Woodson | Alles glänzt | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Woodson Alles glänzt

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-492-99838-3
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-492-99838-3
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Woodsons Prosa beschwört Toni Morrison herauf.« People Mit sechzehn stellt Melody ihre Mutter zur Rede. Klagt sie an, weil Iris als Teenager mit ihr schwanger wurde. Weil Iris sie wollte und dann auch wieder nicht. Weil Iris aufs College ging, während Melodys Vater bei den Großeltern einzog. »Alles glänzt« fängt facettenreich ein, was Identität, Begehren, Ambition und sozialer Status für eine Familie bedeuten, in der die Gräuel der Sklaverei bis in die Gegenwart fortwirken. Selten wurde so lyrisch und leicht, so eindringlich und versöhnlich erzählt, was es heißt, in der Geschichte verwurzelt zu sein - und sich am Ende wie Melody aus ihr zu erheben. »?Alles glänzt? ist ein spektakulärer Roman, wie nur eine Legende ihn bewältigen kann.« Ibram X. Kendi, The Atlantic »Ein wirklich magisches Buch. Woodson gehört zu den wenigen Schriftstellerinnen, die einem das Gefühl geben, dass man alles schaffen kann - und darum alles versuchen sollte.« Ocean Vuong »Jacqueline Woodsons Blick ist absolut originell, ihre Stimme absolut einzigartig.« Ann Patchett »?Alles glänzt? wird flankiert von Tragödien, aber es wird nicht durch sie bestimmt. ... Woodson gleitet anmutig durch die Generationen und ihre Geschichten, sie tanzt zu der Musik der Zeit.« Times Literary Supplement »Diese ergreifende Geschichte über Entscheidungen und ihre Konsequenzen, über Geschichte und Erbe wird Mütter wie Töchter gleichermaßen berühren.« Tayari Jones, O: The Oprah Magazine »Ein scharf geschliffenes Juwel.« Sunday Times

Jacqueline Woodson, geboren 1963, zählt zu den bedeutendsten Jugendbuchautorinnen der USA. Sie hat mehr als zwanzig Jugendbücher geschrieben. Für »Brown Girl Dreaming« wurde ihr 2014 der renommierte National Book Award zugesprochen, 2018 erhielt sie mit dem Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis die weltweit höchstdotierte Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur. 2020 wird Jacqueline Woodson mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis geehrt, der auch der »kleine Nobelpreis« genannt wird. Woodsons Jugendbücher erscheinen regelmäßig auf der New York Times-Bestsellerliste. Wichtige Themen ihres Schreibens sind die afroamerikanische Geschichte, Klassenverhältnisse und Geschlechterhierarchien. »Ein anderes Brooklyn« ist ihr erster Roman für Erwachsene seit über zwanzig Jahren. Auch er stand auf der New York Times-Bestsellerliste und auf der Shortlist für den National Book Award. Jacqueline Woodson lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, New York.
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1


An jenem Nachmittag aber spielte ein Orchester. Das Sandsteinhaus von Musik erfüllt. Schwarze Finger, die Geigenbögen zogen und Cellosaiten zupften, dunkle Lippen, die das Mundstück eines Horns umschlossen, ein kleines braunes Mädchen mit hellrosa Nägeln an der Flöte. Malcolms jüngerer Bruder, mit glänzend dunkler Haut, der ernst die Mundharmonika blies. Eine breitschultrige Frau an der Harfe. Von meinem Platz auf der Treppe aus konnte ich durch die Fenster ein paar neugierige Weiße sehen, die vor dem Gebäude stehen blieben, um zuzuhören. Und als ich hinabstieg, wurde die Musik weicher, der Text in meinem Kopf ein Flüstern: I knew a girl named Nikki, I guess you could say she was a sex fiend.

Kein Sänger. Das kleine Mädchen kannte den Text nicht. Die breitschultrige Frau, die ihn einst laut unter der Dusche geschmettert hatte, war jetzt darüber hinweg und wollte sich nicht erinnern. Iris hatte nicht erlaubt, dass er gesungen wurde, und Malcolms Bruder hatte den süßen siebenjährigen Mund voll. Dennoch zogen mir die Wörter durch den Kopf, als stünde Prince höchstpersönlich neben mir. I met her in a hotel lobby masturbating with a magazine.

