Yanagihara | Das Volk der Bäume | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Yanagihara Das Volk der Bäume


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26307-9
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

ISBN: 978-3-446-26307-9
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
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Der junge Arzt Norton Perina kehrt mit einer unfassbaren Entdeckung von der Insel Ivu'ivu zurück: Hat er wirklich ein Mittel gegen die Sterblichkeit gefunden? Eine uralte Schildkrötenart soll die Formel des ewigen Lebens bergen. So kometenhaft er damit zur Spitze der Wissenschaft aufsteigt, so rasant vollzieht sich die Kolonisierung und Zerstörung der Insel. Mit gnadenloser Verführungskraft zieht Hanya Yanagihara uns hinein in den Forscherrausch im Urwald und lässt uns auch dann nicht entkommen, als Perina dort eine weitere Entdeckung macht: seine fatale Liebe zu Kindern. Wie betrachten wir eine Lebensleistung, wenn sich das Genie als Monster entpuppt? Ein brillant geschriebener, gefährlicher Dschungel von einem Roman.

Hanya Yanagihara, 1974 geboren, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin. Mit ihrem Roman Ein wenig Leben gewann sie den Kirkus Award und stand auf der Shortlist des Man Booker Prize, des National Book Award und des Baileys Prize. Ein wenig Leben ist eines der bestverkauften und meistdiskutierten literarischen Werke der vergangenen Jahre.
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VORWORT

Ich bin Ronald Kubodera – aber nur in wissenschaftlichen Publikationen. Für alle anderen bin ich Ron. Ja, ich bin der Dr. Ronald Kubodera, von dem Sie sicherlich in den Zeitschriften und Zeitungen gelesen haben. Nein, nicht all die Geschichten sind wahr – das sind sie ja in den seltensten Fällen.

Aber in meinem Fall sind es die wichtigsten schon, und ich bin stolz darauf. So bin ich beispielsweise stolz, überhaupt eine Beziehung zu Norton zu haben (und bis vor anderthalb Jahren hätte ich das nicht einmal eigens betonen müssen), den ich kenne, seit ich 1970 in seinem Labor an den National Institutes of Health in Bethesda, Maryland, zu arbeiten begann. Den Nobelpreis hatte Norton damals noch nicht erhalten, doch mit seiner Arbeit hatte er bereits das Medizinwesen revolutioniert und den wissenschaftlichen Blick auf die Fachgebiete Virologie und Immunologie, aber auch, das muss hinzugefügt werden, auf die medizinische Anthropologie für immer verändert. Stolz bin ich auch darauf, dass aus unserer anfänglichen Arbeitsbeziehung eine ebenso intensive freundschaftliche Beziehung erwuchs; tatsächlich ist meine Verbindung zu Norton die bedeutsamste in meinem Leben. Vor allem aber bin ich stolz darauf, dass ich nach den Ereignissen der vergangenen zwei Jahre noch immer sein Freund bin und er noch der meine ist.

Natürlich habe ich nicht die Möglichkeit, so häufig mit Norton zu sprechen, wie ich – und das gilt sicherlich auch für ihn – es gern täte. Es ist ein sonderbares, einsames Gefühl, ihn nicht in meiner Nähe zu haben. Tatsächlich möchte ich behaupten, dass wir bis zu meinem Umzug vor sechzehn Monaten1 – einen Monat nach Nortons Verurteilung – während unserer normalen täglichen Abläufe nie mehr als zwei Tage voneinander getrennt waren. Vielleicht sogar weniger. (Besondere Umstände wie die gelegentlichen Urlaube mit meiner damaligen Frau oder Reisen zu Begräbnissen, Hochzeiten usw. natürlich ausgenommen. Doch selbst während dieser Anlässe versuchte ich, täglich mit ihm zu kommunizieren, entweder telefonisch oder per Fax.) Worauf ich hinauswill: Die gemeinsamen Gespräche mit Norton, die Zusammenarbeit mit Norton, das Zusammensein mit Norton waren schlicht Teil meines täglichen Lebens, so wie manche Leute täglich fernsehen oder täglich die Zeitung lesen – eines dieser leicht zu vergessenden, aber darum längst nicht unbedeutenden Rituale, welche uns die Gewissheit geben, dass das Leben plangemäß fortschreitet. Wird ein solcher Rhythmus allerdings unterbrochen, ist man nicht nur verunsichert, man ist ankerlos. So habe ich mich während der letzten etwa anderthalb Jahre gefühlt. Ich wache morgens auf und gehe meinem Tagwerk nach wie immer, aber abends schiebe ich das Zubettgehen hinaus, streife durch die Wohnung, starre in die Nacht hinaus und frage mich, was ich vergessen habe. Ich hake die Dutzenden kleinen Aufgaben ab, die ich an einem normalen Tag gedankenlos verrichte – Briefe geöffnet und beantwortet? Abgabetermine eingehalten? Türen abgeschlossen? –, bis ich schließlich widerstrebend ins Bett steige. Erst an der Schwelle zum Schlaf wird mir wieder bewusst, dass mein Leben seine ganze Form geändert hat, und dann durchlebe ich einen kurzen Augenblick der Melancholie. Man sollte meinen, inzwischen hätte ich gelernt, mich mit Nortons – und damit auch meinen eigenen – veränderten Lebensumständen abzufinden, doch etwas in mir wehrt sich dagegen; schließlich war er drei Jahrzehnte lang Teil meines Tagesablaufs.

