E-Book, Deutsch, 560 Seiten
Wylutzki / Kettlitz Das Science Fiction Jahr 2019
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-947380-69-5
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 560 Seiten
ISBN: 978-3-947380-69-5
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf posthumanistischen Wegen – der Rundgang durch die Science Fiction 2019
"Das Science Fiction Jahr" ist ein Kompendium, das seit 1986 in ununterbrochener Folge erscheint – erst im Heyne Verlag unter der Schirmherrschaft von Wolfgang Jeschke, dann unter Federführer Sascha Mamczak, und seit 2015 im Golkonda Verlag, ab 2020 bei Hirnkost. Das Science Fiction Jahr 2019 blickt auf das zurück, was die Science Fiction in Buch, Film, Spiel und Allgemeinen im letzten Jahr zu bieten hatte.
Ein spezieller Fokus wird in dieser Ausgabe auf der Frage "Was ist eigentlich posthumane Science Fiction?" liegen. In Essays, Interviews, aber auch in unseren Rückblicken wird den Leser*innen das Thema immer wieder begegnen. Buchrezensionen, eine Bibliographie der in Deutschland erschienenen SF, eine Übersicht der vergebenen Genre-Preise sowie ein Nekrolog runden das Jahrbuch ab.
Mit Beiträgen von Lars Schmeink, Judith Vogt, Karlheinz Steinmüller, Wolfgang Neuhaus, Mirko Strauch u. v. m.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Hans Frey James Tiptree Jr.: Science Fiction zwischen Entfremdung, Liebe und Tod James Tiptree Jr. war eine Kunstfigur, erfunden von der US-amerikanischen Psychologin, Malerin und Autorin Dr. Alice B. Sheldon (1915–1987). Unter diesem Pseudonym avancierte sie im gestandenen Alter von 53 Jahren zu einer der wichtigsten SF-Autorinnen des 20. Jahrhunderts, die nicht nur den Frauen in der SF zum Durchbruch verhalf, sondern auch neue Inhalte und ein hohes literarisches Niveau in das Genre einbrachte. 1. Leben Bevor Alice Sheldon (geborene Bradley) zum SF-Literaturstar aufstieg, lag bereits ein bewegtes Leben hinter ihr. Sie wuchs als Einzelkind von wohlhabenden Eltern in Chicago auf. Schon mit sechs Jahren unternahm Familie Bradley eine Afrikaexpedition in den Kongo. Zwei weitere Reisen nach Afrika und Asien sollten im jugendlichen Alter folgen. Mit 18 heiratete sie in einem nicht wirklich ernst gemeinten Überraschungscoup Bill Davey. Es folgten einige wilde Jahre in Berkeley (Kalifornien), die mit dem Scheitern der sowieso brüchigen Ehe endeten. Nachdem sie zu ihren Eltern in Chicago zurückgekehrt war, arbeitete sie vorübergehend als Kulturredakteurin, um dann spontan in das neugegründete Frauencorps der US-Army einzutreten. Sie nahm aktiv im Bereich »Bildaufklärung« am Zweiten Weltkrieg teil, war zeitweise im Pentagon tätig und kam im Armeeauftrag nach Europa und nach Deutschland. Hier lernte sie Huntington »Ting« Sheldon kennen und heiratete ihn. Diese Ehe hielt bis zu ihrem Lebensende. Nach dem Abschied vom Militär gab es für das Ehepaar drei Jahre lang ein kurioses Zwischenspiel als Kükenzüchter auf einer Farm. Als beide das Angebot erhielten, für die neugegründete CIA zu arbeiten, kehrten sie dem Landleben recht willig den Rücken. Während »Ting« bis zu seiner Pensionierung für den Auslandsgeheimdienst in leitender Position tätig war, wandte sich Alice bereits nach drei Jahren vom dem als unbefriedigend empfundenen Job ab und stattdessen der Wissenschaft zu, promovierte, war jedoch auch damit nicht zufrieden. 