E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Ziegerhofer / Puschner Verfassungsgeschichte Europas
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-534-73721-5
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom 18. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-534-73721-5
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Französische Revolution von 1789 war der Startschuss für die europaweite Forderung nach einer modernen Verfassung. In den Revolutionen des 19. Jahrhunderts war diese der entscheidende Streitpunkt, die Krisen des 20. Jahrhunderts führten zu radikalen Neuorientierungen in der Verfassungsfrage und die europäische Union stellt die Mitgliedsstaaten vor eine ganz neue Situation. So wird deutlich, dass die Verfassungsentwicklung nur gesamteuropäisch betrachtet werden kann, da jede neue Verfassung sich an anderen europäischen Vorbildern orientierte. Anita Prettenthaler-Ziegerhofer zeichnet die grundlegenden europäischen Verfassungsentwicklungen von 1789 bis heute nach. Sie beschreibt die richtungweisenden Verfassungen und ihren jeweiligen Einfluss auf andere Staaten. Darüber hinaus zeigt sie die Auswirkungen der Entwicklung auf den heutigen Stand des modernen Verfassungsstaates und auf die Bemühungen um eine gesamteuropäische Verfassung.
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I. Was versteht man unter „Verfassung“?
Nach herrschender Staatsrechtslehre versteht man unter der Verfassung eines Staates die Summe der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtsnormen, die die staatliche Grundordnung, das sind Staats- und Gesellschaftsform, samt den wesentlichen Organisationsprinzipien festlegen. Verfassung bedeutet ganz allgemein die Grundordnung eines Staates, in der geregelt wird, wer wie Recht erzeugt, regiert, kontrolliert. Sie enthält die „Spielregeln“ des staatspolitischen Prozesses und ist somit Rechtsnormerzeugungsregel. Verfassung als Ordnung des Gemeinwesens Allgemein wird seit Aristoteles (384–322 v. Chr.) Verfassung als Ordnung des Gemeinwesens verstanden. Diese Ordnung stellten Herrscher und Beherrschte auf. Hinsichtlich der Frage, welches Verfassungsmodell das beste sei, entschied sich Aristoteles für die politie, eine Mischform aus Demokratie (Volksherrschaft) und Oligarchie (die Herrschaft weniger Personen). Damit werden bereits zwei wesentliche Elemente des modernen Konstitutionalismus genannt: Aktivbürgerschaft (durch Wahlen) und Limitierung der Herrschaft. In der Bewertung der Verfassung Spartas, die Lykurg zugeschrieben wird, wollte Aristoteles, wie übrigens auch Platon (428/427–348/347 v. Chr.), das System von checks and balances als Gewaltenverschränkung erkannt haben, das später ebenfalls ein Merkmal des modernen Konstitutionalismus darstellen sollte. Die Antike kannte noch keine geschriebene „Verfassung“, nicht zuletzt, weil man kaum eine Unterscheidung zwischen höherrangigen und niedrigrangigen „Gesetzen“ im Sinne einer Normenhierarchie zog, bzw. kaum „erschwerte“ Rechtserzeugungsregeln (etwa Zweidrittelmehrheit) kannte. Der lateinische Begriff constitutiones galt in der spätantiken Kaiserzeit als Sammelbegriff für alle Vorschriften des Imperators mit Gesetzescharakter. Im (späten) Mittelalter fand er nicht im rechtlich-politischen Bereich Verwendung, sondern vornehmlich in der Medizin im Sinne der Beschreibung des Zustandes eines Körpers. Wenngleich bereits im 14. Jahrhundert das Wort „Verfassung“ erstmals im deutschen Sprachraum auftaucht, wurde dieses nicht im modern-rechtlichen Sinne verstanden, sondern erklärte damit nun jenen Zustand, der nach einer Vereinbarung oder Streitbeilegung erreicht worden war. Vereinzelt fand der Begriff Verfassung im deutschsprachigen Raum Anwendung etwa für Erbfolgeregelungen. Seit dem 16. Jahrhundert findet man den Begriff leges fundamentales häufig, in England werden constitution und fundamental laws gleichbedeutend angewandt, was belegt, dass die konstitutionelle Verfassungsbewegung in England an die alteuropäischen leges fundamentales anknüpfte. Diese leges fundamentales, fundamental laws, loi fondamental oder Staatsgrundgesetze, die zwischen Herrscher und Landständen geschlossen werden, sind „für die Ewigkeit“ begründet. E
Landstände Landstände sind seit dem Hochmittelalter die Vertreter gewisser Bevölkerungsgruppen (Klerus, Adel, Bürger, Bauern), die gemeinsam mit dem Landesherrn die Herrschaft über ein Land ausüben. Dieser Dualismus zwischen Landesherrn und Landständen findet im Landtag seine Umsetzung. In der Frühen Neuzeit verlieren sie fast überall weitgehend ihre Mitwirkungsrechte. Von der Bedeutung der leges fundamentales lässt sich die spätere Höherrangigkeit der Verfassung ableiten. Die „Staatsgrundgesetze“ vom späten Mittelalter bis zum Konstitutionalismus umfassen Herrschaftsverträge, Freiheitsbriefe, Nachfolgeregelungen und dynastische Hausgesetze, Friedensschlüsse, aber auch Wahlkapitulationen. E
