E-Book, Deutsch, 511 Seiten
Zech / Otte Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7521-4920-3
Verlag: Edition Calegius
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ein Tatsachenroman
E-Book, Deutsch, 511 Seiten
ISBN: 978-3-7521-4920-3
Verlag: Edition Calegius
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Dieser Roman über die Zeit von der 'Machtergreifung' Hitlers bis ca. 1937 spielt vor allem in Berlin, insbesondere in den Arbeiterstadtteilen, und episodenweise auch in anderen Gegenden Deutschlands und im argentinischen oder Pariser Exil. Er verbindet viele verschiedene Handlungsstränge, die einen episodenhaften Einblick in den Widerstandskampf, die Folterhöllen der SA bzw. SS und in die Tristesse des Exils bieten. Die Protagonisten sind sozialistische oder kommunistische Arbeiter, bürgerliche Intellektuelle, die sich auf die Seite der Arbeiter schlagen, oder auch nur an der Wahrhaftigkeit des Hitlerschen Heilsversprechens zweifelnde Männer und Frauen. Es geht um die Abkehr Einzelner von der NS-Ideologie, um die Perspektive des Exils für Intellektuelle und die Hoffnungslosigkeit, in der sie leben mussten, abgeschnitten von allen Einkommensquellen und isoliert in der Fremde. Es geht um den Widerstandskampf von Arbeiterinnen und Arbeitern: das Drucken von Flugblättern, das Verteilen von Propaganda, die Rückgewinnung des verlorenen Einflusses in den Betrieben, aber auch um das persönliche Glück, die Angst um die Familie und um die Morde und Folterungen durch die Faschisten. Jetzt zum ersten Mal als E-book, herausgegeben von Stefan Otte.
Paul Zech (19.2.1881 bis 7.9.1946) war ein deutscher Schriftsteller, bekannt geworden vor allem durch seine Nachdichtungen der Balladen von Francois Villon. 1918 wurde er mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. 1933 emigrierte er nach Argentinien. Er war ein Mitbegründer der 'Deutschen Blätter', die zwischen 1943 und 1946 in Santiago de Chile publiziert wurden. Nach seinem Tod 1946 in Buenos Aires erschienen einige Werke aus seinem Nachlass, die Paul Zech die verdiente Anerkennung brachten.
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II. Deutschnationales Haus Der Buchdrucker Louis-Ferdinand Schimmel saß in seinem kleinen Kontor unter der grünbeschirmten Schreibtischlampe und kalkulierte einen Druckauftrag, den er eventuell hereinbekommen würde, wenn er zehn Prozent billiger liefern könnte als die Firma Meisel. Es handelte sich um 15 Millionen Flugblätter für die NSDAP. Format 20 mal 16, doppelseitig bedruckt. Der Preis der Konkurrenz war ihm unter der Hand mitgeteilt worden. Prozente an einen Vermittler brauchten nicht gezahlt zu werden. Die Möglichkeit des Auftrages wurde von seinem Sohn August, der die Sache arrangiert hatte, als eine Freundschaftsangelegenheit bezeichnet. Schimmel rechnete hin und her. Ein Verdienst an dem Auftrag sollte doch herausspringen. Aber wie? Bis jetzt hatte er sich immer einen Verlust ausgerechnet. Ja, wenn er zum gleichen Preis hätte liefern dürfen wie die Firma Meisel, dann würde man sagen können: Gut, weg mit Schaden! Es wäre immerhin das Salz zum Brot dabei herausgekommen. Und die Maschinen hätten laufen können. Die drei Leute, die in dem kleinen Anbau, hinten über dem Hof, arbeiteten, waren sowieso nicht vollauf beschäftigt. Visitenkarten? Wer legte sich heute noch welche zu, wo die Uniform und das Parteiabzeichen alles Notwendige schon ausdrückten? Und Hochzeiten mit hundert Einladungen nebst Festzeitung? Das kam jetzt nur noch zwei-, höchstens dreimal im ganzen Jahr vor. Die meisten Brautpaare begnügten sich mit vorgedruckten Karten, zum Ausfüllen des Datums und der Namen entsprechend eingerichtet. Solch ein Zeug druckte man zehntausendweise in der flauen Zeit weg. Und es schienen auch weniger Leute zu sterben, oder man legte keinen Wert mehr darauf, den Bekannten und Verwandten einen Todesfall anzuzeigen. Und Werbung... bei diesem schlechten Geschäftsgang sparten