Und als ich einzog, waren da das Rosa und Grün der Studentinnenverbindung meiner Großmutter, das Schwarz und Gold der Alpha-Brüder meines Großvaters – graues Haar und gerade Rücken, strahlende Goldzähne und strahlender A-Phi-A!-Bariton. Die hohen Skee-wee-Rufe der Frauen als Antwort. In ihrem Zuruf lag ein weiterer Traum für mich. Natürlich wirst du eines Tages in eine Verbindung eintreten, sagte meine Großmutter mir immer wieder. Als Kind überraschte sie mich einmal mit einem in Geschenkpapier eingewickelten Hoodie, hellrosa mit knallgrünen Buchstaben darauf: »Meine Großmutter ist eine AKA«. Das ist einfach Familienerbe, Melody, sagte sie. Ich war in einer Verbindung, dein Großvater war in einer …

Iris nicht.

Stille. Dann, leise, ihre Lippen an meinem Ohr: Das liegt daran, dass deine Mama nicht Familienerbe ist.

Das, flüsterte ich zurück und zitierte das Motto ihrer Verbindung, ist eine ernste Angelegenheit.

Meine Großmutter lachte und lachte.

Sieh auf mich zurück an diesem letzten Tag im Mai. Endlich sechzehn und der Moment wie eine Hand, die mich der Welt entgegenstreckt. Regen, der gleißendem Sonnenschein weicht. Die Strahlen, durch die Buntglasscheiben gesprenkelt, springen vom Parkett ab. Die Musik des Orchesters schwebt durch die offenen Fenster und über den gesamten Block, als hätte sie schon immer in Brooklyns Luft gelegen. Sieh mich an. Mein geglättetes Haar in Wellen bis über die Schultern. Roter Lippenstift, kohlschwarze Augen. Das Kleid, Iris’ Kleid, ungetragen in ihrem Schrank bis zu diesem Augenblick. Damals, als es Zeit war für ihre Feier, war ich schon unterwegs. Damals, mit knapp sechzehn, erzählte ihr Bauch bereits eine Geschichte, die ein Fest niemals erzählen kann. Die übergroßen Anzughemden meines Großvaters untermalten den Babyspeck, der da noch ihre Wangen rundete, das feine Lanugohaar, das sich noch an ihren Nacken schmiegte. Dennoch, an jenem Nachmittag hätten es fünfzig Jahre sein können, die uns trennten – Iris am Fuß der Treppe, wie sie mich beobachtete. Ich, wie ich an ihr vorbeisah. Wo sah ich hin? Zu meinem Vater? Meinen Großeltern? Zu irgendwas. Irgendwem. Nur nicht zu ihr.

Früher an jenem Tag war sie in mein Zimmer gekommen, als ich mir gerade lange Strümpfe über die Schenkel streifte und mich abmühte, sie mit Strumpfhaltern an ein elfenbeinfarbenes Korsett zu knipsen. Auch die hatten einmal ihr gehört – ungetragen, noch in der Schachtel und in Seidenpapier gewickelt. Der empfindliche Strumpf, der dagegen ankämpfte, in den Halter gehakt zu werden – das hatte mir meine Großmutter beigebracht – und ihre Mutter ihr und immer so weiter; mein Fest das einzige, das eine Generation von Töchter unterweisenden Müttern übersprang. Das alles – das Korsetttragen, die Strumpfhalter, die Seidenstrümpfe – war so alt wie das Haus, das mein Vater und ich mit meinen Großeltern bewohnten. Dieses Ritual, ein Ausdruck von Klassenzugehörigkeit und Zeit und Übergang, taumelte zurück auf die Tage der Debütantinnenbälle, hatte sich gewandelt und gewandelt, bis es zu dem hier geworden war, zum Strumpfhalterkorsett einer vergessenen Ahnin – und einem Paar neuer Seidenstrümpfe, fein wie Staub.

Ich schätze, der Punkt geht an dich, sagte sie. Es gibt Prince.

Ich sah zu ihr auf. Am Vorabend hatte sie ihr Haar zu dichten Kringeln gedreht und festgesteckt, und als sie nun vor mir stand, fing sie an, die Haarnadeln zu lösen, sodass ihr die dicken rötlichen Strähnen in federnden Spiralen über die Ohren sprangen. Der Babyspeck war längst aus ihrem Gesicht verschwunden und durch umwerfend hohe Wangenknochen ersetzt worden. Ich drückte die Hand an mein eigenes Gesicht, spürte die gleichen Knochen unter der Haut.

Ich wusste nicht, dass das ein Wettstreit ist, Iris.

Einst, vor langer Zeit, war sie Mommy, und ich hielt ihren Hals, ihre Arme, ihren Bauch ganz fest, mit Babyhändchen voller Grübchen. Das weiß ich noch. Wie ich mich nach ihr reckte und reckte und reckte. Mommy. Mommy. Mommy.

