E-Book, Deutsch, 245 Seiten
Woods Nordlichtglanz und Rentierglück
20001. Auflage 2020
ISBN: 978-3-646-60637-9
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
New Adult Winter¿Romance¿¿
E-Book, Deutsch, 245 Seiten
ISBN: 978-3-646-60637-9
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ana Woods lebt am grünen Stadtrand von Berlin, wo sie von Inspiration zu ihren Romanen nur so umgeben ist. Bereits in jungen Jahren fing sie mit dem Schreiben an und verzauberte mit ihren fantasievollen Kurzgeschichten nicht nur Freunde und Familie, sondern ebenfalls ihre Lehrer und Klassenkameraden. 2017 hat Woods sich ihren Traum erfüllt und sich als Autorin selbstständig gemacht.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Wo auch immer ich mich befand, es war scheißkalt. Der Eiswind wirbelte meine Haare auf, die mir wie spitze Geschosse das Gesicht zerkratzten. Jedenfalls fühlte es sich so an. Nun machte es auch Sinn, dass man mir die gefütterten Klamotten gegeben hatte. Nur würden diese löchrigen Stiefel die Kälte nicht sonderlich lange vertreiben. Ich spürte bereits jetzt, wie sie durch den Stoff hindurchkroch und sich in meine Glieder zu fressen versuchte. Vermutlich würde es nicht mehr als wenige Minuten dauern, ehe meine Füße Eisklumpen glichen. Zeugenschutzprogramm …
Es war dieses eine Wort, das mir nun schon seit einem Tag im Kopf herumgeisterte, und schuld daran war, dass es mich hierher verschlagen hatte. Alles war so verdammt schnell gegangen, dass ich noch nicht einmal die Möglichkeit gehabt hatte, den ganzen Mist zu verarbeiten.
»Folgen Sie mir, Miss Bryce.«
Der Mann, der plötzlich vor mir stand, war vermutlich erst in seinen späten Dreißigern, doch die eingefallenen Wangen und grauen Härchen in seinen Augenbrauen ließen ihn älter aussehen. Höchstwahrscheinlich schuftete er sich in dieser sterilen Pampa hier halb tot, um seine Frau und vielleicht auch mehrere Kinder durchzufüttern, und schob Überstunden, die man ihm ohnehin nicht entlohnte geschweige denn dankte, in der Hoffnung, befördert zu werden.
Ich kannte Männer wie ihn. Solche arbeiteten zur Genüge in der IT-Firma meines Vaters. Ich hatte sie jeden Tag gesehen und manchmal einen kleinen Funken Mitleid mit ihnen verspürt. Aber nur manchmal.
Der Gedanke an Dad und seine Firma ließ mich mit den Zähnen knirschen. Kochende Hitze schoss durch meinen Körper und brachte mein Blut zum Brodeln.
Ich hatte nichts verbrochen, sondern lediglich das Pech gehabt, in die falsche Familie hineingeboren worden zu sein. Dass mein Dad einige krumme Geschäfte abwickelte, war mir schon lange bewusst gewesen, aber ich hatte seine Machenschaften nie hinterfragt. Ich hatte mich einfach nicht in Dinge einmischen wollen, die mich nichts angingen, um genau solch einer Situation wie der, in der ich mich nun wohl oder übel befand, aus dem Weg zu gehen.
Mich von meinen Eltern zu verabschieden war mir vor der Abreise verboten worden. Vermutlich war das auch besser so, denn ich empfand im Moment nichts als unermessliche Wut auf Dad. Wie hatte er mir so etwas nur antun können? Mom und er waren oft in Streit geraten, da sie im Übrigen auch nicht sonderlich angetan von seinen kriminellen Geschäften gewesen war, aber er hatte ihr immer versichert, dass er uns nicht in Gefahr bringen würde. Und nun war ich ans Ende der Welt verfrachtet worden.
Und das sechs Wochen vor Weihnachten! Obwohl es sich dabei für mich um die schönste Zeit des Jahres handelte.
