E-Book, Deutsch, 128 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm, Gewicht: 299 g
Zehnder Die Digitale Kränkung
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-03810-482-7
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über die Ersetzbarkeit des Menschen
E-Book, Deutsch, 128 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm, Gewicht: 299 g
ISBN: 978-3-03810-482-7
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit dem legendären Schachmatt von Deep Blue gegen Garry Kasparov 1997 haben Computer den Menschen in nahezu jedem Brettspiel geschlagen: von Schach über Dame bis zu Go, dem komplexesten Spiel der Welt. Kasparov erlebte stellvertretend für die ganze Menschheit die erste digitale Kränkung. Indem der Computer besser Schach und Dame spielen, besser rechnen, ja: besser denken kann als der Mensch, nimmt er ihm zusehends das weg, was ihn bisher auszeichnete: rationale Leistung. Noch nie haben Maschinen den Menschen so grundsätzlich herausgefordert wie heute. Seit der Aufklärung definieren wir uns als vernunftbegabte Wesen. Plötzlich macht der Computer uns diese Ratio streitig. Was bedeutet das jenseits der digitalen Kränkung für das Menschenbild der Zukunft? Und: Folgt auf das rationale Zeitalter der Aufklärung nun das emotionale?
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EINFÜHRUNG: SCHACHMATT Am 11. Mai 1997, nachmittags um 16 Uhr, sass Schachweltmeister Garry Kasparow im 35. Stockwerk eines Hochhauses in Manhattan regungslos vor einem Schachbrett, den Kopf in beide Hände gestützt. Dann schüttelte er den Kopf, stand auf, gestikulierte wild und verliess den Raum. Das bis dahin Unvorstellbare war geschehen: Ein Computer namens Deep Blue hatte den amtierenden Schachweltmeister in einem regulären Match geschlagen. Kasparow war 1997 der beste Schachspieler der Welt und überzeugt, dass eine Maschine ihn nie würde schlagen können. Umso wütender war er nach dem verlorenen Match. DIE MASCHINE BESIEGT DEN MENSCHEN Garry Kimowitsch Kasparow, 1963 in Baku, Aserbaidschan, als Sohn einer Armenierin und eines jüdischen Vaters geboren, hatte im Alter von fünf Jahren die Schachregeln erlernt. Mit zwölf war er bereits sowjetischer Jugendmeister. Kasparow spielte aggressiv und temperamentvoll. Sein Spitzname lautete «das Biest aus Baku». Als er 17 Jahre alt war, erreichte er den Status eines Grossmeisters. 1984, im Alter von 21 Jahren, forderte er den damals amtierenden Schachweltmeister Anatoli Karpow heraus. Karpow war nicht nur der beste Schachspieler der Welt, sondern auch der Liebling der sowjetischen Führung. Kasparow war das egal. Er spielte nicht einfach gegen Karpow, er rannte gegen ihn an, aggressiv, skrupellos – und zermürbte ihn schliesslich. Nach 48 Partien ohne Sieger wurde der Wettkampf abgebrochen und sieben Monate später als Schachweltmeisterschaft 1985 fortgesetzt. Kasparow gewann diesen Kampf und wurde mit 22 Jahren der jüngste Schachweltmeister aller Zeiten. Als Kasparow 1997 gegen Deep Blue verlor, war er 34 Jahre alt und immer noch Schachweltmeister. Zuvor hatte er erklärt, dass eine Maschine es nie schaffen würde, den Menschen im Schach zu besiegen. Bis dahin war es ihm auch mühelos gelungen, gegen die Maschinen zu gewinnen. Bereits 1989 hatte er sich erfolgreich gegen einen Computer namens Deep Thought behauptet. Doch dann hatte IBM Research das Team übernommen, das Deep Thought entwickelt hatte, und diesem enorme Ressourcen für die Weiterentwicklung des Rechners zur Verfügung gestellt. Als Kasparow im Februar 1996 gegen den Nachfolger