Woolf | Zum Leuchtturm | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Woolf Zum Leuchtturm


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-311-70446-1
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-311-70446-1
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Ehepaar Ramsay, ihre acht Kinder und mehrere Hausgäste verbringen den Sommer in ihrem Landhaus auf der schottischen Isle of Skye. James, der Jüngste, wünscht sich nichts sehnlicher, als mit dem Boot zum Leuchtturm hinauszufahren. »Natürlich, wenn es schön wird«, versichert Mrs Ramsay. »Aber es wird nicht schön«, erklärt Mr Ramsay - und macht alle Hoffnung des Sechsjährigen erbarmungslos zunichte. Zehn Jahre und der ganze Erste Weltkrieg vergehen, bis die Fahrt stattfinden kann.

In Zum Leuchtturm zeichnet Virginia Woolf auf meisterhafte Weise das innere Erleben von einer Handvoll Figuren an wenigen Tagen in den Jahren 1910 und 1920 nach, erforscht Machtverhältnisse in Familienbeziehungen und zwischen den Geschlechtern und nähert sich ihren eigenen Kindheitserinnerungen.

Woolf Zum Leuchtturm jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


I Das Fenster


1


»Ja, natürlich, wenn es morgen schön ist«, sagte Mrs Ramsay. »Aber dann musst du zeitig aus den Federn«, fügte sie hinzu.

Für ihren Sohn waren diese Worte eine außerordentliche Freude, als stünde damit fest, dass die Unternehmung stattfinden würde und das Wunderbare, nach dem er sich, seit Jahren und Jahren, so schien es ihm, gesehnt hatte, nun, nach dem Dunkel einer Nacht und einem Tag Bootsfahrt, zum Greifen nahe wäre. Und da er schon jetzt, mit seinen sechs Jahren, zur großen Sippe derer gehörte, die ein Gefühl nicht vom anderen zu trennen wissen und hinnehmen müssen, dass Zukunftsaussichten mit ihren Freuden und Kümmernissen die nächsten Dinge des täglichen Lebens überschatten, da für solche Menschen schon in frühester Kindheit jede Drehung im Räderwerk der Empfindungen die Kraft besitzt, den Augenblick, den sie verdüsternd oder lichtstrahlend trifft, ganz und gar zu durchdringen und erstarren zu lassen, verlieh James Ramsay, der auf dem Fußboden saß und Bilder aus dem Katalog der Army & Navy Stores ausschnitt, bei den Worten seiner Mutter dem Bild eines Kühlschranks himmlische Glückseligkeit. Es wurde von Freude umhüllt. Die Schubkarre, der Rasenmäher, das Rauschen der Pappeln, gilbende Blätter vor dem Regen, das Krächzen von Krähen, das Tappen von Besen, Kleidergeraschel – all das war so farbig und deutlich in seiner Vorstellung, dass er schon seinen privaten Code, seine Geheimsprache, hatte, obwohl er mit seiner hohen Stirn und den zornig funkelnden blauen Augen, makellos ehrlich und rein, das Abbild starrer und unnachgiebiger Ernsthaftigkeit zu sein schien und beim Anblick menschlicher Unzulänglichkeit oftmals die Stirn runzelte, sodass seine Mutter, als sie ihn säuberlich die Schere um den Kühlschrank herumführen sah, ihn sich ganz in Rot und Hermelin auf dem Richterstuhl vorstellte oder als Leiter einer ebenso ernsten wie bedeutsamen Mission in einer Staatskrise.

»Es wird aber«, sagte sein Vater, als er vor der Fenstertür stehen blieb, »nicht schön sein.«

Wäre eine Axt zur Hand gewesen, ein Feuerhaken oder sonst irgendeine Waffe, die ein Loch in seines Vaters Brust hätte reißen und ihn töten können, jetzt auf der Stelle, James hätte danach gegriffen. So enorm waren die Empfindungen, die Mr Ramsay durch seine bloße Gegenwart in seinen Kindern auslöste, wenn er wie jetzt, schmal wie ein Messer und scharf wie dessen Schneide, spöttisch grinsend dastand, nicht nur weil es ihm Spaß machte, seinen Sohn zu enttäuschen und seine Frau lächerlich zu machen, die doch in jeglicher Hinsicht zehntausendmal besser war als er (dachte James), sondern auch aus verstohlenem Stolz auf die Treffsicherheit seines Urteils. Was er sagte, war richtig. Es war immer richtig. Er war keiner Unwahrheit fähig, deutelte niemals an Tatsachen herum, änderte niemals ein unangenehmes Wort zur Freude oder zu Gefallen irgendeines sterblichen Wesens, schon gar nicht seiner eigenen Kinder, die, da sie seinen Lenden entsprungen waren, von klein auf begreifen sollten, dass das Leben schwierig war, Tatsachen nicht mit sich handeln ließen und die Fahrt zu jenem sagenhaften Land, auf der unsere hellsten Hoffnungen erlöschen und unsere gebrechlichen Schiffe im Finstern zerschellen (hier straffte sich Mr Ramsay und richtete seine zusammengekniffenen kleinen blauen Augen auf den Horizont), vor allem anderen Mut, Wahrhaftigkeit und Hartnäckigkeit brauchte.