Aber wenn mein Leben schon einsam ist, dann ist Nortons noch weit einsamer. Stelle ich ihn mir an diesem Ort vor, bin ich einfach nur wütend: Norton ist kein junger Mann mehr und auch nicht ganz gesund, und ihn einzusperren ist in meinen Augen weder eine geeignete noch eine angemessene Strafe.

Mir ist bewusst, dass ich mit dieser Ansicht in der Minderheit bin. Ich weiß nicht, wie oft ich versucht habe, Norton – seine Menschlichkeit, seine Intelligenz, seine Außergewöhnlichkeit – Freunden, Kollegen und Reportern (sowie Richtern, Geschworenen und Anwälten) begreiflich zu machen. Tatsächlich wurde ich in den vergangenen sechzehn Monaten oft mit der Heimtücke Nortons früherer Freunde konfrontiert, damit, wie rasch sie einen Mann vergessen und aufgegeben haben, den sie angeblich liebten und respektierten. Einige dieser Freunde – Menschen, mit denen Norton seit Jahrzehnten bekannt gewesen ist und zusammengearbeitet hat – verschwanden von der Bildfläche, sobald die Vorwürfe aufkamen. Aber noch schlimmer sind diejenigen, die ihn nach dem Schuldspruch verlassen haben. Das hat mir ins Bewusstsein gerufen, wie treulos und heuchlerisch die meisten Menschen sind.

Doch ich schweife ab. Eine der größten Herausforderungen seiner Gefangenschaft bestand für Norton darin, die große Monotonie zu bekämpfen, die seine Lebensumstände zwangsläufig bestimmt. Ich war zugegebenermaßen etwas überrascht, als er sich nach nicht einmal einem Monat über die lähmende Langeweile zu beschweren begann. Es war stets einer der sehnlichsten Träume von Norton – und, wie ich glaube, von vielen brillanten und überanstrengten Männern – gewesen, einmal einen Monat oder ein Jahr ohne jegliche Verpflichtungen an einem warmen Ort verbringen zu können. Keine Reden zu halten, keine Artikel zu redigieren oder zu schreiben, keine Studenten anzuweisen, keine Kinder zu umsorgen, keine Forschungen zu betreiben; nur eine leere Ebene aus freier Zeit, die er füllen könnte, womit er wollte. Norton hatte immer von der Zeit als einem Meer gesprochen, einer spiegelgleichen, endlos weiten Leere, und tatsächlich wurde dieser Traum – »Meerzeit« nannte er es – zu einer Art Witz, einem Kürzel für Dinge, mit denen er sich eines Tages zu beschäftigen hoffte, für die er aber im Augenblick keine Zeit fand. Und so leistete er Schwüre: In der Meerzeit würde er Tropengräser züchten. In der Meerzeit würde er seine Memoiren schreiben. Niemand, am allerwenigsten Norton selbst, glaubte daran, dass er jemals wirklich Meerzeit haben würde, aber jetzt hat er sie natürlich, nur ohne den warmen Ort und die angenehme, träge Erstarrung, die man mit mühsam verdientem Nichtstun verbindet. Doch unglücklicherweise hat es nun den Anschein, als wäre Norton einfach nicht für den Müßiggang geschaffen; tatsächlich ist es ein quälender Zustand für ihn (wobei ich natürlich einräumen muss, dass das zum großen Teil den unglücklichen Umständen geschuldet sein könnte, unter denen ihm dieser Müßiggang gewährt wurde). Kürzlich schrieb er mir in einem Brief:

