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E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Zeh Treideln


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-24275-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-641-24275-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Poetik ist etwas für »Quacksalber, Schwächlinge, Oberlehrer, Zivilversager und andere Scharlatane«, so Juli Zeh 2013 in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen: »Poetik klingt immer so, als wüsste der Autor, was er da tut – dabei weiß er bestenfalls, was er getan hat.« Diese Erkenntnis im Kopf lässt es sich befreit aufspielen und wunderbar poetologisieren, über die Bedeutung der Erinnerung für das Schreiben zum Beispiel: »Ein Ereignis ist nicht das, was passiert ist, sondern das, was erzählt werden kann.« – Eine »Anti-Poetologie« – frech, klug und witzig.

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman »Über Menschen« war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021. Zuletzt erschien bei Luchterhand der zusammen mit Simon Urban verfasste Bestseller »Zwischen Welten«.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1

Sehr geehrte Goethe-Universität in Frankfurt am Main,

herzlichen Dank für die Einladung zur Frankfurter Poetikvorlesung. Ich fühle mich sehr geehrt. Trotzdem muss ich leider absagen. Im Jahr 2013 werde ich mit dem Verfassen mehrerer Romane, Theaterstücke, Essays, Drehbücher, E-Mails, Steuererklärungen, Tagebucheinträge und Einkaufszettel so beschäftigt sein, dass mir zum Ausarbeiten einer Poetikvorlesung leider die Zeit fehlt.

Mit freundlichen Grüßen

Juli Zeh

Mein lieber Verleger,

das kannst du vergessen. Kommt nicht in Frage. Man ist entweder Autor oder Poetikbesitzer. Ich bin doch nicht mein eigener Deutsch-Leistungskurs. Ohne mich.

Deine liebe Autorin

Chef!

jetzt fall mir nicht in den Rücken! Was heißt, ich soll mich freuen? Warum soll ich mich immer freuen? Freu du dich doch! Es ist eine Zumutung, sich freuen zu müssen! »Freu dich doch« heißt: »Friss oder stirb«! Das sag ich das nächste Mal zu dir, wenn du einen Bildband über Aufsitzrasenmäher zum Geburtstag geschenkt bekommst! Vielleicht sogar von mir! Dieser kapitalistische Glückszwang, der permanent in Form des erfolgreichen, gesunden und hocherfreuten Idealmenschen in Wort und Bild an uns herangetragen wird, führt lediglich dazu, dass wir Depression und Burn-out inzwischen als neue Volkskrankheiten bezeichnen! Die Leute werden nicht krank, weil sie so viel arbeiten! Sondern weil sie sich ständig freuen sollen! Wer sich nicht freut, ist ein Versager! Der hat was falsch gemacht! Nicht das Richtige gegessen, nicht genug Sport gemacht, nicht die richtige Creme benutzt, nicht die richtige Sex-Praktik ausgeübt! Nicht die richtige Poetikvorlesung gehalten! Das muss behandelt werden, am besten medikamentös! Bestimmt gibt es Poetik auch in Pillenform! Poetocetamol 500 mg! Davon schlucke ich dann die ganze Packung und sterbe an einer Überdosis, und dann stehst du weinend an meinem Grab und auf dem Grabstein steht: Freu dich doch! Ich übertreibe? Das ist mein Beruf! Und egal, was du jetzt sagst, es ist auf jeden Fall falsch!

Ich liebe dich trotzdem. Jetzt muss ich Schluss machen, die Ausrufezeichen sind alle.

Dein Vorzimmer

Alter Schwede,

so, hast du gehört, ja? Pfeifen es die Seeadler von den Stockholmer Dächern? Dann weißt du mehr als ich. Bin im Stellungskrieg. Oder, wie du sagen würdest: Bin am Rumzicken.