»Vielleicht wird es ja doch schön – ich glaube, dass es schön wird«, sagte Mrs Ramsay und drehte den rötlich braunen Strumpf, an dem sie strickte, ungeduldig zu einer Spirale. Wenn sie ihn heute Abend fertigbekam und sie morgen schließlich doch zum Leuchtturm fuhren, sollte ihn der Leuchtturmwärter für seinen kleinen Jungen haben, bei dem Verdacht auf Hüfttuberkulose bestand; zusammen mit einem Packen alter Zeitschriften, etwas Tabak und was sie sonst noch finden konnte an Dingen, die niemand brauchte, die bloß im Zimmer herumlagen, um sie diesen armen Kerlen zu schenken, die sich doch zu Tode langweilen mussten, wenn sie den ganzen Tag so dasaßen und nichts zu tun hatten, als die Lampe blank zu reiben, den Docht zu stutzen und ihr winziges Fleckchen Garten zu harken; etwas also, um sie aufzumuntern. Denn wie würde man selbst das wohl finden, einen ganzen Monat lang und vielleicht noch länger bei stürmischem Wetter an einen Felsen, nicht größer als ein Tennisplatz, gefesselt zu sein?, fragte Mrs Ramsay, weder Briefe noch Zeitungen zu bekommen und keine Menschenseele zu erblicken; sofern man verheiratet ist, seine Frau nicht zu sehen und nicht zu wissen, wie es den Kindern geht – ob sie womöglich krank sind, ob sie hingefallen sind und sich Arme oder Beine gebrochen haben; immer nur zu sehen, wie sich die gleichen öden Wellen brechen, Woche um Woche, und dann, wie ein furchtbarer Sturm aufkommt und die Fenster mit Gischt bedeckt sind und Vögel gegen die Lampe geschleudert werden und der ganze Turm schwankt und man nicht mal die Nase hinausstecken mag, aus Angst, ins Meer gefegt zu werden? Wie würde man selbst das wohl finden?, fragte sie und meinte damit vor allem ihre Töchter. Deshalb, fügte sie in merklich verändertem Ton hinzu, müsse man ihnen mitbringen, was man nur könne, um ihnen das Leben angenehmer zu machen.

»Genau nach Westen«, sagte der Atheist Tansley und hielt seine dürren Finger gespreizt, sodass der Wind hindurchblasen konnte; denn er nahm an Mr Ramsays Abendspaziergang teil, auf und ab, auf und ab über die Terrasse. Das hieß, dass der Wind aus einer Richtung kam, die für die Landung am Leuchtturm denkbar ungünstig war. Er sagte, das gestand Mrs Ramsay sich ein, meist unangenehme Dinge; es war gehässig von ihm, die Bemerkung einzustreuen und James nur noch mehr zu enttäuschen; trotzdem duldete sie nicht, dass man sich über ihn lustig machte. Den »Atheisten« nannten sie ihn; den »kleinen Atheisten«. Rose machte sich über ihn lustig; Prue machte sich über ihn lustig; Andrew, Jasper, Roger machten sich über ihn lustig; sogar der alte Badger, der keinen einzigen Zahn mehr hatte, schnappte nach ihm, weil er (wie Nancy es ausdrückte) der hundertzehnte junge Mann war, der ihnen bis hinauf zu den Hebriden nachgelaufen war, wo es doch so viel netter war, unter sich zu bleiben.