Wahlkapitulationen Wahlkapitulationen gab es seit dem Mittelalter. Sie stellten ganz allgemein (teils ausverhandelte) Wahlversprechen des Bewerbers dar. Häufig betrafen sie Vereinbarungen über Herrschaftsbefugnisse eines über- oder untergeordneten Herrschaftsträgers oder mehrerer solcher untereinander. Sie betrafen außerdem Vereinbarungen vor allem zu den „Freiheiten“ (= Privilegien) nachgeordneter Herrschaftsträger (Stände). Die Verfassung im Sinne einer Gesamtregelung von Organisation und Ausübung politischer Entscheidungs- und Herrschaftsgewalt war vor dem 18. Jahrhundert noch unbekannt. Die leges fundamentales aber limitierten die Machtausübung des Herrschers zugunsten der Stände. Dies bezeugen etwa die englische Magna Charta Libertatum von 1215, die Goldene Bulle von Andreas II. von Ungarn (um 1177–1235) aus dem Jahr 1222 oder der Tübinger Vertrag von 1514 für das Herzogtum Württemberg. Auf ein Zuwiderhandeln eines Herrschers gegen die Fundamentalgesetze reagierten die Stände mit Widerstand. Die Magna Charta Die Magna Charta steht am Anfang des Prozesses der Fundamentalisierung grundlegender Rechte, Freiheiten und Privilegien der Stände, in dessen Folge die zunächst als unbeschränkt verstandene Souveränität des Monarchen eingeengt wurde. Bereits am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit entwickelten Naturrechtstheoretiker den Gedanken, dass es ein irdisches „höherrangiges Recht“ geben könnte, das den Herrscher an dieses band. Der Gedanke einer Gebundenheit des Herrschers an göttliches Recht reicht bis in die Antike zurück. Der Terminus Konstitutionalismus kann mehrfach definiert werden: Im weiteren Sinne beschreibt er den Prozess der Überwindung überkommener Herrschaftsformen durch die Verabschiedung von „Konstitutionen“. Im engeren Sinne wird damit die spezifische deutsche Ausprägung des Staates im 19. Jahrhundert beschrieben. In Italien etwa wird costituzionalismo als Synonym für die Entstehung des Verfassungsstaates ab dem 18. Jahrhundert verwendet. Das spanische Wort constitucionalismo (Konstitutionalismus) wiederum steht für den espiritu constitucional, den Geist der Verfassung. Erstmals erfolgte die Kodifikation einer Verfassung in den Vereinigten Staaten von Amerika mit der Verfassung von 1787. E
Kodifikation Darunter versteht man die Schaffung eines Gesetzeswerkes, mit dem Ziel der grundsätzlich erschöpfend gedachten Zusammenfassung des gesamten Stoffes eines oder mehrerer Rechtsgebiete in einem einheitlichen Gesetzbuch. Im Sinne des Vernunftrechts versuchte man Rechtssätze und Institutionen des geltenden Rechts aus Postulaten abzuleiten, diese in eine logische Beziehung zueinander zu setzen und in einer (möglichst) lückenlosen Systematik zu erfassen. Beim Verfassungsbegriff unterscheidet man Verfassungen im formellen Sinne und solche im materiellen Sinne. Im formellen Sinne bedeutet Verfassung das geschriebene Gesetz, das die Staatsgewalt legitimiert, organisiert und bindet. Der Verfassungsbegriff im formellen Sinne beschreibt in erster Linie die der Verfassung zugedachten Eigenschaften der Form nach anhand von drei Merkmalen: deklarierte (großteils einheitliche) Verfassungsurkunde, Vorrang vor einfachem Recht und erschwerte Abänderbarkeit. Verfassungsbegriff im formellen Sinne Das wesentliche äußere, formelle Kriterium einer Verfassung ist die schriftliche Beurkundung. Diese sollte in möglichst als solche deklarierten Verfassungsurkunden, idealerweise in einer einzigen Urkunde, erfolgen, da dies zu Stabilisierung, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit beiträgt. Die meisten Verfassungen werden in einer Verfassungsurkunde festgeschrieben oder können auch als Staatsgrundgesetze (z.B. Österreich, Frankreich) bzw. Grundgesetze (etwa Schweden und Norwegen, BRD) oder Verfassungen mit dem Charakter einer Kompilation von Verfassungsgesetzen proklamiert werden, die bis ins Mittelalter zurückreichen (etwa Großbritannien). Letztere Form wird auch als „ungeschriebene“ Verfassung bezeichnet. Ein weiteres formelles Kennzeichen der Verfassung ist ihr Vorrang gegenüber anderen Rechtsnormen: Die politischen Revolutionen, die den Konstitutionalisierungsprozess in den 13 amerikanischen Kolonien bzw. in Frankreich einleiteten, forderten eine rechtliche Beschränkung der Handlungsfreiheit der Staatsorgane. Daraus lässt sich der Vorrang der Verfassung vor anderen Normen schlussfolgern, was erstmals nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 umgesetzt wurde. Allerdings argumentierte bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts der englische Richter Sir Edward Coke (1552–1634) mit der Vorrangigkeit des common law – des richterlich aufgrund der Gleichheit entwickelten Rechts – vor dem Parlamentsgesetz Folgendes: „Und es ergibt sich aus unseren Büchern, dass das Common Law in vielen Fällen Gesetze beeinflusst und sie manchmal als gänzlich unwirksam beurteilt.“ Schließlich hat der Supreme Court in den USA in der bahnbrechenden Entscheidung Marbury versus Madison 1803 den Geltungsvorrang der Verfassung vor dem Gesetz festgelegt. Dieses Urteil erwies sich als richtungsweisend für zahlreiche europäische Staaten. Jedenfalls kann man den Vorrang der Verfassung vor anderen Normen als gemeineuropäisches formelles Element der Verfassung...