Sobald der Dezember kam, flüchteten die Eltern meiner besten Freundin Jess aus New York, um die kalten und stressigen Feiertage auf den Bahamas auszusitzen. Dies nahmen wir immer zum Anlass, die größte Party des Jahres in ihrer Villa am Stadtrand auszurichten. Es war ein Event, über das man noch Monate danach sprach.
Und was nun? Ich würde es vermutlich verpassen und mir stattdessen den Arsch abfrieren!
Der Mann stand noch immer abwartend vor mir, ehe ich ihm bedeutete loszulaufen. Ich folgte ihm, ohne eine Frage zu stellen. Wenn ich eines nämlich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden gelernt hatte, dann dass man mir ohnehin nicht antworten würde.
Ein grausiges Gefühl breitete sich in mir aus. Ich war mir ziemlich sicher, dass wir uns nicht in Schottland befanden, denn dafür war es hier zu kalt und zu verschneit. Im Himalaja konnten wir auch nicht sein, dafür hatten wir das Ziel zu schnell erreicht gehabt. Möglicherweise hatte man mich nach Russland gebracht? Dort würde man mich jedenfalls sicher nicht finden, falls die Verbrecherbande wirklich nach mir suchen sollte. Was ich bezweifelte, denn so wertvoll war ich nicht, auch wenn ich das eher ungern zugab. Dad liebte mich zwar, aber wenn es eines gab, was er ganz sicher noch mehr liebte, dann war es Geld. Eine Eigenschaft, die ich von ihm geerbt haben musste.
Wir stapften noch eine Weile durch den Schnee und ich sah mich etwas genauer um. Ich musste meine Augen fest zusammenkneifen, denn die Schneeflocken waren wie kleine Dolche. Ein wenig fühlte ich mich wie bei meiner monatlichen Akupunktur, nur dass ich mir diese ausgesucht hatte und es hier einer qualvollen Zwangsbehandlung glich.
In der Ferne konnte ich einen gräulichen Turm ausmachen, neben dem ein gelblicher etwas kleinerer stand. Sie ragten einige Meter in die Höhe, an ihren Dächern befanden sich Scheinwerfer, wenn ich das richtig deuten konnte. Ich glaubte, auch Antennen zu sehen. Für einen kurzen Moment blieb ich stehen, um noch mehr erkennen zu können. Ein längliches Gebäude schmiegte sich an den grauen Turm, der, wie mir nun klar wurde, der Tower eines Flughafens war.
Der Wind ebbte ab, sodass die Schneeflocken nunmehr sanft zu Boden tänzelten und mir den Blick auf das Schild des Flughafens freigaben: »Finavia Ivalo Airport.«
Ich musste kein Einstein sein, um zu wissen, was das hieß: Man hatte mich nach Finnland verfrachtet.
Finnland! Hatte das wirklich sein müssen? Klar, der finnische Winter war bestimmt wunderschön, aber hier gab es nichts. Nichts außer einer tristen Einöde mit kaum Einwohnern. Da wäre mir Russland tausendmal lieber gewesen. Immerhin gab es dort Wodka, den ich mit meinen neunzehn Jahren dort sogar legal trinken durfte.
Und was gab es in Finnland noch? Vermutlich eine Sauna an der anderen, in denen man Fleisch an Fleisch mit verschwitzten Fremden saß. Toll, ganz toll, wirklich!
Da ich nicht wusste, ob ich wissen durfte, wo ich mich befand, ließ ich mir nichts anmerken. Wobei – wäre es möglich, dass man mir einen neuen Ort zuteilte, wenn ich einfach ausplauderte, dass ich das Schild gesehen hatte?
Kurz wägte ich das Für und Wider ab, konnte mich aber nicht rechtzeitig entscheiden.
»Einsteigen«, sagte der düster dreinblickende Mann, dessen merkwürdiger Akzent mir erst jetzt auffiel, als er mir die Tür eines Vans öffnete.
Ein schwarzer Van? Sorry, aber ich dachte, wir sollten uns unauffällig verhalten? Wie unauffällig war bitte solch ein Wagen, noch dazu mit getönten Scheiben?
