E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Wunnicke Selig & Boggs
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-949203-20-6
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Erfindung von Hollywood
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-949203-20-6
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christine Wunnicke, geboren 1966, lebt in München. Sie wurde u.?a. mit dem Bayerischen Staatsförderpreis für Literatur, dem Tukan-Preis und dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. Bei Berenberg erschienen ihre Romane 'Der Fuchs und Dr. Shimamura' (2015) und 'Katie' (2017), die beide für den Deutschen Buchpreis nominiert waren (Longlist), und 'Die Dame mit der bemalten Hand' (2020), der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, sowie, im Taschenbuch, die Novelle 'Nagasaki, ca. 1642' (2020).
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WILLIAM N. SELIG in »Commercial Bioscope News and Gazette«, 1908
Es ist aktenkundig, dass es in Independence, Missouri, am 6. Mai 1842, einem Freitag, in Sturzbächen regnete, weshalb die Familie Boggs schon zur Abendbrotzeit die Lampen hatte anzünden müssen, weil man sonst nicht die Hand vor den Augen sah. Sogar der Hund war hereingekommen. Unter der Veranda stand das Wasser.
Senator Lilburn W. Boggs, seine Frau Panthea und acht oder neun ihrer Kinder verzehrten, nach dem Segen, Pfannkuchen mit Kompott. Sie saßen still um den Tisch auf ihren festgelegten Plätzen und aßen sachlich, hungrig, gesittet, aber nicht vornehm; die Kinder, selbst die kleinsten, ahmten mit großem Erfolg den Rhythmus von Löffeln, Kauen und Schlucken der Eltern nach. Bald war die Mahlzeit beendet und Pantheas Mädchen räumte ab. In der Tür trat sie unbemerkt nach dem Hund.
Das Haus, ein gediegenes und bescheidenes Blockhaus, war etwas auswärts gelegen und stand vereinzelt, mitten auf dem verwaisten Bauplatz für die Stadt Zion der Heiligen der Letzten Tage. Dass die Familie Boggs ihr Heim hier errichtet hatte, kam manchem ein wenig absichtlich vor: In seiner Amtszeit als Staatsgouverneur hatte Lilburn Boggs vor nicht allzu langer Zeit dafür Sorge getragen, dass dieses Zion ein mormonisches Hirngespinst blieb, statt in Jackson County die Welt und Gott zu beleidigen. Er hatte, so der Wortlaut, . Für dieses Dekret ist der sechste Gouverneur von Missouri noch heute ein wenig berühmt.
So waren sie denn fort, die Mormonen, und es hatte sich angeboten, auf ihrem Flurstück zu bauen. Denn die Stadt Independence, fand Mr. Boggs, war ein Dreckskaff ohne Vernunft und Gesetz, in dem man Töchter zumindest nicht aufziehen mochte; man lebte im Grünen viel besser.
Nach dem Essen verfügte sich der Senator in die Wohnstube, um in seinem Sessel die Zeitung zu lesen. Eine kleine Tochter, sechs Jahre alt, schaukelte den Säugling in der Wiege. Die Fensterscheiben waren schwarz, man hatte die Vorhänge noch nicht geschlossen, das Kind bestaunte die dicken Regentropfen, die erst festsaßen wie Perlen und dann langsam das Glas hinabflossen und sich einander näherten und sich vereinten und zusammen weiterflossen, erst dick, dann dünner, im Lichtschein silbern, im Schatten weiß. Die Boggses, Vater und Tochter, spiegelten sich fahl in den Scheiben, graue Gesichter, graues Haar. Man konnte nicht sehen, was draußen war. Hinter den Fenstern kam ein zweites Zimmer, ein Zimmer ohne Farben, ein Geisterzimmer oder einfach ein Mumpitz, wie Vater das nannte, der immer recht hatte und fürs Schauerliche nichts übrig. Vielleicht überlegte das Mädchen, dessen Name nicht aktenkundig ist, ob sie den Säugling aus der Wiege nehmen und zum Glas halten sollte, ob er sich wohl ebenso grau spiegelte wie Vater und sie; vielleicht fröstelte sie; vielleicht formte sie mit den Lippen einen Schutzengelvers; vielleicht verfing sich ihre Zopfquaste bei jedem Wippen der Wiege für einen Augenblick in der Armrüsche des Kittelkleids.
Senator Boggs hatte sich über das Politische bereits vor dem Abendbrot erzürnt und widmete sich nun den Kleinanzeigen. Jemand versteigerte Möbel, aus Mahagoni und geriegeltem Ahorn, ein Pianoforte, ein Britannia-Teeservice. Jemand musste umständehalber einen Freiheitsbaum verkaufen, zwanzig Fuß hoch, samt Spitze, Kugel und Wimpel. Jemand suchte einen aufgeweckten Knaben für die Brausetheke einer Eisdiele. Das war alles weit weg, in New York, bei den verzärtelten Yankees. Da wollte Mr. Boggs nicht sein. Keine Eisdiele in Missouri. Kein verfluchter Freiheitsbaum im Garten von Senator Boggs. Wir brauchen endlich unsere eigenen Zeitungen, dachte Mr. Boggs. Er erzürnte sich schon wieder. Sein Daumen glitt über die Kleinanzeigen, er rieb sie, radierte sie aus, Zeitungen hier für uns im Süden ohne Mumpitz und Humbug, Eisdiele, pah, Vergnügungssucht, murrte Senator Boggs.
