den Füßen deinen Körper berühre und so von dir Abschied nehme. Ich darf ja bleiben, solange ich will; erst am Abend wird die zweite Leichenschau stattfinden. Kurz vor zwei Uhr telefoniere ich zum ersten Mal von deinem Telefon im Krankenzimmer aus. Ich erreiche Verena. Um drei Uhr erreiche ich Luis, der sehr erschrickt und seinen Vater Fabian am Abend nur auffordert, mich anzurufen, nichts sagt vom Tod seines Opas. Ich rufe dann noch Frau Rygh an. Und ich erreiche auch Judith, sowie Katja, bei der ich auf Band spreche. Ich laufe zwischen den Anrufen immer wieder zu meinem aufgebahrten Mann, bis wieder ein Impuls kommt, was jetzt zu tun sei. Ich suche jemanden, der mir mit dem Handy ein Foto machen soll, finde aber niemanden. Ich leihe mir eine Schere aus dem Schwesternzimmer und schneide eine lange Strähne aus deinem Haar. Ich bin zwar unruhig, aber ich fühle: Diesen Menschen, der hier so regungslos liegt, liebe ich ganz neu und stark. Und doch nehme ich schon zwischen fünf Uhr und halb sechs Abschied. Abschied von dir, meinem Geliebten, der hier liegt, „so young, so cold, so fair“, wie es in einem Song heißt. Deine Habseligkeiten sind schon in einem großen Plastiksack verstaut, als ich von Frau Rygh nach Hause gebracht werde. Ich telefoniere noch lange mit Fabian, Ralf und Katja. 10. März 2018
Es ist sehr viel zu tun, so daß ich die Trauer nicht ganz an mich heranlassen muss. Die Bestatterin kommt und holt deinen Ausweis. Ich gebe ihr auch die Kleider mit für die Bestattung, die ich für dich ausgesucht habe. 11. März 2018
Gegen Mittag kommt Fabian. Wir schauen eine Mappe mit vielen persönlichen Dokumenten durch. Am Nachmittag fahren wir zu dem Bestattungsunternehmen in Indersdorf. In einem feierlichen gekühlten Raum liegt mein Mann Günter im Sarg aufgebahrt. Eine Kerze brennt. Du siehst friedlich aus, aber auch sehr ernst. Fabian macht Fotos. Wir nehmen von dir Abschied. Ich begreife nicht wirklich, daß dies das letzte Mal ist, daß ich dich, meinen Geliebten, sehe. 12. März 2018
Ich lasse mich nun treiben von meinen Aufgaben und Verpflichtungen. Am Morgen bin ich in Dachau und bringe die Brillen zum Augenarzt, der sie für die dritte Welt sammelt. 13. März 2018
Heute suche ich deine Grabstätte aus, einen Platz in einer sehr schönen Stele auf unserem Friedhof. Ich muss Geld holen, was für mich immer ein Abenteuer ist, muss einkaufen und sehr viel telefonieren. Den Tag für die Bestattung, für das Erscheinen der Todesanzeige zwei Tage davor, muss ich festlegen. Das Abschiedsessen soll im Gasthof am Erdweg stattfinden, aber ich habe keine Telefonnummer. Als ich in deinen Papieren etwas suche, fällt mir ganz unerwartet die Visitenkarte der Wirtsleute in die Hände. Wie kommt die hierher? Dort haben wir im Januar 2017 deinen 85. Geburtstag gefeiert, sehr festlich oben im Saal. Aber du warst schon sehr müde und – natürlich - nicht zufrieden. Am Abend schicke ich einen Brief per Fax an Dr. Hegele. 14. März 2018
Um zehn Uhr kommen Pater Paul und Frau Rygh zu mir, um den Trauergottesdienst zu besprechen. Pater Paul ist ein sehr freundlicher junger Ordensmann aus Indien, der hier den polnischen Priester im Pfarrverband unterstützt. Am Nachmittag kommt Frau Schreck vom Blindenbund und berät mich. Sie nimmt viele Bücher aus Günters Bibliothek für ihren Sohn, der BWL studiert, mit nach...