1968 schickte sie einige ihrer Storys unter dem Pseudonym James Tiptree Jr. an bekannte SF-Magazine, die zu ihrer eigenen Überraschung die Erzählungen annahmen und veröffentlichten. Das war der Beginn einer steilen Schriftstellerkarriere, und der Erfolg hielt bis zum Schluss an. Übrigens: Acht Jahre lang konnte Alice Sheldon ihre Tiptree-Tarnung aufrechterhalten, welche man durchweg in der Szene und darüber hinaus für bare Münze nahm. Erst 1976 wurde ihre wahre Identität bekannt. Die Texte der Autorin erschienen aber weiterhin unter ihrem Decknamen Tiptree sowie in wenigen Fällen auch unter Racoona Sheldon. Ihre spätere Lebensphase wurde von vielen Reisen geprägt, aber auch durch die Arbeit als erfolgreiche SF-Autorin und eine bereits früher begonnene, umfassende Briefkorrespondenz mit fast allen männlichen Größen der damaligen SF-Szene, v. a. aber auch mit den neuen SF-Autorinnen Ursula K. Le Guin und Joanna Russ. Was sich bisher so glatt und rund angehört haben mag, war weder das eine noch das andere. Ein Leben lang hatte Alice Sheldon mit Depressionen, einer komplizierten Sexualität und einer Identitätssuche zu kämpfen, die ihre Vita unstet, unruhig und aufwühlend machten. Als sie merkte, dass es endgültig bergab ging (sie selbst spürte das Alter, und ihr Mann war faktisch erblindet und verfiel zunehmend), entschieden sich beide gegen ein quälendes Siechtum. Gemeinsam gingen sie 1987 in den Freitod. Alice und Huntington Sheldon, Januar 1946 2. Zum Werk Nach meiner Zählung hat Tiptree 70 Storys bzw. längere Erzählungen respektive Novellen und zwei Romane geschrieben. Schon an der Quantität lässt sich erkennen, dass sein literarischer Schwerpunkt auf der Kurzform lag. Die beiden Romane Tiptrees sind indes ohne jede Frage lesenswert und stehen klar über dem Niveau der gängigen SF, überragend sind sie – im Gegensatz zu vielen seiner Storys – jedoch nicht. Tiptree, der SF-Klassiker Thematisch setzt Tiptree klare Präferenzen. Als entschiedener Traditionalist der SF widmet er sich zu einem Großteil klassischen SF-Themen wie z. B. Weltraumabenteuern mit Space Opera-Charakter (»Glück ist ein wärmend Raumschiff«), Zeitreisen (»Oh kehre, selige Zeit, mir zurück«), Gesellschaften von Aliens (»Paradiesmilch«), Alien-Invasionen (»Hilfe«) und sense of wonder-Geschichten (»Mother in A Sky with Diamonds«; auch im Deutschen mit englischem Titel). Stets hebt er sie deutlich über den Level einschlägiger Pulp-Storys hinaus, indem er komplexe Inhalte und sprachlich-stilistische Brillanz hinzufügt. Immer wieder greift er auch humoristische Elemente auf, die unter anderem die Pulps persiflieren, aber nicht herabwürdigen. Obwohl man nicht selten auf düstere, dystopische Szenarien trifft (Gewalt und Todeserfahrung, Weltuntergänge – »Dr. Ains letzter Flug« –, Post Doomsday), scheut sich Tiptree ausdrücklich nicht, auch fortschrittsoptimistische Utopien zu schreiben (»Die Farbe von Neandertaleraugen«). Im Rahmen der Tiptree’schen Weltraum-SF sind die sogenannten First-Contact-Geschichten besonders wichtig. Ausgehend von der berühmten Story von Murray Leinster – »First Contact«, dt. »Erstkontakt« (1945) – begründete sich ein SF-Subgenre, das sich mit einem ersten Zusammentreffen von Menschen und Außerirdischen befasst. Alice, die schon in frühester Jugend auf ihren Afrikareisen ähnliches erlebt hatte, war fasziniert von dem Thema, sodass sie als Tiptree häufig darauf zurückkam (z. B. »Kollision« in Sternengraben). Es gibt mindestens 20 Tiptree-Storys, die um den First Contact kreisen. Tiptree, ein SF-Autor der natürlichen Evolution Bei der Themenwahl fällt auf, dass Tiptree sich praktisch nie mit der mechanisch-elektronischen Welt der SF