Ein schwarzes Fenster, Tropfen in Silber und Weiß. Das Licht blakte. Vielleicht tickte eine Uhr. Das Mädchen an der Wiege bückte sich, um den Säugling neu festzustecken, denn es war kühl geworden. Dann schoss jemand vom Garten her das Fenster entzwei.
An dieser Stelle musste Francis W. Boggs die Aufnahme abbrechen. Er schrie Stopp und alles hielt an. Das Kind an der Wiege, der Mann im Sessel, der Mormonenscherge vor dem Fenster mit dem großen deutschen Schrotrevolver im Anschlag und der Gehilfe in Schwarz, der die Fensterscheibe hielt, um sie im rechten Moment fallen zu lassen, damit es Scherben gäbe; alle erstarrten geübt und standen artig wie Puppen, denn wieder war eine Wolke vor die Sonne gezogen über dem Glasdach der Selig Polyscope Lichtspielateliers, und wieder war es zu dunkel zum Drehen, und wieder wollte Mr. Boggs einen Schnitt sparen, an einem typisch durchwachsenen Herbsttag in Chicago im Jahr 1907.
Nur der Kameraoperator kurbelte weiter, traumverloren, wie ein Leierkastenmann; kein Meister seines Gewerbes. Mr. Boggs knuffte ihn. Da hielt auch er an und arretierte die Kurbel. Er begann wieder zu summen und nahm Schnupftabak. Zum dritten Mal in einer Stunde hatte sich die Sonne verfinstert. Der Spielleiter Boggs fühlte die ersten Vorboten eines Migräneanfalls.
Er legte den Kopf in den Nacken. Die Wolke sah immer gleich aus. Sie saß auf dem Glasdach wie ein Tier, wie ein Büffel oder Bär, wie ein indianischer Fluch. Wenn er Migräne bekam, behelligten Mr. Boggs poetische Bilder.
Die Wolke saß genau über seiner Szene. Drüben bei Mr. Golden, der mit in den letzten Zügen lag, war es noch hell genug. Ein Goldkind, Mr. Golden. Gestern war er wieder aus Colonel Seligs Büro gekommen, in das der Neuling Boggs nie hinein durfte.
Der Mormonenscherge mit seiner Kanone war in die Hocke gegangen, das tat er immer, wenn er stillhalten sollte, Kreuzschmerzen, Kreislauf, den will ich nie wieder sehen, dachte Boggs, ich streiche ihn eigenhändig von der Liste, und von der heutigen Gehaltsliste auch. Die Migräne begann sein Gesichtsfeld zu verengen wie eine Lochblende. Heiße Stirnbäder hatte der Arzt empfohlen, Ammoniak, irgendetwas mit Senf, und dass man bei der Stuhlentleerung nie drängen solle, und dabei hatte er dauernd durchblicken lassen, dass das im Normalfall nur Weiber haben.
Francis Boggs wusste plötzlich nicht mehr, warum er das Attentat auf seinen eigenen Großvater verfilmte, und fand die Idee sehr befremdlich.
Der Senator im Sessel saß reglos, die Zeitung in Händen. Das Mädchen an der Wiege stand noch immer gebückt, starr wie eine Wachspuppe. Sie war bei der Polyscope, seit sie krabbeln konnte, sie kannte die Wolken, sie wusste, was Stillhalten heißt. (Meine Tante, dachte Boggs. Welche Tante? Teufel, eine meiner Tanten als Kind!) Die Wolke schwoll ein wenig an und zog sich ein wenig zusammen und bewegte sich nicht von der Stelle. Etwas knackte in Francis Boggs’ Nacken.
Wenn man mit der Straßenbahn den Irving Park Boulevard entlangfuhr, sah man das Glasdach von weitem. Es überragte das ganze Viertel. Ja was ist denn das für ein kolossales Treibhaus, fragten Fremde, ja was zieht man denn da Schönes? Und die Einheimischen sagten, da schauen Sie, das S in der Raute, das ist das Schild der Selig Polyscope, und das Große aus Glas, das ist das Treibhaus der Polyscope, wo man die Schmonzetten fürs Nickelodeon zieht. Und die ganze Straßenbahn lachte. Dann fuhr sie weiter. Jetzt sah man die Außenkulissen. Die Rocky Mountains überragten den Zaun. Der Burenkrieg sprengte das Gelände und ergoss sich über die Bürgersteige. Da waren Pferde und Kamele und halbtote Löwen und Palmen aus Pappe und Masten ohne Schiffe und Eisberge, und überall wimmelten die verfluchten Japaner in den Eskimokostümen, denn sie entliefen tagtäglich, selbst wenn Mr. Golden persönlich die Peitsche schwang. Und da lachte die Straßenbahn herzlich.
Vergnügungssucht, dachte der Spielleiter Boggs unter der Wolke über dem Glasdach der Selig Polyscope. Meist ging er zu Fuß zur Arbeit. Die Migräne baute Zacken in die Luft, Burgen, Schießscharten. Mr. Golden schrie »gestorben, gestorben«, sein Kameramann verbeugte sich fast, ein Fräulein vom Schnitt lief zum Schneideraum, es galoppierte mit wehendem Haar vor lauter Beflissenheit, und Francis Boggs, der Enkelsohn des sechsten Gouverneurs von Missouri und mit siebenunddreißig Jahren Jungspielleiter bei Selig, bekam wieder dieses Gefühl, das die...




