Zeh | Spieltrieb | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Zeh Spieltrieb

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-24274-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-641-24274-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die atemberaubende Geschichte einer obsessiven Abhängigkeit zwischen einer Schülerin und einem Schüler, Ada und Alev, aus der sich erst die Bereitschaft, dann der Zwang zu Taten ergibt, die alle Grenzen der Moral, des menschlichen Mitgefühls und des vorhersehbaren Verhaltens überschreiten. Die beiden jungen Menschen wählen sich ihren Lehrer Smutek als Ziel einer ausgeklügelten Erpressung. Sie beginnen ein perfides Spiel um Sex, Verführung, Macht.

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman 'Adler und Engel' (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman 'Über Menschen' war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021. Zuletzt erschien bei Luchterhand der zusammen mit Simon Urban verfasste Bestseller 'Zwischen Welten'.
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Von Prinzessinnen und Marionetten und der Möglichkeit, sich mit wenigen Worten Respekt zu verschaffen

Ada war ein junges Mädchen und nicht schön. In jenem Augenblick, den der Scheinwerfer dieser Erzählung ins Licht taucht, war sie vierzehn Jahre alt, blond und kräftig gebaut. Ihr Mund war breit, die Handgelenke stark. Über der Nase lag ein löchriger Teppich aus Sommersprossen und wusste bei passender Beleuchtung ein paar Notlügen von gepflückten Wildblumen und Kinderspielen im hohen Gras an den Mann zu bringen. In Wahrheit sah Ada älter aus, als sie war. Ihre Brust war stark entwickelt.

Im Sommer 2002 wurde sie in die zehnte Klasse des Ernst-Bloch-Gymnasiums zu Bonn eingeschult, nachdem sie aus einem Grund, der sich in Kürze im Rahmen einer musikalischen Rückblende offenbaren wird, ihre alte Schule hatte verlassen müssen. Auf Ernst-Bloch erregte sie zu Anfang wenig Aufmerksamkeit.

In allen Klassen ab der siebenten gab es samt- und seidenweiche Mädchen, deren Geburt durch langsam anschwellende Musik begleitet worden war wie das hochfahrende Windowsbetriebssystem von seiner Begrüßungsouvertüre. Sie kamen als Miniaturprinzessinnen zur Welt, erreichten bereits in der Unterstufe das erste, fohlenhafte Stadium der Vollendung und wuchsen gleichmäßig in die Frau hinein, die sie einmal werden sollten. Ihre Entwicklung vollzog sich routiniert und fehlerlos, als hätten sie die Aufgabe des Älterwerdens schon etliche Male zuvor bewältigt. Jene Pubertätsprofis unterschieden sich auf den ersten Blick von den Dilettanten. Sie hatten das gepflegte, schulterlange Haar erwachsener Frauen, trugen ihre Hüfthosen, breiten Gürtel und knappen Hemdchen mit wohltemperierter Lässigkeit und ließen glatte Kinderhaut und aufgeworfene Kindermünder zu Mädchenhaut und Mädchenmündern werden, ohne dass Pickel, Schweißausbrüche oder Wachstumslaunen zu irgendeinem Zeitpunkt die Harmonie ihrer Erscheinungen gestört hätten. Die Aura hochnäsiger Sauberkeit, die sie umgab, ließ sich weder von Regengüssen noch von feuchter Sommerhitze beeindrucken. Alles zierte die Prinzessinnen, nasse Haare, rote Nasen und selbst die Staubschicht, die sich im Sportunterricht beim Sprung in die alte Sandgrube über alle Körper legte.

Weil sie daran gewöhnt waren, alles umsonst zu bekommen, besaßen diese menschlichen Rehkitze keinen Ehrgeiz. Männliche Mitschüler bemühten sich um sie, auch jene, zu denen eine Freundin mit Innenleben besser gepasst hätte. Manche betrieben leichten Sport oder lasen leichte Literatur. Ihre Schulnoten waren mittelmäßig; als Lieblingsfächer nannten sie Deutsch oder Kunst und Biologie, ohne erklären zu können, was ihnen daran gefalle. Während der Oberstufenjahre standen sie bereits im Zenit des Lebens. Sie besaßen die stärkste Ausstrahlung, empfingen ein Höchstmaß an Bestätigung und erlebten Tag für Tag eine Art farblosen Wohlbefindens, um nicht zu sagen: Glück. Nach dem Abitur würde es gemächlich abwärts gehen. Erfreulicherweise war ihnen der Spannungsbogen ihrer persönlichen Geschichte egal. Vielleicht ahnten sie etwas. Vielleicht rührte von jener Ahnung der melancholische Hauch, der ihren anmutigen Bewegungen etwas Träges, der Trägheit etwas Tragisches und der Tragik besondere Anmut verlieh.