»Unsinn«, sagte Mrs Ramsay in strengem Ton. Abgesehen von der Angewohnheit zu übertreiben, die die Kinder von ihr hatten, und der stillschweigenden Feststellung (die berechtigt war), dass sie zu viele Leute einlud und nun sogar einige im Ort unterbringen musste, konnte sie Unhöflichkeit gegen ihre Gäste nicht vertragen, besonders gegen junge Männer nicht, die arm wie Kirchenmäuse waren, »ungemein fähig«, wie ihr Gatte sagte, große Bewunderer von ihm, und für die Ferien herkamen. Tatsächlich nahm sie das ganze andere Geschlecht unter ihre Fittiche; aus Gründen, die sie nicht erklären konnte, weil sie ritterlich waren und tapfer, weil sie Verträge aushandelten, in Indien herrschten, das Finanzwesen kontrollierten; schließlich auch, weil sie ihr gegenüber eine Haltung einnahmen, die jede Frau als angenehm empfinden musste, irgendwie vertrauensvoll, kindlich, ehrerbietig, was eine alte Frau bei einem jungen Mann akzeptieren konnte, ohne ihre Würde zu verlieren, und der Himmel strafe das Mädchen – gebe Gott, dass ein solches nicht unter ihren Töchtern war! –, das nicht dessen Wert und alles, was dazugehörte, bis ins Mark spürte.

Mit Strenge wandte sie sich Nancy zu. Er sei ihnen nicht nachgelaufen, sagte sie, er sei eingeladen worden.

Es musste ein Ausweg aus alldem gefunden werden. Vielleicht, so sagte sie sich seufzend, gab es einen einfacheren Weg, einen weniger beschwerlichen. Wenn sie in den Spiegel blickte und ihr graues Haar sah, die eingefallenen Wangen, mit fünfzig, dachte sie, vielleicht hätte sie geschickter mit allem umgehen können – mit ihrem Mann, mit dem Geld, mit seinen Büchern. Aber was sie selbst betraf, so würde sie nie auch nur für eine einzige Sekunde ihre Entscheidung bereuen, Schwierigkeiten ausweichen oder ihre Pflichten vernachlässigen. Sie war nun furchterregend anzusehen, und nachdem sie so streng über Charles Tansley gesprochen hatte, wagten ihre Töchter – Prue, Nancy, Rose – nur verstohlen von ihren Tellern aufzublicken und mit den ketzerischen Vorstellungen zu liebäugeln, die sie sich für ihr eigenes Leben erdacht hatten, das anders wäre als ihres; ein Leben in Paris etwa; ein wilderes Leben; nicht von der Rücksicht auf einen Mann bestimmt; denn in ihrer aller Gedanken war ein Zweifel an Ehrerbietung und Ritterlichkeit, an der Bank of England, der Herrschaft in Indien, an beringten Fingern und Spitze; wenn auch alldem für sie etwas vom Wesen der Schönheit anhaftete, die sich in ihren Mädchenherzen mit dem Eindruck von Männlichkeit verband, sodass sie, wenn sie unter den Augen ihrer Mutter bei Tisch saßen, voll Ehrfurcht auf diese seltsame Strenge blickten, diese maßlose Höflichkeit – so hebt eine Königin den schmutzigen Fuß eines Bettlers aus dem Kot, um ihn zu waschen –, während ihre Mutter sie so ungeheuer streng wegen dieses elenden Atheisten schalt, der ihnen bis hinauf zur Isle of Skye nachgelaufen war – oder, um es genau auszudrücken, dorthin eingeladen worden war.

»Morgen kann man nicht anlegen beim Leuchtturm«, sagte Charles Tansley, der mit ihrem Gatten vor der Fenstertür stand, und schlug die Hände zusammen. Jetzt hatte er wirklich genug gesagt. Sie wünschte, die beiden möchten James und sie in Frieden lassen und ihr Gespräch wieder aufnehmen....


Woolf, Virginia
Virginia Woolf (1882–1941) gilt als Englands größte Autorin der Moderne. Ihre Romane werden in einem Atemzug mit James Joyce und Marcel Proust genannt, zudem verfasste sie zahllose Essays und hinterließ umfangreiche Tagebücher. Obwohl Tochter einer wohlhabenden Intellektuellen-Familie – Thomas Hardy und Henry James gingen in ihrem Elternhaus ein und aus – hat sie nie eine Schule, geschweige denn eine Universität besucht. 1917 gründete sie gemeinsam mit ihrem Mann Leonard den Verlag The Hogarth Press, in dem auch »Ein Zimmer für sich allein« erschien. Als Opfer sexuellen Missbrauchs in der Familie, litt sie zeitlebens unter wiederkehrenden schweren Depressionen. Am 28. März 1941 fand ihr Mann einen Brief auf dem Kaminsims, der mit den Zeilen begann: »Liebster, ich fühle deutlich, dass ich wieder verrückt werde ...« Virginia Woolfs Leiche wurde in einem nahegelegenen Fluss entdeckt.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.