beschäftigt. Computer, Roboter, künstliche Intelligenzen u. ä. sind entweder bloße Kulisse oder kommen erst gar nicht vor. Tiptree schreibt »biologische« SF, in der die natürliche Evolution und das Leben an sich dominieren. Dazu gehören auch die Storys, in denen andere Formen der Fortpflanzung imaginiert werden (»Dein haploides Herz«), oder seine Auseinandersetzung mit der Klon-Thematik und der Kryonik. Ebenso berührt der Autor das in der SF weitverbreitete Thema der Mutation im Sinne von paranormalen Fähigkeiten nur am Rande. Sporadisch tauchen Empathen und Telepathen auf, das war’s dann schon. Im gesamten Erzählwerk Tiptrees gibt es nur eine »echte« Mutantin, und zwar in der Story »Sie wartet auf alle Geborenen«. Weitere Ausnahme: Der Roman Die Mauern der Welt hoch. Hier haben Psi-Fähigkeiten einen zentralen Stellenwert. Selbiges gilt für Maschinen. Sie bleiben – in welcher Form auch immer – reine Instrumente und entwickeln keine eigenständige Existenz. Dennoch zollt er ihnen einen gewissen Respekt, weil er bei ihrer Beschreibung (z. B. Raumschiffe) eine Akribie an den Tag legt, die ihn streckenweise zu einem der harten SF verschriebenen Autor macht. Dasselbe gilt übrigens oft auch für biologische Vorgänge und für bestimmte politisch-soziale Schilderungen. Was die bei Tiptree eigentlich nicht existente Schnittstelle Mensch-Maschine betrifft, gibt es nur drei Ausnahmen. Das ist einmal das Robot-Schiff in »Schmerzweise«, das den menschlichen Protagonisten knechtet und missbraucht, und zum anderen – noch bemerkenswerter – die Story »Das eingeschaltete Mädchen«, in der der Autor einen von einem Konzern ausgebeuteten weiblichen Cyborg kreiert und damit das Subgenre des Cyberpunk vorwegnimmt. Schließlich gibt es in dem Roman Die Mauern der Welt hoch einen Megacomputer, mit dem eine negative Superintelligenz bezwungen werden kann. Trotzdem bleibt es richtig, dass Tiptree in der überwiegenden Zahl seiner Texte der biologischen Ausrichtung treu geblieben ist. Tiptree, der New Wave-Autor SF-Traditionalismus, hohe Qualität und Innovation sind für Tiptree keine Gegensätze. Der Antrieb, die SF zu erneuern und neues Terrain zu erschließen – ohne dabei ihre Wurzeln zu verleugnen –, ist bei ihm mit Händen zu greifen. In diesem Sinne ist Tiptree ein New Wave-Autor, ein Avantgardist, dessen Werke von Motiven leben (Entfremdung, Liebe, Sex, Tod), die es in dieser Form in der früheren SF nicht gegeben hat. Und er beweist, dass die New Wave wesentlich mehr ist als J. G. Ballard. Dass der Brite von seiner eigenen Erfindung überrollt werden würde, daran hat er wohl nie gedacht. Dazu bedurfte es wie in einer List der Vernunft unter anderem einer Frau, die dem »alten Macho« seine Grenzen aufzeigte. Aus meiner Sicht lassen sich drei Bereiche ausmachen, in denen sich Tiptrees avantgardistischer und innovativer Impetus besonders ambitioniert offenbart. 1) Feminismus An erster Stelle müssen die feministischen und genderorientierten Storys genannt werden, mit denen Tiptree eines seiner Grundanliegen fixiert (»Houston, Houston, bitte kommen!«). Natürlich schwingt das sogenannte Frauenthema in den meisten Geschichten Tiptrees immer irgendwo im Hintergrund mit, aber es gibt Erzählungen, die sich explizit damit befassen und das Patriarchat frontal angreifen (»Frauen, die man übersieht« oder »Die Screwfly Solution«). Das ist beabsichtigt, denn diese Erzählungen sollen innerhalb und außerhalb der Science Fiction eine politische Wirkung erzielen. Fragen über die Stellung und den Wert der Frau, zweifellos ein...