Wobei … wenn ich so darüber nachdachte, dann war es vermutlich doch die unauffälligste Variante, sich fortzubewegen. Schließlich würde niemand denken, dass das FBI so wenig Verstand besaß, weshalb man eher nach anderen Fahrzeugen Ausschau halten würde. Sehr gewieft, das musste ich zugeben.
Widerwillig stieg ich ein und wartete, dass wir losfuhren. Ich hörte, wie zwei Männer sich draußen in einer mir fremden Sprache unterhielten. Dann wurde der Kofferraum zugeschlagen und jemand nahm vorn hinter dem Lenkrad Platz. Es war nicht der Mann, der mich aus dem Flugzeug gebracht und zum Auto geführt hatte.
Eigentlich sollte ich mich geschmeichelt fühlen, dass man mir so viel Aufmerksamkeit schenkte und die Mitarbeiter alle paar Sekunden wechselten. Vielleicht war ich doch wichtiger, als ich zunächst gedacht hatte.
Eine dunkle Scheibe trennte mich von dem Fahrer, weshalb ich ihn nicht genauer erkennen konnte. Nur durch seine hellere Haarfarbe wusste ich überhaupt, dass es ein anderer Mann war.
Ohne sich vorzustellen oder auch nur ein einziges Mal zu mir nach hinten zu schauen, drückte er aufs Gaspedal. Wie im Film quietschten die Reifen und schlitterten über den vereisten Boden. Mein Magen schlug Saltos, als ich die kahlen Bäume an mir vorbeirasen sah. Für mein Empfinden fuhren wir viel zu schnell, aber was hätte ich schon dagegen unternehmen sollen? Mich beschweren wie ein bockiges Kleinkind? Nein, wirklich nicht. Also versuchte ich mich zu entspannen.
»Weißt du, wir haben Tove Jansson«, sagte der Fahrer so plötzlich in perfektem Englisch, dass ich beinahe einen Herzinfarkt erlitt. Er versuchte sich an klassischem Small Talk, aber ich hatte keine Ahnung, von wem er sprach. Sollte das irgendein Schauspieler sein, von dem man gehört haben musste?
»Du weißt schon«, setzte er nach, »die Schöpferin der Mumins.«
Noch immer hatte ich keinen Schimmer, was der Mann mir damit sagen wollte. Klang ein wenig nach einer finnischen Spezialität. »Was?«
»Na, die Mumins. Die sind auf der ganzen Welt bekannt. Die Amerikaner würden vielleicht sagen, sie sind so etwas wie das finnische ›Hello Kitty‹. Lass das aber hier niemanden hören, die Finnen sind superstolz auf ihre Mumins.«
Dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, war er total euphorisch. Ich hingegen wünschte mir, er wäre einfach wieder still gewesen, anstatt mich mit uninteressanten Informationen zu nerven. Ich lehnte mich zurück und platzierte den Kopf an der kalten, beschlagenen Scheibe.
In dem Moment wurde mir erst wirklich bewusst, was der Mann mir eben offenbart hatte.
»Wir sind in Finnland?«, versuchte ich so überrascht wie möglich zu klingen.
Ihm entfuhr ein Glucksen. »Ich habe gesehen, dass du voller Entsetzen das Flughafenschild angestarrt hast. Wozu sollte ich dir also etwas vormachen? Ich traue dir gerade genug Verstand zu, dass du nicht sofort deine Eltern oder Freundinnen anrufst.« Er hielt einen Moment inne. »Zumal du ohnehin kein Telefon hast.«
»Pah!«, entfuhr es mir lauter als beabsichtigt. »Was fällt Ihnen ein, mich zu beleidigen? Was glauben Sie bitte, wer Sie sind?«
Er warf einen schnellen Blick in den Rückspiegel. Seine durchdringenden bernsteinfarbenen Augen jagten mir einen Schauer über den Rücken und meine Armhärchen stellten sich instinktiv auf. Solch eine Farbe hatte ich noch nie gesehen und ich war mir nicht sicher, ob ich sie mir durch die...