E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Zimmermann Nichts geschieht
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7412-0346-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-7412-0346-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carsten Zimmermanns neuer Roman "Nichts geschieht" handelt von vier Personen, die in einen Autounfall mit Fahrerflucht verwickelt sind: Ulrich, der Fahrer, von Beruf Psychiater; Erika, seine demenzkranke Schwiegermutter, hinten im Wagen; Oliver, der Überfahrene; und Karl, ein Kriegsveteran, der einen ihm unbekannten Toten am nächsten Morgen im Wald auffindet. Diese vier erzählen sich jeweils selbst, wer sie sind und was geschieht. Was sie sich erzählen, ist Verstehensversuch und Abwehr zugleich. Das eigene Dasein zu interpretieren, ein Ich zu bilden, das plausibel ist, bleibt letztlich imaginär, fragil, ungewiss, formelhaft, es blendet Dinge aus: die Leichen im Keller, die eigene Machtlosigkeit, die Möglichkeit, dass plötzlich nichts mehr geschieht, was erzählt werden kann. So ist jedes erzählende Hinsehen zugleich ein Wegsehen, jedes Begreifen geschieht im Kontext einer grundsätzlichen Unbegreiflichkeit, einer grundlegenden Stille.
Carsten Zimmermann, geboren 1968 in Bonn, studierte Philosophie, neuere deutsche Literatur und Soziologie in Bonn und später in Berlin, wo er heute noch lebt. Er schreibt Lyrik, Prosa und Essays und erhielt mehrere Auszeichnungen.
Autoren/Hrsg.
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2. Erika
Claudia hat einen stattlichen Mann, das muß man ihr lassen, obwohl Ulrich älter geworden ist. Er hat einen ganz schönen Bauch bekommen, und seine tiefgefurchten Sorgenfalten auf der Stirne sind noch tiefer geworden. Als er in mein Zimmer gekommen ist, hat er müde gewirkt, aber er ist ja auch Arzt und hat bestimmt eine lange anstrengende Woche hinter sich, das ist wohl auch der Grund für seine Verspätung gewesen, für die er sich bei mir entschuldigt hat, höflich, wie er ist. Er hat mich dann gemeinsam mit Vera, der Krankenschwester, die ich nicht so leiden kann, weil sie zu resolut ist, in den Wagen gebracht, auf die Rückbank, wie immer, diesen Platz und die Aussicht von diesem Platz kenne ich gut. Mir ist es recht, daß man mich hinten plaziert hat, dadurch reden wir weniger während der Fahrt, Ulrich hat so eine Art, einem mit Fragen zu nahe zu treten, wenn er meint, daß er sich um einen kümmern muß. Dabei könnte er lieber selber Fragen beantworten, aber er weicht nur geschickt aus. Wenn man an eines seiner Geheimnisse rührt, reibt er sich nervös seinen Bauch, aber ansonsten läßt er sich nichts anmerken. Der Gute glaubt immer, daß er alle im Griff hat. Mir gefällt es nicht, daß man mich immer hin und her fahren und tragen muß, aber mein Rollstuhl reagiert nicht, wenn ich ihn selbst bewegen will. Die Schwestern haben mir zwar einmal erklärt, daß man ihn mit den Gummireifen bewegen kann, indem man die Reifen nach vorne drückt, gleichzeitig auf beiden Seiten, aber mir gelingt das nicht, mir fehlt die Kraft, oder sie haben eine Bremse eingebaut, von der sie mir nichts sagen, nur um zu verhindern, daß ich flüchte. Es gibt in unserem Krankenhaus nämlich einige, die versucht haben, zu flüchten, manch einer wird ungeduldig und findet, daß die Behandlung zu lange dauert, die Behandlung dauert auch sehr lange, viele Monate, es wundert mich, daß sie dafür heutzutage das Geld haben. Sie machen auch nicht viel, ganz selten wird einmal einer operiert, eigentlich gibt es nur regelmäßige Waschungen und natürlich die Medikamente, die man dreimal am Tag aus einer weißen Plastikschachtel futtern muß. Wenn ich dem Doktor sage, daß ich die Medikamente doch zuhause einnehmen könnte, daß das Krankenhaus bestimmt freie