Mit dieser Beschreibung sind alle Eigenschaften genannt, die Ada nicht anhafteten. Sie war das Gegenteil einer Prinzessin, sofern Prinzessinnen ein Gegenteil besitzen. Seit Ada im Alter von zwölf Jahren auf den Gedanken verfallen war, dass Sinnsuche nichts als ein Abfallprodukt der menschlichen Denkfähigkeit sei, galt sie als hochbegabt und schwer erziehbar. Als ihr neuer Klassenlehrer sie aufforderte, sich den anderen Schülern vorzustellen, nannte sie ihren Vornamen und wusste sonst nichts zu berichten. Er bat um ein paar persönliche Sätze, um irgendeine Aussage, die Gültigkeit für sie besitze, und verstand ihr Lachen nicht.

Der Schulwechsel bedeute einen Glücksfall für sie, sagte Ada schließlich, sie habe sich auf Ernst-Bloch gefreut. Damals hätten ihre Eltern eine Einschulung auf dem teuren Privatgymnasium nicht erlaubt.

Sie wusste ›damals‹ auf eine Art zu sagen, die nach lang zurückliegenden Epochen klang.

»Und was«, fragte eine Prinzessin mit spiraligen Locken, »ist an Ernst-Bloch das Besondere?«

»Mir war so, als sei dies ein Ort für wirklich kluge, wirklich kaputte, wirklich kategorische Menschen.«

Einige johlten Zustimmung, andere schnitten Gesichter. Die Prinzessinnen lehnten sich zurück und zogen mit beiden Händen das lange Haar hinter den Rücken hervor, um es über die Stuhllehne zu werfen. Ada hatte sich wirklich auf Ernst-Bloch gefreut. Die Schule stand in privater Trägerschaft und gewährte auch jenen verlorenen Geschöpfen, die sich hartnäckig gegen eine Teilnahme an der Kaffeefahrt namens ›glückliche Kindheit‹ zur Wehr setzten, eine letzte Chance auf Hochschulreife. Vorausgesetzt, ihre Eltern konnten es sich leisten.

›Mir war so, als sei.‹ Danach sprach Ada wenig im Jahr 2002. Im Unterricht meldete sie sich nie. Wurde sie aufgerufen, begann sie ihre Sätze nicht mit ›Meiner Meinung nach‹ oder ›Ich glaube‹. Sie sagte: ›Das ist Unsinn.‹ Oder: ›Es gibt nur eine Lesart für diese Stelle.‹ Oder: ›Es ist unerheblich, wer was und wie viel gewusst hat.‹

Diesen Stil behielt sie auch Höfi gegenüber bei. Höfi hatte sich einen Ruf als Bluthund erworben, der Dummheit auf hundert Meter gegen den Wind roch und gnadenlos verfolgte. Aus Misanthropie hatte er sich gegen eine akademische Karriere und für die Schullaufbahn entschieden. Seine Sympathie verhielt sich aufsteigend proportional zum Intelligenzquotienten eines Gegenübers. Wie alle frei kreisenden Felsbrocken im Universum besaß auch er einen warmen, flüssigen Kern, den er jedoch mit allen Mitteln der Ratio zu verteidigen wusste. Höfi vertrat die empirisch belegte Auffassung, dass selbst Sahne hart werde, wenn man sie lange genug schlage. Die Prinzessinnen hassten ihn. Er betrachtete sie niemals anders als mit ironisch verzogener Unterlippe.

