Yalom | Jeden Tag ein bißchen näher | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Yalom Jeden Tag ein bißchen näher

Eine ungewöhnliche Geschichte
Erscheinungsjahr 2015
ISBN: 978-3-641-18850-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine ungewöhnliche Geschichte

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-641-18850-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Reise in die Welt der Psychoanalyse!

Als Ginny Elkin, eine begabte und problembeladene junge Schriftstellerin, sich zu einer persönlichen Analyse bei dem Psychoanalytiker Irvin D. Yalom entschließt, treffen Therapeut und Patientin eine Übereinkunft: Jeder wird ein Tagebuch führen, in dem er minutiös festhält, wie ihre Arbeit vorankommt. Eine ungewöhnliche Therapie, in deren Verlauf ganz persönlich Fortschritte und Rückschläge geschildert werden.

Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine Romane wurden international zu Bestsellern und zeigen, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten und aufregendsten Geschichten bietet, wenn man sie nur zu erzählen weiß.
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Vorwort von Dr. Yalom


Es gibt mir jedesmal einen Stich, wenn ich in alten Terminkalendern die halbvergessenen Namen von Patienten finde, mit denen ich die zartesten seelischen Erfahrungen gemacht habe. So viele Menschen und gute Momente. Was ist aus ihnen geworden? Die zahlreichen Karteikästen und Berge von Tonbandaufzeichnungen in meinem Archiv erinnern mich oft an einen Friedhof: Menschenleben in klinische Aktendeckel gepreßt, Stimmen, deren Drama für immer stumm auf den elektromagnetischen Bändern gefangen ist. Die Umgebung dieser Zeugnisse erfüllt mich stets mit einem geschärften Bewußtsein für die Vergänglichkeit aller Dinge. Selbst wenn ich gänzlich in der Gegenwart befangen bin, spüre ich, wie das Phantom des Verfalls dort irgendwo lauert – ein Verfall, der die gelebten Erfahrungen letztlich zerstören wird, aber der gerade wegen seiner Unerbittlichkeit auch Schönheit und Intensität verleiht. Das Verlangen, von meiner Bekanntschaft mit Ginny zu erzählen, ist außerordentlich stark; die Möglichkeit, die Zerstörung hinauszuzögern, die Dauer unseres kurzen Zusammenlebens zu verlängern, fasziniert mich. Wieviel besser ist es, wenn ich weiß, daß diese Erfahrung im Bewußtsein des Lesers weiterbestehen wird, anstatt in den verlassenen Lagerhallen ungelesener Krankenberichte und nicht abgehörter Tonbänder gespeichert zu bleiben.

Mit einem Telefongespräch fing es an. Eine dünne Stimme teilte mir mit, daß sie Ginny hieße und gerade in Kalifornien angekommen sei. Einige Monate lang war sie bei einer Kollegin im Osten in Behandlung gewesen, die sie an mich verwiesen hatte. Da ich gerade erst von einem einjährigen Forschungsurlaub aus London zurückgekehrt war, hatte ich noch viel freie Zeit. Wir machten einen Termin für den übernächsten Tag.

Ich holte sie im Wartezimmer ab und führte sie über den Flur in mein Büro. Aber ich konnte offenbar so langsam gehen, wie ich wollte; denn wie die Frau eines Orientalen blieb sie stets einige lautlose Schritte hinter mir. Sie schien sich nicht selbst zu gehören, nichts paßte zusammen – ihre Haare, ihr Lächeln, ihre Stimme, ihr Gang, ihr Pullover, ihre Schuhe, alles war zufällig zusammengewürfelt, und es schien die Gefahr zu bestehen, daß alles – Haare, Gang, Glieder, Jeans und Armeesocken – wieder auseinanderfallen könnte. Was würde dann übrigbleiben? Vielleicht nur das Lächeln. Hübsch war sie jedenfalls nicht, egal, wie man die Teile zusammensetzte! Aber merkwürdig reizvoll. In Minuten hatte sie es geschafft, mir irgendwie zu verstehen zu geben, daß ich alles tun dürfe, daß sie sich gänzlich in meine Hand gäbe. Ich machte mir keine Sorgen deswegen. Damals schien das keine schwere Last zu sein.