Betten benötigt und ich doch beinahe wieder gesund bin, antwortet er nur, gewiß, gewiß, aber es ist besser, wenn Sie noch zur Beobachtung bleiben, er windet sich aus der Sache heraus, so ähnlich wie Ulrich, und dann sieht er zu, daß er zum nächsten Patienten weiterkommt. Sicherlich, die Ärzte haben sehr viel Arbeit, das war schon immer so, sie tauchen nur selten auf, vielleicht einmal pro Monat, und dann sind sie nach wenigen Minuten verschwunden. Wir sind eben angefahren, Ulrich hat sich in den Wagen gesetzt und ist losgefahren, ich spüre noch den Schub, jetzt geht es los, die Fahrt dauert nicht allzulange, und dann sehe ich Claudia wieder, nicht nur bei ihrem wöchentlichen Krankenhausbesuch, sondern bei ihr zuhause, darauf freue ich mich. Claudia braucht auch etwas Aufmunterung, sie ist viel zu viel alleine als Hausfrau in dem großen Haus, seit sie Florian ins Internat gesteckt haben, wirkt sie unzufrieden, das ist ja auch verständlich, früher hätte man Kinder nie ins Internat gesteckt, das ist doch auch für den Jungen nichts, aber die drei sind jetzt höhergestellt, weil Ulrich Arzt ist, unter Höhergestellten macht man das mit den Kindern so, auf dem Internat sind die Höhergestellten unter sich, und diese Kinder werden später, wenn sie einen Beruf haben, noch besser dastehen. Nur haben sie dann eine Macke, weil sie nicht genug Mutterliebe, nicht genug Elternliebe bekommen haben. Elternliebe – ich weiß nicht genau, seit wann es mir wieder möglich geworden ist, Vater und Mutter zu besuchen, seit ein paar Jahren vielleicht, seit ich bemerkt habe, daß es diese vielen Gegenden gibt, diese Räume, es ist so, als ob sich etwas verschiebt und dann sind sie da, dann ist man plötzlich mittendrin. Irgendwann hatte ich diesen Geistesblitz, Jesus sagt in der Bibel, in meines Vaters Haus sind viele Wohnungen, jetzt endlich verstehe ich das. Es gibt nicht nur das Oberstübchen, sondern alle möglichen Zimmer, alle möglichen Wohnungen, das Oberstübchen kriegt überhaupt nicht alles mit und ist deswegen auch öfters beleidigt, wenn man ihm nicht die nötige Zeit widmet, manchmal muß man ins Oberstübchen, um es zu beruhigen, es ist wie ein eifersüchtiges Kind. Auch Ulrich und ganz besonders Claudia sind erpicht darauf, daß ich mich im Oberstübchen aufhalte, sie wollen gerne, daß ich von dort aus mit ihnen rede, sonst trauen sie mir nicht, auch wenn sie versuchen, sich nichts anmerken zu lassen. Ulrich und Claudia sind in der Hinsicht ein bißchen beschränkt. Den Schwestern und Ärzten im Krankenhaus ist es egal, wo man gerade ist, aber sie nehmen sich auch nicht wirklich Zeit für unsereinen, sie haben zu tun. Und die anderen Leute im Krankenhaus, es sind eigentlich nur ältere Leute, befinden sich an ganz verschiedenen Orten. Es gibt diesen Raum, wo Vater und Mutter sitzen, sie sitzen in der Küche, der alten von unserem früheren Hof, sie sitzen dort am Küchentisch und warten auf Besuch, Vater in seiner Weste mit der Pfeife im Mund, mit seinen weißen, nach hinten gekämmten Haaren, mit dem Pomadegeruch, Mutter in ihrem Kleid, mit ihrer Schürze, ich kann sie jetzt spüren, aber ich gehe nicht in die Küche, ich bleibe schön brav im Oberstübchen, ich fahre Auto mit Ulrich, zu Claudia hin. Die Rückbank hier hinten ist eigentlich ganz bequem, man hat eine gute Aussicht und ich mag dieses Fahrgeräusch, das das Auto macht, das An- und Abschwellen, das ist wie ein Musikstück, das Ulrich da vorne spielt, ich sehe es, wie er die Pedale tritt, wie er schaltet, den Lenker bewegt, kaum sitzt er am Steuer, wirkt er sehr befaßt mit seinem Fahrzeug, er wird still und geht ganz in dem Fahren auf. Ich glaube, daß Ulrich ein recht netter Kerl ist, er wirkt immer ernsthaft, verantwortungsvoll, dabei etwas kindlich, er ist ein großer Junge, das ist nicht das Schlechteste, das sind Männer, auf die man auch noch einen Einfluß haben kann, wenn sie älter geworden sind, sofern man es geschickt anstellt, ich denke, daß Claudia sich geschickt anstellt, sie wird ihren Ulrich im Griff haben. Männer sind ja oft sehr stur, vor allem ältere Männer, so wie Vater, auch Günther ist ein sturer Bursche, außer in letzter Zeit, da zeigt er sich von seiner Sonnenseite. Ich weiß nicht, woher er die Fabrik bekommen hat, ich dachte, er wäre Schreiner vom Vater her, aber jetzt hat er eine Fabrik, eine Bonbonfabrik, dort stellen sie solche runden, gelben Bonbons mit weicher, fruchtiger Füllung her, die schmecken gut, die haben viele Vitamine, Günther bringt jetzt bei seinen Besuchen fast immer welche mit, ich glaube, er hat die Fabrik geerbt. Jedenfalls hat er jetzt Geld, der Günther, er kann sich blitzblanke Hemden leisten, eine teure Hose, gute Schuhe, er trägt jetzt Lackschuhe, keine Arbeitsschuhe mehr, wenn er mich besucht, er bringt mir Blumen mit, Bonbons und Blumen, er ist ganz romantisch. Es ist nur schade, daß ich im Krankenhaus bin, aber das scheint Günther nichts auszumachen, ich bin ja auch nur vorübergehend dort, ich habe nichts Schlimmes und werde bald entlassen. Außerdem lassen sie mich Ausflüge machen, manchmal picknicken Günther und ich auf unserer Lieblingswiese im Wald, davon erzähle ich Vater und Mutter nichts, sie würden sonst böse werden und sehr besorgt, wenn du deine Unschuld verlierst, findest du keinen guten Mann mehr, haben sie mir eingeschärft, als sie von Günther gehört haben, Günther ist akzeptabel, aber ihr müßt warten, bis ihr verheiratet seid, sonst machst du dich unglücklich und uns alle mit. Es ist schon schlimm genug, wenn die Leute ins Reden kommen, die Leute im Dorf sind mißgünstig und tratschen viel, wenigstens die Wortführer, die Elsbeth zum Beispiel, sie dichten dir etwas an mit ihrer blühenden Phantasie, und dann ist es sehr schwer, den Verdacht wieder loszuwerden. Dabei ist die Elsbeth selber eine Gefallene, sie hatte einige Monate einen Verehrer, der sich dann aus dem Staub gemacht hat, man sagt, daß sie sich ein Kind hat wegmachen lassen, seither ist sie bitter geworden und böse. Aber mein Günther ist anders als Elsbeths Verehrer, er würde mich nicht sitzenlassen, Günther hat mir gesagt, daß er sich verliebt hat in mich ... ah, da zieht es mich wieder, da ist es wieder, das Herabsacken, da ist nichts zu machen, wenn man in der Versenkung verschwindet, geht alles mit, nur ein Zipfel bleibt noch, etwas Licht, ein Saum – Da draußen ist etwas, es ist ein bißchen dunkel hier, so daß es nicht gut zu sehen ist, etwas Graues oder Weißes mit geschwungenen Mustern darauf, ich weiß nicht, ob das ein Krokodil ist oder ob da einer liegt, ob da einer auf dem Bauch liegt, das sind etwas wie Blumenmuster, die sich sanft bewegen, dann ist da noch etwas dran, eine Art Zange, die sich ebenfalls rhythmisch bewegt, leicht kreisend, so ähnlich wie bei einer Nähmaschine, oder ist das ein Tier, das an etwas nagt, man sieht das in dem ungünstigen Licht leider nicht richtig, es ist ganz in der Nähe, hoffentlich ist es nichts Unheimliches, ich weiß gar nicht, wie sie das hier hereingelassen haben, es bewegt sich immer noch, ganz gleichmäßig, einer der Zangenflügel hat einen Aufsatz an der Spitze, das ist ein Daumennagel, der spitze Daumennagel einer sehr alten Frau, der Daumennagel meiner eigenen Hand, die den Pulloversaum reibt, die meinen weißen Strickpullover zwischen den Fingern reibt, ach so, das bin ich, manchmal ist es aber auch kompliziert, ich bin hier hinten im Taxi, der Fahrdienst bringt mich zu Claudia, ich weiß überhaupt nicht, was so Feierliches bevorsteht, daß man mich extra mit dem Taxi...