die Ladenbesitzer sogar am Licht. Für die Auslagen in den Fenstern interessierten sich im besten Fall die Kinder und machten bei dieser Gelegenheit auch noch die Scheiben schmutzig. Es war Essig mit der ganzen Akzidenzdruckerei. Und es waren Galläpfel, was man sonst noch an Aufträgen hereinbekam. Dabei mußten die Leute gelöhnt werden. Sie arbeiteten schon unter Tarif, bloß um nicht auf der Straße zu liegen. Die Miete für die Werkstatt rechnete man schon gar nicht, denn das Haus trug sich so gerade noch, weil man die Etagenwohnungen gut vermietet hatte. Aber der Haushalt verschlang viel. Zwei Söhne, studiert und immer noch keine Position; eine Tochter, lange Sekretärin bei einem Rechtsanwalt gewesen... die Stelle plötzlich verloren. Die Hausfrau im dritten Jahr schon bettlägerig. Und dann war da noch für die gröbere Arbeit in der Wirtschaft ein älteres Mädchen, eine arme Verwandte. Alle wollten sich am Tisch satt essen. Alle hatten Bekleidungswünsche. Söhne und Tochter beanspruchten sogar Taschengeld. Er nahm die Brille ab und putzte die angelaufenen Gläser mit dem großen bunten Taschentuch wieder blank. Er kniff die Augen zu und dachte eine Weile nach. Dann setzte er sich die Brille wieder auf und rechnete den ganzen Zimt noch einmal durch. Es kam kein anderes Resultat als das schon einmal festgestellte heraus. Er las, um auf andere Gedanken zu kommen, den Text des Manuskriptes durch. Eine ruppige Sprache, dachte er. Als wäre jeder, der heutzutage wählen geht, ein angetrunkener Müllkutscher oder Möbelträger. Ein Ton, als ginge man nicht mehr, seiner Staatsbürgerpflicht sich bewußt und durchdrungen von der Ehre, teilhaben zu dürfen am Geschick des Vaterlandes, in die Wahlzelle, sondern mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und geballten Fäusten zum Raufen. Schimmel hatte bis zur Novemberrevolution nie anders als konservativ gewählt. So, wie er es von seinem Vater, der Pfarrer gewesen war, übernommen hatte. Seitdem es aber eine deutschnationale Front gab, wählte er mit und für Hindenburg deutschnational. Dazu brauchte er keine Aufforderung durch Flugblätter, darüber wurde höchstens einmal kurz am Stammtisch gesprochen. National... das war man seiner treudeutschen Gesinnung, dem Andenken der verstorbenen Eltern und dem Kaiser schuldig. Man wollte und wünschte jetzt, daß er wiederkäme und endlich »Ruhe und Ordnung« schaffen möchte. Es war von Anfang an nichts Richtiges gewesen mit der Republik. Regieren kann nur, wer von Gott dazu bestimmt ist. Und die Hohenzollern haben immer mit Gott für das Vaterland regiert. Die Arbeiter haben dabei gute Löhne und eine bodenständige und dauernde Arbeit gehabt. Die Beamten bekamen die Gehälter vierteljährlich im voraus und konnten solide leben und ihre Kinder etwas werden lassen. Die Geschäfte florierten, die Steuern drückten nicht, die Menschen hatten vergnügte Gesichter; wer sparsam war, konnte sich mit sechzig Jahren zur Ruhe setzen und die Abendpfeife in Frieden und Ruhe zu Ende rauchen. Ja... in den damaligen Zeiten, so erinnerte Schimmel sich noch ein Stück weiter rückwärts, standen fünf und sechs Gehilfen im Anbau, druckten fleißig und sauber, und die Arbeit brachte ein schönes Stück Geld ein. Wovon hätte man sich denn sonst dieses große Zinshaus kaufen können und zehn Jahre später noch ein zweites gegen bar hinzu? Er nahm wieder das Manuskript in die Hand und kam über den rauhen, schon längst nicht mehr soldatischen Ton hinweg, Er hatte, wie gesagt, Wahlaufrufe anderer Parteien nie gelesen. Und diese Partei hier war ja erst in den letzten Jahren hochgekommen. In Scharen liefen ihr jetzt die Leute zu, Arbeiter, Beamte, Mittelstandsleute und sogar Rechtsanwälte und Ärzte. Jeder glaubte von dem anderen, der ein wenig höher oder finanziell besser gestellt war, daß er mit Absicht ein gutes Beispiel gäbe, und was der Herr Oberpostdirektor konnte, das durfte dem Briefträger nicht unbillig sein. Mit einem Mal fiel Schimmel auch ein, daß