Sie begann zu sprechen, und ich erfuhr, daß sie dreiundzwanzig Jahre alt und die Tochter einer ehemaligen Opernsängerin und eines Geschäftsmannes aus Philadelphia war. Sie hatte eine Schwester, die vier Jahre jünger war, und sie besaß schriftstellerische Begabung. Sie war nach Kalifornien gekommen, weil man ihr aufgrund einiger Kurzgeschichten die Teilnahme an einem einjährigen Autorenkursus in einem nahegelegenen College angeboten hatte.

Warum suchte sie Hilfe? Sie sagte, sie müsse die Behandlung fortsetzen, die sie im letzten Jahr begonnen habe. Und dann erzählte sie auf wirre und unzusammenhängende Weise allmählich die Schwierigkeiten, die sie im Leben hatte. Neben den Beschwerden, die sie ausdrücklich erwähnte, stellte ich während des Gesprächs noch verschiedene andere Problembereiche fest.

Zunächst ihr Selbstporträt, das schnell und atemlos erzählt wurde. Es war eine Litanei des Selbsthasses, in der einige treffende Metaphern die Akzente setzten. Sie ist in jeder Beziehung masochistisch. Ihr ganzes bisheriges Leben hindurch hat sie die eigenen Wünsche und Bedürfnisse vernachlässigt. Sie besitzt keine Selbstachtung. Sie hat das Gefühl, ein körperloser Geist zu sein, ein zwitschernder Kanarienvogel, der von Schulter zu Schulter hüpft, während sie mit ihren Freunden die Straße hinuntergeht. Sie bildet sich ein, daß sie nur als ätherisches Irrlicht von Interesse für andere sein könne.

Sie hat kein Selbstwertgefühl. »Ich muß mich auf das Zusammentreffen mit anderen Leuten vorbereiten«, sagt sie. »Ich präge mir ein, was ich sagen werde. Ich habe keine spontanen Empfindungen, das heißt, ich habe schon welche, aber nur in einem kleinen Käfig. Immer wenn ich herausgehe, habe ich Angst und muß mich vorbereiten.« Ihren Ärger nimmt sie nicht wahr und gibt ihm auch keinen Ausdruck. »Ich habe Mitleid mit den Leuten. Ich bin die reinste Verkörperung der Redensart: >Wenn man nichts Nettes über jemanden sagen kann, sagt man lieber gar nichts.‹« Sie kann sich nur an einen einzigen Fall erinnern, wo sie in ihrem erwachsenen Leben wirklich wütend geworden ist: vor einigen Jahren hat sie einmal einen Arbeitskollegen angeschrien, der sie herumkommandierte. Sie zitterte noch Stunden später. Sie hat keine Rechte. Es kommt ihr gar nicht in den Sinn, wütend zu werden. Dauernd fragt sie sich, ob die anderen sie mögen, aber nie, ob sie die anderen mag.

Die Selbstverachtung verzehrt sie. Eine innere Stimme verspottet sie ständig. Immer wenn sie sich für einen Augenblick vergißt und das Leben spontan ergreift, treibt diese lähmende Stimme sie abrupt in den Käfig ihrer Befangenheit zurück. Während des Gesprächs konnte sie sich kein einziges Wort des Stolzes erlauben. Kaum hatte sie den Autorenkurs erwähnt, erinnerte sie mich sofort daran, daß sie nur aufgrund ihrer Faulheit aufgenommen worden sei. Als sie gesprächsweise von dem Kursprogramm hörte, hatte sie sich nur deshalb beworben, weil eine formelle Bewerbung nicht nötig war. Sie brauchte bloß ein paar Geschichten einzuschicken, die sie zwei Jahre vorher geschrieben hatte. Über die vermutlich hohe Qualität der Erzählungen sagte sie natürlich nichts. Ihre literarische Produktion war allmählich geringer geworden, und sie befand sich jetzt im Stadium einer ernsten Schreibhemmung.