von Deep Thought antrat, gewann der Rechner denn auch das erste Spiel. Doch Kasparow drehte auf, ging aus drei Spielen als Sieger hervor, erzielte zwei Unentschieden und entschied das Match für sich. Der Mensch hatte noch einmal gegen die Maschine gesiegt. Doch Deep Blue, der dritten Inkarnation des Computers, gelang es schliesslich, Kasparow vom Thron zu stossen. IBM hatte massiv in Rechenkraft investiert. Experten nennen das die «brute force»-Taktik. Der Computer war in der Lage, 200 Millionen Züge pro Sekunde zu berechnen. Dafür arbeiteten 30 Rechnerknoten nebeneinander, die mit je 120 Prozessoren bestückt waren. Diese Rechnerarchitektur erreichte 1997 (für damalige Verhältnisse) sagenhafte 11,38 Gigaflops, war also in der Lage, über elf Billionen Gleitkommaoperationen pro Sekunde zu berechnen. Zu viel für Garry Kasparow. Das erste Spiel des Matchs hatte Kasparow noch gewonnen. Im zweiten wurde er von Deep Blue besiegt, die folgenden Spiele endeten unentschieden, bis Deep Blue das sechste und entscheidende Spiel gewann. Der Computer eröffnete das Spiel mit dem weissen Bauern von e2 nach e4. Kasparow wählte, sehr untypisch für das «Biest von Baku», eine vorsichtige Strategie: die sogenannte Caro-Kann-Verteidigung. Er schob den schwarzen Bauern von c7 nach c6. Kasparow, einer der besten Kenner von Eröffnungen, wusste genau, dass diese Eröffnung für ihn schwierig werden würde – es sei denn, Weiss machte einen Fehler, und darauf setzte er wohl. Denn Weiss kann bei dieser Eröffnung seinen Vorteil nur behaupten, wenn ein Pferd geopfert wird. Und Computer neigten damals dazu, materialistisch Schach zu spielen, das heisst, sie versuchten, den Verlust einer Figur möglichst zu vermeiden. Doch Deep Blue kannte wohl die entscheidende Seite im Buch über Eröffnungen und opferte das weisse Pferd. Wenige Züge später fand sich Kasparows König auf einem Feld gefangen. Kasparow musste den König verteidigen und kam nicht mehr dazu, anzugreifen. Bereits nach 18 Zügen gab er auf. Die Maschine hatte den Menschen besiegt.1 Kasparow tobte. Er beschuldigte IBM, geschummelt zu haben. Der Computer habe im zweiten Spiel im 37. Zug gespielt, wie das nur ein Mensch könne. Die Programmierer hätten den Computer folglich unzulässig unterstützt. Auf der Pressekonferenz erklärte Kasparow, die Partie erinnere ihn an das berühmte Tor, das der argentinische Stürmer Diego Maradona gegen England im Viertelfinalspiel der Fussballweltmeisterschaft 1986 erzielt hatte. Fernsehbilder bewiesen damals, dass Maradona den Ball nicht mit dem Kopf, sondern mit der Hand ins Tor gelenkt hatte. Maradona sprach später von der «Hand Gottes». Kasparow warf den Programmierern vor, die «Hand Gottes» zur Hilfe genommen und sich unzulässig manuell ins Spiel des Rechners eingemischt zu haben. Nach dem Match verlangte Kasparow deshalb von IBM die Veröffentlichung der Computerlogs, auf denen zu sehen war, was der Computer während des Spiels gerechnet hatte. Dass IBM sich lange weigerte, diese Logs herauszugeben, schürte den Verdacht, Kasparow könnte recht haben. Doch Feng-Hsiung Hsu, einer der Konstrukteure von Deep Blue, widersprach Kasparow später in einem Buch vehement. Er konnte belegen, dass Deep Blue schlicht schneller rechnen konnte. Mittlerweile sind auch die Computerlogs verfügbar. Sie belegen, dass 1997 alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Der Computer hatte den Menschen besiegt.2 Oder hatte Kasparow einfach nur einen schlechten Tag? «Kasparow hat gegen den Computer so defensiv gespielt, wie ich ihn noch nie