Juliette

Sehr geehrte Goethe-Universität in Frankfurt am Main,

da haben Sie mich ertappt. Zeitmangel ist eine schlechte Notlüge, wenn eine Veranstaltung regelmäßig zweimal pro Jahr stattfindet. Ich habe behauptet, nächstes Jahr keine Zeit zu haben, und natürlich sagen Sie, dann soll ich eben übernächstes Jahr kommen. Wenn ich jetzt sage, dass ich übernächstes Jahr auch nicht kann, laden Sie mich für überübernächstes Jahr ein, und wenn ich überübernächstes keine Zeit habe, dann eben überüberübernächstes, da capo, da capo, und am Ende ist nur die Frage, wer früher stirbt. Aber ich konnte schlecht zurückschreiben: Gehen Sie mir aus der Sonne, ich habe keine Lust. Das wäre unhöflich und dabei nicht einmal zutreffend. Lassen Sie mich anders versuchen, Sie abzuwimmeln.

Für diese ehrenvolle Aufgabe wäre ich eine denkbar schlechte Besetzung. Zu deutlich stehen mir Vormittage an deutschen Gymnasien vor Augen, wo ich der zwangsversammelten Schülerschar als lebendiger Beweis für die Existenz von Gegenwartsliteratur präsentiert wurde. Ich saß da im sicheren Glauben, einen typischen Hilfe-ich-muss-wieder-zur-Schule-Albtraum zu durchleben, und wartete aufs Aufwachen. Als der Lehrer begann, zur Einführung eine gekürzte Version meines Wikipedia-Eintrags vorzulesen, dämmerte mir, dass ich erstens schon wach und folglich, zweitens, viel zu früh aufgestanden war. Aus Rache für diesen unerfreulichen Befund ließ ich den Oberexegeten vulgo Deutschlehrer wie die Titanic auf Eis laufen, indem ich die Lieblingsfrage aller Textinterpreten, »Was will uns die Autorin damit sagen?«, mit einem frohgemuten »Nichts!« beantwortete. Und fügte abmildernd hinzu, während die Klasse feixte und sich der jeweilige Deutschlehrer im Blute seiner Existenzberechtigung wand: »Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«

Mit anderen Worten: Ich habe keine Poetik. Niemand hat eine Poetik, jedenfalls nicht, solange er Bücher schreibt.

Mit freundlichen Grüßen

Juli Zeh

Mein lieber Verleger,

ja, ich habe die Liste der Namen der bisherigen Referenten im Rahmen der Frankfurter Stiftungsgastdozentur für Poetik zur Kenntnis genommen. Ja, die Liste ist beeindruckend. Am beeindruckendsten ist vielleicht die Tatsache, dass es bei uns so viele staatstragende Schriftsteller gibt, dass seit 1959 jedes Semester einer die Poetikvorlesung abhalten kann und bis in alle Zukunft wird abhalten können, ohne dass uns jemals die Schriftsteller ausgehen werden. Irgendwo muss es eine geheime unterirdische Schriftstellerfabrik geben, in der ständig neue Schriftstellermodelle vom Band laufen, mit serienmäßig eingebauter Poetikfähigkeit und literarischer Bedeutsamkeitsgarantie bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.

Mich lässt die Frage nicht los, warum die das machen. Ich würde ja gerne sagen: um Geld zu verdienen, aber ich hab’s mal durchgerechnet – selbst mit wohlwollender Schätzung des Aufwands liegt der Stundenlohn nicht über fünf Euro, wofür die Autoren auch Zeitungen austragen könnten.

Tun sie aber nicht. Stattdessen stehen sie im Audimax, Semester für Semester, Schriftsteller für Schriftsteller, und führen aus Verzweiflung über das nicht vorhandene Objekt ihrer Bemühungen stundenlang rhetorische Taschenspielertricks vor. Verlesen ihre eigenen Rezensionen, beschweren sich über die EU, spielen Musik, zeigen Filme, lesen fiktive Briefe an real existierende Verleger vor. Warum?

Du wirst sagen: Weil es dem Schriftsteller ein tief empfundenes Bedürfnis ist, der Leserschaft seine Poetik nahezubringen. Weil er den großen Garten der Literaturtheorie durch sein bescheidenes Poetikpflänzchen bereichern möchte. Weil er sich der historischen Bedeutung seines Tuns bewusst ist. Weil da über Jahre hinweg ein faszinierendes Panorama von Selbstauskünften entsteht. Ein literaturgewordenes Jahrhundert. Poetikgewordene Zeitgeschichte.