Seit Anfang des neuen Schuljahres zeigte ihm sein träger Röntgenblick in jeder Geschichtsstunde bei der 10B ein neues Kuckuckskind, das starrköpfig in einem quirligen Nest bunter Jungvögel hockte. Eines Tages im September, draußen ging ein feiner Nieselregen nieder, baute er seine quasimodisch verwachsene Gestalt vor Ada auf, die am rechtshinteren Winkel der u-förmigen Tischformation saß, griff nach einem Kugelschreiber und richtete ihn wie ein Messer auf ihre Nasenspitze.

Er schätze Meinungsstärke, verkündete Höfi, aber es gebe auf alles im Leben mindestens zwei mögliche Perspektiven, von der keine absolute Geltung beanspruchen könne. Das solle sie sich mit diesem Stift hinter die Ohren schreiben und den Mund erst wieder aufmachen, wenn sie es begriffen habe. Ende der Durchsage.

Ada nahm ihm den Stift aus der Hand und passte ihn exakt in die Position ein, an der er zwischen Heft und Buch gelegen hatte. Dabei erwiderte sie geradeaus Höfis Blick, sah ihm aber nicht in die Augen, sondern fixierte jene kleine Stelle auf seiner Stirn, die nach glattem Durchmarsch einer Pistolenkugel sofortigen und sicheren Tod versprach.

»Sind Sie verheiratet?«

»Gewiss«, sagte Höfi, während die Stille im Raum ein totalitäres Ausmaß erreichte.

»Lieben Sie Ihre Gemahlin?«

»Gewiss. Sogar sehr.«

»Haben Sie jemals darüber nachgedacht, dass Sie diese Frau ebenso gut hassen könnten?«

»Nein.«

Ada senkte den Blick von Höfis Stirn auf ihre vernarbten Fingerspitzen. Im Unterricht vertrieb sie sich die Zeit, indem sie die Haut rund um die Fingernägel vom Fleisch kratzte und in schmalen Streifen bis zur Mitte der Finger abzog.

»Wenn das so ist«, sagte sie leise, »hören Sie auf mit dem Quatsch von zwei möglichen Sichtweisen auf alle Dinge.«

Höfi öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er nickte, als hätte er eine im Grunde nebensächliche, aber unverzichtbare und seit längerem erwartete Information erhalten, und setzte seinen Unterricht fort. Vierundzwanzig Stunden später wussten alle siebenhundertzweiundvierzig Schüler auf Ernst-Bloch, dass eine von ihnen gegenüber Höfi das letzte Wort behalten hatte. Es hieß, Höfi habe zum ersten Mal in seiner langjährigen Tätigkeit als tyrannischer Geschichtslehrer einen ebenbürtigen Gegner gewittert.

Ada konnte seit ihrem vierten Lebensjahr lesen und schreiben; sie hatte es sich mit Hilfe einer Buchstaben-Bild-Tabelle selber beigebracht. Mit fünf erreichten die Finger der rechten Hand mühelos das linke Ohr, wenn Ada den rechten Arm oben über den Kopf legte. Deshalb wurde sie vorzeitig eingeschult und erhielt das Amt der Jüngsten auf Lebenszeit. In der dritten Klasse war ein Junge der Auffassung gewesen, ein Kleinkind wie Ada könne keine Schulhofbande führen, und erlitt daraufhin eine leichte Nierenquetschung wegen eines Stiefeltritts. Ada hatte sich auf ihren quadratischen Ledertornister gestellt, um ihn im Rücken zu erwischen. Während der folgenden Wochen verbrachte sie die Vormittage in einem verglasten Nebenraum des Klassenzimmers, wo sie die Aufgaben der jeweiligen Schulstunde in Minutenschnelle löste und danach blassbunte Tiefseefische malte, im schwarzen Wasser, viele tausend Meter unter dem Meer.

Ernst-Bloch bewirtete so viele Sitzengebliebene mit Unterricht und einer letzten Chance, dass Ada für ein Gespräch mit Gleichaltrigen die Flure der unteren Mittelstufe hätte besuchen müssen. Da ihr schon die Schüler der höchsten Klassen infantil erschienen, verspürte sie nicht das geringste Bedürfnis danach. Keine Freunde finden konnte sie auch in der eigenen Jahrgangsstufe.

Die Pausen verbrachte sie...


Zeh, Juli
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman »Über Menschen« war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021. Zuletzt erschien bei Luchterhand der zusammen mit Simon Urban verfasste Bestseller »Zwischen Welten«.



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