erlebt habe», erklärte Vizeweltmeister Viswanathan Anand gegenüber dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel.3 Kasparow habe nicht sein Schach gespielt, sondern ein «Anti-Computer-Schach. Er hat versucht, Spielverläufe zu verhindern, bei denen die Maschine erfahrungsgemäss besonders gut spielt.» Er wollte die Maschine offenbar mit Spielzügen beschäftigen, für die es in der abgespeicherten Schachbibliothek keine Antwort gab. «Das ist effektiv, aber langweilig.» Auf diese Weise habe Kasparow Stellungen provoziert, «die der Rechner nicht mehr kapiert – Kasparow allerdings auch nicht». Die Niederlage Kasparows könne nur einen Grund haben: «Nicht die Maschine, er selbst hat sich besiegt, weil er zu viel Respekt hat oder zu nervös ist.» Kasparow selbst sah das freilich anders. Noch eineinhalb Jahre nach der verlorenen Schachpartie gegen Deep Blue warf er IBM in einem Interview mit der französischen Zeitung Libération vor, den Schachcomputer manipuliert, «in jeder Beziehung gemogelt» und illegale Methoden benutzt zu haben.4 Warum machte dieses eine Match in Manhattan so grosse Schlagzeilen? Warum wollte Kasparow seine Niederlage um keinen Preis eingestehen? Warum das Theater? Der Computer Deep Blue hatte Garry Kasparow nicht in irgendeinem Spiel besiegt, sondern im Schach, dem königlichen Spiel, dem, wie Stefan Zweig in der Schachnovelle schreibt, «einzigen unter allen Spielen, die der Mensch ersonnen, das sich souverän jeder Tyrannis des Zufalls entzieht und seine Siegespalmen einzig dem Geist oder vielmehr einer bestimmten Form geistiger Begabung zuteilt».5 Schach sei viel mehr als ein Spiel, es sei eine Wissenschaft, eine Kunst! Und ausgerechnet in diesem Spiel hatte der Computer den besten menschlichen Spieler besiegt. Vor diesem Hintergrund wird Kasparows Zorn verständlich. Es war nicht einfach die Wut eines besiegten Manns. Es war die Wut des von der Maschine bezwungenen Menschen per se, es war eine Kränkung. Kasparows Niederlage am 11. Mai 1997 steht für mich deshalb sinnbildlich für die digitale Kränkung der Menschheit, eine Kränkung, die sich seither 100-fach, 1000-fach, millionenfach wiederholt hat. Dieser digitalen Kränkung ist dieses Buch gewidmet. Dass Kasparow das Schachmatch 1997 verlor, beleidigte nicht einfach ein grosses Ego (das wohl auch), es war stellvertretend eine Kränkung der ganzen Menschheit, weil der Computer den Menschen in jenem Punkt übertroffen hatte, von dem der Mensch bis dahin davon ausgegangen war, dass er ihn ausmacht. Der Computer hatte den Verstand, oder, wie Stefan Zweig schreibt, sogar den Geist eines Menschen besiegt. Seit der Antike gilt der Mensch als «animal rationale». Das ist die lateinische Übersetzung der Definition des Menschen von Aristoteles als «zoon logon» echon, als Vernunftwesen.6 Damit hob Aristoteles die Denkfähigkeit des Menschen als jene Eigenschaft hervor, die ihn vom Tier unterscheidet. Immanuel Kant ging vor 250 Jahren noch einen entscheidenden Schritt weiter: Er bezeichnete den Menschen als «animal rationabile», also als potenziell vernunftbegabtes Wesen. Erst die Verwirklichung seiner Vernunftfähigkeit mache den Menschen aus. 1784 schrieb Kant seinen Essay «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?» Er beginnt mit den berühmten Sätzen: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.» Der mündige Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er sich «seines Verstandes ohne Leitung eines anderen» bedienen kann. Kant fordert deshalb: «Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen...