E-Book, Deutsch, 268 Seiten
Ziegler Schmerzenskind
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7325-3069-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Aus der Hölle meiner Kindheit in ein glückliches Leben
E-Book, Deutsch, 268 Seiten
ISBN: 978-3-7325-3069-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nina Ziegler wird als kleines Mädchen jahrelang von ihrem Stiefvater misshandelt und missbraucht. Weil die erschütternden Demütigungen im Beisein der Mutter passieren, vertraut sie sich keiner Menschenseele an. Als sie neun Jahre ist, entdeckt ihr leiblicher Vater die blauen Striemen an ihrem Körper und erstreitet sich das Sorgerecht. Doch damit ist die Leidensgeschichte von Nina noch nicht vorbei. Erst als Assistenzhund Bullet in ihr Leben tritt, verliert sie ihre Angst vor anderen Menschen und beginnt, um ein glückliches Leben zu kämpfen.
Nina Ziegler ist 39 Jahre alt, hat zwei Kinder und lebt in der Nähe von Frankfurt. Nina Ziegler ist ein Pseudonym.
Autoren/Hrsg.
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Prolog
Es sind nur noch knapp zwei Kilometer, die ich schaffen muss. Vorsichtig lenke ich den Wagen durch unser still daliegendes Wohngebiet.
Es ist Freitagabend kurz vor 18 Uhr. In den kleinen Einfamilienhäusern ist um diese Zeit schon Ruhe eingekehrt. Die Bewohner haben es sich in ihren vier Wänden gemütlich gemacht. Nur in wenigen Hauseingängen brennt noch eine Lampe. Die meisten Vorgärten sind stockdunkel. Aus Fenstern flackern die grellen Lichter der Fernseher, und in einem hell erleuchteten Wintergarten sitzt eine Familie am Tisch und spielt Karten.
Die Straßen sind um diese Zeit menschenleer. Kein Auto kommt mir entgegen, und auf dem Bürgersteig ist nur noch eine ältere Frau mit ihrem Hund unterwegs. Die wenigen Laternen hüllen die Welt in ein schummriges Licht, das der Abendstimmung um diese Zeit immer etwas Unwirkliches verleiht.
Noch einmal abbiegen, dann ist es geschafft.
Eigentlich bin ich eine gute Autofahrerin. Aber wenn mich diese verdammte quälende Angst packt, fühle ich mich unsicher. Dann fahre ich nur noch im Schritttempo, denn sie schnürt mir nicht nur die Luft ab, sie setzt auch meinen ganzen Körper unter Strom. Meine Muskeln erstarren, und mein Herz pocht so stark, dass mir der Gedanke kommt, ab einem bestimmten Punkt könne es seinen Dienst versagen und einfach aufhören zu schlagen.
Ich japse verzweifelt nach Luft. Das Fenster! Verdammt, warum lässt es sich nicht öffnen? Wo ist die Taste des Fensterhebers? Das Armaturenbrett ist schlecht beleuchtet. Ich kann kaum etwas erkennen.
Die erfolglose Suche bringt mein Herz noch mehr in Fahrt. Es überschlägt sich jetzt fast. Zu allem Unglück wird mir auch noch übel, speiübel. Meine Güte, ich muss mich übergeben. Soll ich bremsen? Nein, Nina, halte durch, es sind nur noch ein paar Meter. Dann hast du es geschafft, motiviere ich mich selbst auf den letzten Metern.
Gleich bin ich da. Ich sehe schon den gelblichen Schein meiner Straßenlaterne. Ich sage »meine Laterne«, weil ich sehr, sehr oft in ihrem warmen Schein stehe und der Parkplatz, den sie in ihr milchiges Licht taucht, mir seit Jahren vertraut ist.
Ich weiß nicht, wie oft ich hier schon mit meinem Wagen gestanden und geduldig darauf gewartet habe, dass diese schreckliche Angst verschwindet und mich zumindest vorübergehend freigibt für ein ganz normales Leben. Ich komme in manchen Wochen jeden Tag hierher und bleibe viele Stunden. Einmal habe ich sogar eine ganze Nacht auf dem Parkplatz verbracht. Aber es gibt auch Tage, an denen es mir so gut geht, dass ich die Auszeit hier unter meiner Laterne nicht brauche. Das sind die Tage, an denen ich wirklich glaube, ich könnte ein ganz normales Leben führen.
Noch einmal drücke ich vorsichtig auf das Gaspedal. Der Wagen rollt fast schon von selbst auf den Parkplatz, der mir einen Hauch ersehnte Sicherheit verspricht. Es ist geschafft! Ich komme vor der hohen Friedhofsmauer zum Stehen. Uff, ich bin da. Gott sei Dank! Doch kaum habe ich den Zündschlüssel auf Aus gestellt, beginnen meine Hände ganz heftig zu zittern. Mir wird heiß, fürchterlich heiß. Mein Körper scheint innerlich zu brennen, und gleichzeitig spüre ich kalten Schweiß auf meiner Haut. Ich bekomme keine Luft mehr, greife mir mit beiden Händen an den Hals, als ob ich mir die quälende Enge einfach wie einen zu fest gewickelten Schal wegreißen könnte. Mein Mund ist trocken. Ich fürchte zu ersticken.
Oh mein Gott, heute packt mich die Angst besonders schlimm. Hektisch krame ich in meiner Handtasche nach meinem Notfallbeutel, der alle Medikamente enthält, die mir während einer dieser schlimmen Angstattacken helfen. Ich weiß genau, was ich jetzt brauche, und schiebe mir viel mehr als die normale Dosis in den Mund. Die Pillen beruhigen mich und helfen, die Situation wieder zu beherrschen. Denn am schlimmsten ist für mich der Kontrollverlust. Wenn die Angst heraufkriecht, kann ich nicht mehr garantieren, dass ich alles im Griff habe. Ich fühle mich dann ausgeliefert und hilflos. Den Pillen aber kann ich vertrauen. Beruhige dich, Nina. Es wird gleich wieder alles gut sein, beschwöre ich mich selbst.
Wie lange es heute dauert, bis die Angst verschwindet, weiß ich nicht. Es kann in einer halbe Stunde sein oder in drei Stunden oder auch erst in zehn Stunden.
Es ist Januar, und draußen weht ein eisiger Wind. In der Frühe hat es geschneit. Die Straßen sind längst freigetaut, aber auf den Grabsteinen ist der Schnee liegen geblieben und schmiegt sich an wie ein Sahnehäubchen auf einem Kuchen.
Ob ich heute noch zurück nach Hause kann? Es geht mir nicht gut. Ich habe im Radio ein Lied gehört, das mich an früher erinnert hat. Verdammte Angst! Sie nimmt mir mein Leben.
Ich schließe die Augen und versuche, mich ganz auf meine Atmung zu konzentrieren. Das habe ich in all den Therapien unzählige Male geübt. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Ich fokussiere mich dabei auf mein Zwerchfell, das sich langsam hebt und senkt, immer wieder und wieder.
Ich weiß nicht, wie lange ich dasitze und nichts tue, außer zu atmen und auf mein Zwerchfell zu achten. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Aber es bewirkt nichts. Ich werde kein bisschen ruhiger. Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, mein Körper könne jeden Moment explodieren. Wumm! Und dann war es das mit meinem Leben.
Mir ist plötzlich fürchterlich heiß, und ich habe Angst zu sterben. »Nina«, sage ich laut zu mir selbst und versuche, mich zur Raison zu rufen. »Nina, komm! Halte durch. Atme. Zähle. Atme.«
Nina! Nina?
»Nina, was ist los? Du rutschst ständig auf deinem Stuhl hin und her. Das ist ja schlimm. Musst du mal Pipi machen? Dann geh bitte auf die Toilette.«
Ich bin sieben Jahre alt und sitze an einem Sechsertisch im Kinderhort in Frankfurt. Wir sollen alle ein Osterbild malen. Doch das Blatt vor mir ist immer noch leer. Während die anderen Kinder ihre Bilder schon fast fertig haben, sitze ich ganz vorn auf dem Stuhlrand und starre auf das Papier. Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Ich kann einfach nicht an Häschen und Ostereier denken. Es tut mir alles so weh. Meine Beine, mein Po, und ganz schlimm brennt mein Rücken.
»Nina? Hörst du bitte. Ich habe dich etwas gefragt.«
Ich höre Frau Bitterbergs Stimme deutlich, aber ich will sie nicht verstehen.
Frau Bitterberg ist meine Betreuerin.
Sie sieht mich jetzt fragend an. Frau Bitterberg kennt mich und weiß, wie gern ich male. Ich male schöne Bilder. Sie sind immer ganz bunt. Oft schaffe ich sogar drei, vier, die Frau Bitterberg dann in meine Kunstmappe legt. Aber heute geht es nicht. Heute funktioniert mein Kopf nicht. Weil mir alles so wehtut. Ich will mich zusammenreißen, wirklich. Ich will nicht, dass jemand etwas merkt, schon gar nicht Frau Bitterberg. Deshalb schüttle ich den Kopf und sage nichts. Ich schaue zu Boden und hoffe, dass sie schnell weitergeht und sich die Bilder der anderen Kinder ansieht.
Aber Frau Bitterberg lässt sich nichts vormachen. Sie sieht genau, dass etwas nicht stimmt mit mir.
Ich versuche jetzt, ganz ruhig zu sitzen. Vielleicht lässt sie mich dann in Ruhe. Aber es geht nicht. Ich kann nicht. Es tut zu sehr weh. Meine beiden Pobacken sehen fast so aus wie das Kotelett, das meine Oma mir kürzlich gebraten hat. Ganz rot. Die Haut ist eingerissen und blutet. Die Schläge, die ich gestern Abend von Heiko bekommen habe, waren schlimmer als alle davor.
Er hörte einfach nicht auf. Wieder und wieder klatschte seine Riesenhand auf meinen nackten Po. Ich versuchte wie immer, mir etwas Schönes vorzustellen, an meinen Stoffteddy Bärchen zu denken. Bärchen ist mein bester Freund. Ich erzähle ihm alles, und er hört mir zu und versteht mich. Wenn ich weinen muss, drücke ich mein Gesicht an Bärchens flauschiges Fell, und wenn ich nicht einschlafen kann, nehme ich ihn ganz fest in den Arm.
Bärchen ist kein normaler Teddybär. Er kann sprechen und sogar singen. Am liebsten singt er mit mir. Und er möchte mir auch helfen, wenn mich Heiko schlägt. Aber das kann er nicht, weil Mama ihn im Schrank wegsperrt. Sie will mich damit bestrafen, wenn ich etwas falsch gemacht habe.
Ich versuchte auch an die süßen Tierbilder aus dem Malbuch zu denken, das ich von Oma Elisabeth zu Weihnachten bekommen habe. Darin sind kleine Hunde abgebildet, genauer gesagt Schnauzer. Solche, die Opa züchtet. Und so süße Rehe, wie ich sie mal mit Opa bei einem Spaziergang gesehen habe. Aber lange konnte ich nicht an die Tiere denken. Denn mit jedem Schlag schmerzte es mehr, brannte wie Feuer. Flapp, flapp, flapp, traf mich seine große Hand. Ich konnte an nichts mehr denken, weder an Bärchen noch an all die anderen Tiere. Erst tat nur mein Po weh, dann mein ganzer Körper und später sogar mein Kopf. Es war, als ob ich ein Feuer in meinem Kopf hätte, das alles verbrannte.
Wenn es so wehtut, dass ich an gar nichts mehr denken kann, dann weiß ich, dass ich bald ohnmächtig werde.
Früher hatte ich Angst davor, aber mittlerweile freue ich mich darauf. Denn dann ist es endlich vorbei.
Aber gestern war alles anders. Mein Blut hielt mich bei Bewusstsein. Ich sah es auf den Boden tropfen, direkt neben Heikos karierten Hausschuhen. Bloß nicht, nein, nein, hämmerte es in meinem benommenen Kopf. Mein...