Das Kleid, weiß und ungetragen, lag ausgebreitet neben mir auf dem Bett. Dahinter ein gerahmtes Poster vom Rage-Against-the-Machine-Konzert 1997. Mein Vater und ich waren hingegangen, weil Wu-Tang als Vorband gespielt hatte. Da war ich zwölf, und wir zwei schrien und rappten und jubelten so heftig, dass wir am nächsten Tag beide zu Hause blieben und heiße Zitrone mit Honig tranken, um unsere wunden Kehlen zu schonen. Das Poster war professionell gerahmt – rote Buchstaben in einem grauen Passepartout, der übergroße schwarze Rahmen nahm die gedeckten Farben des Schwarz-Weiß-Fotos auf. Daneben ein weiteres Poster. Würde jemand verlangen: Wähl zwischen deiner Mom und deinem Dad, würde ich nicht einmal blinzeln. Nicht stottern. Ich würde losrennen wie ein kleines Kind und mich meinem Daddy in die Arme werfen.

Scheint so, als wäre mittlerweile alles ein Wettstreit. Irgendwann bin ich zu deiner Feindin geworden. Sie legte die Hand eng um ihre Kehle und ließ sie dort, strich sanft mit den Fingern über ihr Schlüsselbein, als wollte sie fühlen, ob es noch heil war. Ein goldenes Armband rutschte ihr übers Handgelenk. Winzige Diamanten funkelten im Licht. Ich schluckte, beneidete und bewunderte zugleich all die Arten, auf die das Wort hinreißend auf meine Mutter zutraf. Noch immer fand ich es seltsam, wie verschieden wir waren.

Ich hatte es aufgegeben, die Strümpfe in diese albernen Strumpfhalter zu fummeln, saß einfach nur da und starrte sie an, die Ellenbogen auf den Knien, mit schlaff herabhängenden Händen.

Ich kapier’s nicht. Das ist mein Fest, und du willst einfach nicht auf die Musik klarkommen. Deins hast du platzen lassen, weißt du noch …

Nein, das Baby in meinem Bauch hat meins platzen lassen. Weißt du noch?

Lass das, Iris. Dann, wie schon so oft, entglitten mir kurz die Worte. Ich sah sie fallen … Nein. Sich verflüchtigen, aus der Luft zwischen uns. Verflüchtigen. Das Wort war immer wieder in meinen Vorbereitungstests für die Unizulassung aufgetaucht, bevor es hier in diesem Zimmer landete. Zwischen meiner Mutter. Und mir. Lass das. Ich habe nicht darum gebeten, geboren zu werden. Ich habe nicht gesagt … ich habe nicht gesagt: Mach das, was du mit Dad gemacht hast. Ihr hättet warten können.

Iris sah mich an und hob eine Braue. Du willst doch jetzt sicher kein Enthaltsamkeitsgespräch mit mir führen, oder?

Hättet ihr machen können. Gab ja keine Eile, das zu tun, was ihr getan habt.

Du meinst Sex? Kannst du es wirklich nicht einmal aussprechen? Sex, Melody. Es sind nur drei Buchstaben.

Kann ich schon. Aber ich muss es jetzt halt nicht.

Und wenn wir … gewartet hätten, wie du sagst. Wo wärst dann du?

Ich könnte mir diese Welt ohne dich nicht vorstellen.

Was stört dich dann?

Sie kam zum Bett, setzte sich auf die andere Seite des Kleides und strich sehnsüchtig mit der Hand darüber. Um den Ärmelsaum liefen gehäkelte weiße Blumen. Die abnehmbare Schleppe bestand aus Seiden- und Satinbahnen. Die Schneiderin hatte damals monatelang an dem Kleid gearbeitet, bis meine Großeltern herausfanden, dass Iris schwanger war. Als man es Iris allmählich ansah, war das Kleid so gut wie fertig und bezahlt.

Ich weiß nicht …, sagte sie mehr zu dem Kleid als zu mir. Es ist wegen Prince. Wegen meinen Eltern. Wegen deinem Vater. Wegen mir. Wegen dir, die du jetzt schon sechzehn bist. Wo sind all die Jahre hin? Es ist verrückt.

In ihrer Stimme war ein Stocken, das ich nicht hören wollte. Mit dem ich mich nicht auseinandersetzen wollte. Nicht jetzt. Nicht an meinem Tag.

Das ist doch nur Prince, verfickt noch...



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