sogar seine beiden Söhne dieses braune Hemd trugen. Er hatte nie mit ihnen über parteipolitische Fragen gesprochen. Sie waren hier im Hause aufgewachsen in Gottesfurcht und Kaisertreue. Aber schon auf der Universität hatten sich die Ansichten, die sie an gelebten Beispielen aus dem Hause mitnahmen, verschoben. Es fiel zunächst einmal die Kaisertreue ab, weil man sich einredete, der Hohe Herr habe sich im entscheidenden Augenblick nicht bewährt, sich die Autorität von schlechten Beratern wegschwatzen lassen. Der neue Staat soll sein, von Grund auf erneuert, ein Gebäude des Volkes für das Volk. Das Kapital dürfte nicht mehr raffen und mit Zinsen wuchern, sondern schaffen, die Wirtschaft solle nicht von artfremden Juden geführt werden, sondern von Beauftragten eines autoritären Führers. Und jedem Arbeitnehmer ein reeller, zum Sattessen ausreichender Lohn garantiert... Das hatte er sich ein paarmal mitangehört und zu seinen beiden Söhnen Karl und August gesagt: »Das hört sich zwar nicht an wie ein Märchen, aber mir ist das alles zu plötzlich und zu neu. Ich habe das Meinige gelernt und bin bis zum Kriege nicht schlecht gefahren dabei; zum Umlernen aber bin ich zu alt. Wenn es kein Kommunismus ist, zu dem ihr jungen Leute euch bekennen wollt, meinetwegen versucht es. Ich glaube aber, es wird nicht lange dauern, dann kommt ihr wieder auf das Alte und Bewährte zurück. Preußen ist groß geworden dabei. Die Redensart, es habe sich durchgehungert, lasse ich nicht gelten.« (Vom Kommunismus wußte er allerdings nur so viel, wie in der Kreuzzeitung für die Abonnenten zu lesen stand. Und das war der alte, große Kinderschreck vom Schwarzen Mann, der neuerdings Bolschew hieß, unter Bismarck aber Bebel.) »Sorgt mir aber dafür, Jungens, daß eure Hände sauber bleiben. Ich möchte in meinem Hause nicht in Handschuhen herumlaufen. Und wenn ihr miteinander über diese neuen Dinge, die euch bewegen, streiten wollt, weil sie euch im Letzten wohl doch noch nicht klar sind, dann, bitte, oben in eurem Zimmer.« Oben in ihrer Stube hatten die Söhne auch das Radio stehen, das sie sich gebastelt hatten und mit allen Schikanen ausgerüstet. Ein großer Apparat, acht Röhren, die halbe Welt konnte man heranholen. Und wenn Liesa, die Tochter, einmal mithören wollte, wie man in Argentinien Tangos spielte oder in Honolulu das Banjo wimmern ließ, dann mußte sie sich schon nach oben bemühen. Der alte Schimmel hielt nichts von dieser neuen, gesprochenen und gesungenen Zeitung. »Sie stiehlt«, sagte er, »den Menschen noch mehr Zeit als das Kino. Sie lenkt die Gedanken ab. Sie vermehrt die Halbbildung und erzieht zu einer nichtsnutzigen Bequemlichkeit. Man geht nicht mehr in die Philharmonie, sonntagmittags, um ein Beethovenkonzert zu hören für eine Mark. Man stellt den Lautsprecher an, hört die Eroica, polkt sich dabei in der Nase herum, brennt die Haare, wäscht Windeln, schält Kartoffeln und versohlt nach dem Takt der Kesselpauken den Rotznasen den Hintern. Oder geht zwischendurch auf den Lokus, immer mit Beethoven, oder sieht zum Fenster hinaus, mustert den neuesten Sommerhut der Frau Nachbarin und hört von fern eine Marschmusik schmettern, beinahe wie Beethovens Neunte. Und wenn man nicht Beethoven hört oder Bruckner, dann ist es die Jazzband aus dem Großen Schauspielhaus, mit einem Zwischenschmus von Alfred Braun, oder es ist die Reportage von einem Fußballkampf Berlin–Hamburg. Ja sogar den Gottesdienst kann man sich mit einer kleinen Drehung des Knopfes an der Skala vom Dom in die Badestube verlegen und mit dem Schwamm auf dem Kopf und das Maul prustend voller Seifenschaum den Choral mitsingen und das Vaterunser nachplappern.« Die Söhne hatten nicht lange Protest erhoben, als ihr Vater diese Ansichten über das Radio entwickelte. Ein in seinen graumelierten Gedanken stehengebliebener alter Mann. Er wollte den Kasten nicht mehr unten in der Wohnung haben. Gut, sie sahen sich an und hätten gern über diese Verschrobenheit...