Alle Probleme ihres Lebens spiegelten sich in ihren Beziehungen zu Männern. Obwohl sie das dringende Bedürfnis nach einer stabilen Dauerbeziehung hatte, war sie niemals dazu in der Lage gewesen. Mit einundzwanzig war sie aus mädchenhafter Unschuld in sexuelle Beziehungen mit mehreren Männern gestolpert (sie hatte kein Recht, »nein« zu sagen) und klagte nun darüber, daß sie sich ins Schlafzimmer gestürzt habe, ohne das Vorzimmer von Flirt und Petting auch nur zu betreten. Sie mag den physischen Kontakt mit Männern, aber vermag sich sexuell nicht zu lösen. Sie hat Orgasmen beim Masturbieren erlebt, aber die spöttische innere Stimme stellt sicher, daß sie beim Geschlechtsverkehr fast nie einen Orgasmus hat.

Ihren Vater erwähnte Ginny fast nie, aber ihre Mutter schien sehr gegenwärtig. »Ich bin ein blasses Abbild meiner Mutter«, sagte sie. Sie waren sich ungewöhnlich nahe. Ginny erzählte ihrer Mutter alles. Sie erinnert sich, wie sie gemeinsam Ginnys Liebesbriefe gelesen und darüber gelacht haben. Ginny war immer dünn, sie mäkelte am Essen, und während ihrer Teenagerzeit hatte sie sich über ein Jahr lang so regelmäßig vor dem Frühstück erbrechen müssen, daß die Familie sich daran gewöhnt hatte, dieses Erbrechen als Bestandteil ihrer Morgentoilette zu akzeptieren. Sie aß immer viel, aber als sie klein war, konnte sie nur mit Mühe schlucken. »Ich aß eine ganze Mahlzeit, und am Schluß hatte ich alles im Mund. Dann versuchte ich, alles auf einmal herunterzuschlucken.«

Ginny hat schreckliche Alpträume, in denen sie vergewaltigt wird, meistens von einer Frau, aber manchmal auch von einem Mann. Ein häufig wiederkehrender Traum, in dem sie entweder eine riesige Brust ist, an die sich ganze Klumpen von Leuten klammern, oder sie selbst klammert sich an eine riesige Brust. Ungefähr vor drei Jahren begannen ihre Angstträume, bei denen sie nicht unterscheiden konnte, ob sie schlief oder wach war. Sie hat das Gefühl, daß sie durch das Fenster beobachtet und berührt wird; aber wenn ihr diese Berührung Lust zu bereiten beginnt, wandelt sich diese Empfindung in Schmerz, so als ob ihr die Brüste abgerissen würden. In all diesen Träumen gibt es eine weit entfernte Stimme, die sie daran erinnert, daß alles nicht wirklich geschieht.

Am Ende dieser Stunde war ich wegen Ginny ziemlich besorgt. Trotz mancher Stärken – sie hatte einen weichen Charme, Empfindsamkeit, Witz, einen hoch entwickelten Sinn für Komik und eine Begabung für verbale Metaphern – fand ich überall krankhafte Störungen: zuviel primitives Material, Träume, welche die Grenze zwischen Realität und Phantasie verdunkelten, vor allem aber eine merkwürdige Zerstreutheit, ein Verschwimmen der »Ich-Grenzen«. Sie schien sich nicht hinreichend von ihrer Mutter gelöst zu haben, und ihre Probleme beim Essen bedeuteten wohl einen schwachen und hilflosen Befreiungsversuch. Ich erlebte sie als gefangen zwischen den Schrecken kindlicher Abhängigkeit, die eine ständige Selbstentäußerung (d. h. dauernde Stagnation) verlangte, und einer vergeblichen Unabhängigkeit, die ihr aus Mangel an tieferem Selbstgefühl als starr und unerträglich einsam erschien.

Ich versuche mich nur selten an einer ausführlichen Diagnose. Aber ich weiß, daß Ginny wegen ihrer verwischten Ich-Grenzen, wegen ihres Autismus und Traumlebens von den meisten Klinikern als »schizoid« oder zumindest als »Borderline«-Fall1 bezeichnet würde. Ich wußte, daß sie ernsthaft gestört war und daß die Behandlung langwierig und nicht ohne Risiken sein würde, und ich hatte den Eindruck, daß sie schon viel zu vertraut mit ihrem Unbewußten war und daß ich sie eher in die Wirklichkeit als noch tiefer in diese Unterwelt hineinführen müßte....


Yalom, Irvin D.
Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine Romane wurden international zu Bestsellern und zeigen, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten und aufregendsten Geschichten bietet, wenn man sie nur zu erzählen weiß.



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