Klingt gut und schön wär’s. Wenn es Poetik überhaupt gäbe. Poetik ist das, was Autoren erfinden, wenn sie zu Poetikvorlesungen eingeladen werden. Erst war die Poetikvorlesung, dann die Poetik. Poetikvorlesungen besitzen den Glaubwürdigkeitsgehalt einer Teleshopping-Präsentation.

Nein, mein lieber Verleger, wir beide kennen das wahre Geheimnis hinter der Poetikfreudigkeit der Schriftstellerzunft. Es ist das Herta-Müller-Prinzip. Seit vier Jahren schreibt mir jeder zweite Veranstalter, der mich zu einer Lesung einlädt, dass Herta Müller auch schon da war. Mühelos könnte ich ein Bewegungsprofil von Herta Müller erstellen. Sie war wirklich schon fast überall. Die Veranstalter gehen davon aus, dass ich auch einmal dort gewesen sein will, wo Herta Müller schon war. So ist es auch mit der Poetikvorlesung. Du schickst mir die Namensliste, weil du weißt, dass ich dann nicht absagen kann. Zu diesem erlesenen Kreis muss ich gehören. Das riecht nach Olymp und nach ein bisschen Unsterblichkeit. Nicht einmal Unbürgerliche wie Rainald Goetz, Einar Schleef und Thomas Meinecke haben die Einladung abgelehnt. Wie sollte eine Oberbürgerliche wie ich sich dann entziehen?

Das ist nicht einmal Eitelkeit. Es ist der dringende Wunsch, dabei zu sein. Auf einen kurzen Pfiff kommen die Schriftsteller gelaufen, stellen sich ans Pult und rackern sich ab bei dem Versuch, mit einer einigermaßen erträglichen Mischung aus Selbstdarstellung und Literaturtheorie den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Jeder Einzelne getrieben von der Not, mit den anderen mithalten zu müssen, den Anschluss an die Herde nicht zu verlieren.

Was sagt das über uns Autoren aus? Wir haben Angst. Gegenwartsliteratur, also die Summe nicht der geschriebenen, sondern der wahrgenommenen Texte, ist das Ergebnis einer merkwürdigen Auslese von Zufall, Publikumslaune und Kritikergeschmack. Ein Haus, aus dem man jederzeit wieder hinausgeworfen werden kann. Jedenfalls glauben das die Autoren. Ihre Existenzberechtigung im Betrieb müssen sie sich immer wieder neu verdienen. Durch das Absolvieren von Zugehörigkeitsriten. Durch das Stattfinden im Feuilleton, das Vortanzen auf Buchmessen, durch öffentliches Lügen im Rahmen von renommierten Poetikvorlesungen.

Bitte missversteh mich nicht: Das ist keine Klage. Das ist nicht einmal Kritik. Es ist nur das Eingeständnis, dass mich die Einladung durcheinanderbringt, weil ich feststelle, von welch ungeheurer Demut gegenüber der Möglichkeit des Nicht-Gelesen-Werdens meine Autorenexistenz dominiert wird. Umso mehr, als wir Schriftsteller heutzutage unser Hobby gern zum Beruf machen. Fast ist es ein Naturereignis: Wie viele Schriftsteller in diesem Land von der Literatur leben können, vielleicht nicht vom Bücherverkauf, aber doch von Lesungen, Stipendien und Poetikdozenturen! Das ist ein feiner Luxus sowohl fürs Land als auch für die Autoren. Allerdings erweitert es die Gefahr des Untergehens im Aufmerksamkeitszirkus um eine empfindliche Dimension. Nicht-Gelesen-Werden wäre für die meisten deutschen Autoren nicht nur ein rezeptionsästhetisches, sondern auch ein finanzielles Problem.

Man könnte meinen, das beste Mittel gegen die Angst vor dem Nicht-Gelesen-Werden sei das Schreiben des nächsten Romans. Ist es aber nicht. Es lassen sich Autoren beobachten, die das Schreiben von Romanen praktisch komplett gegen die Ausübung von Gastdozenturen eingetauscht haben. Hin und wieder doch noch erscheinende Publikationen dienen vor allem dem Erhalt der...


Zeh, Juli
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman »Über Menschen« war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021. Zuletzt erschien bei Luchterhand der zusammen mit Simon Urban verfasste Bestseller »Zwischen Welten«.



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