Es gibt hier wenig zu tun und von einem gewissen Punkt an noch weniger zu denken. Ich hätte nie geglaubt, dass ich mich je in einem solchen Zustand befinden könnte, so erschöpft, dass ich mich fühle wie nach einem Aderlass, bei dem ich kein Blut, sondern meine Gedanken verloren habe. Langeweile – ich dachte eigentlich immer, ich wüsste eine Zeit permanenter Leere zu schätzen und mit Leichtigkeit auszufüllen. Aber ich musste feststellen, dass es uns nicht gegeben ist, Zeit in solch dicken, leeren Brocken zu füllen: Wir sprechen davon, die Zeit zu verwalten, aber eigentlich ist es andersherum – unser Leben ist so sehr mit Geschäftigkeit angefüllt, weil wir nur diese dünnen Zeitspalten wirklich bewältigen können.2

Das scheint mir eine weise Erkenntnis zu sein.

Doch der offensichtlichen Härte von Nortons derzeitigen Umständen ungeachtet, besitzen manche die Unverfrorenheit zu sagen, er solle dankbar für das sein, was sie als Milde seiner gegenwärtigen Situation betrachten; ein Kommentar, der mir nicht nur stumpfsinnig, sondern auch grausam erscheint. Einer von ihnen ist ein gewisser Herbert West (den Namen habe ich widerwillig geändert), der Anfang der 1980er-Jahre ebenfalls für Norton tätig war und ihn später auf dem Weg zu einer Londoner Konferenz in Bethesda besuchte. Das war vor der Gerichtsverhandlung, aber nach der Anklageerhebung, als Norton quasi unter Hausarrest stand und der Obhut für seine sämtlichen Kinder enthoben war. West, den ich immer für erträglicher als Nortons vorherige wissenschaftliche Mitarbeiter gehalten hatte, blieb etwa eine Stunde bei Norton und fragte mich dann, ob ich mit ihm essen gehen wolle. Ich hatte eigentlich keine große Lust (und fand es schrecklich unhöflich von ihm, mich im Beisein von Norton einzuladen, der das Haus schließlich nicht verlassen durfte), aber Norton sagte, ich solle ruhig gehen, er wolle ohnehin noch ungestört an etwas arbeiten.

Ich musste also mit West zu Abend essen, und auch wenn es mir schwerfiel, nicht an Norton zu denken, der allein zu Hause saß, entspann sich ein überraschend angenehmes Gespräch über Wests Arbeit und einen Vortrag, den er auf der Konferenz halten wollte, über einen Artikel, den Norton und ich vor seiner Verhaftung im New England Journal of Medicine veröffentlicht hatten, und über einige gemeinsame Bekannte, bis West, gerade als das Dessert serviert wurde, sagte: »Norton ist ganz schön alt geworden.«

Ich sagte: »Er ist in einer fürchterlichen Lage.«

»Ja, fürchterlich«, murmelte West.

»Es ist ausgesprochen ungerecht«, sagte ich.

West sagte nichts.

»Ausgesprochen ungerecht«, wiederholte ich, um ihm eine weitere Gelegenheit zu geben.

West seufzte und tupfte sich die Mundwinkel mit der Serviette ab, eine nicht nur gekünstelte und effeminierte, sondern auch auf ostentative, unausstehliche Weise anglophile Geste. (West hatte – vor Jahrzehnten und nur zwei Jahre lang – als Marshall-Stipendiat in Oxford studiert und besaß ein herausragendes Talent dafür, bei jedem gesellschaftlichen oder geschäftlichen...


Yanagihara, Hanya
Hanya Yanagihara, 1974 geboren, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin. Mit ihrem Roman Ein wenig Leben gewann sie den Kirkus Award und stand auf der Shortlist des Man Booker Prize, des National Book Award und des Baileys Prize. Ein wenig Leben ist eines der bestverkauften und meistdiskutierten literarischen Werke der vergangenen Jahre.

Kleiner, Stephan
Stephan Kleiner, geboren 1975, lebt als literarischer Übersetzer in München und übertrug unter anderem Hanya Yanagihara, Geoff Dyer, Nick Hornby, Michel Houellebecq, Marlon James, Charlie Kaufman und Barack Obama ins Deutsche. 2024 erhielt er für seine Arbeit den Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis.



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