E-Book, Deutsch, 407 Seiten
Zimmermann Sündenzoll
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-98952-195-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 407 Seiten
ISBN: 978-3-98952-195-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Irene Zimmermann wurde in Ravensburg geboren und studierte Germanistik und Politikwissenschaften in Freiburg. Seit Mitte der neunziger Jahre schreibt sie Kinder- und Jugendbücher, die in insgesamt vierzehn Sprachen übersetzt wurden und von denen es viele auf die SPIEGEL-Bestsellerliste geschafft haben. Inzwischen hat sie sich erfolgreich historischen Romanen zugewandt, in deren Mittelpunkt bewegende Frauenschicksale stehen. Von Irene Zimmermann erscheinen bei dotbooks die historischen Romane der Oberschwaben-Saga »Kranzgeld« und »Sündenzoll«, sowie der humorvolle Roman »Wer braucht ein Ziel, um anzukommen?«
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Kapitel 1
Ein Schwall kalter Luft strömte durch die weit aufgerissene Tür in die Wäscherei. Marie blickte sich flüchtig um, wandte sich dann aber, als sie in der dampfigen Luft die wild gestikulierende Oberlehrerswitwe erkannte, wieder ihrer Bügelarbeit zu. Mit dem Plätteisen war sie damit beschäftigt, vorsichtig die Plisseefalten des grauseidenen Hochzeitskleides zu glätten, das jeden Moment abgeholt werden sollte.
»Am Bahnhof! … Am Bahnhof! … Aufstand der Taglöhner! … Dieses Pack! … Früher hätten die sich das nicht getraut!«
Jetzt horchte Marie doch auf. Hatte Josef nicht davon gesprochen, auch an diesem Tag wieder zum Bahnhof zu gehen? Womöglich, so hatte er beim Morgenkaffee ungewohnt zuversichtlich gemeint, würden die Entlassungen ja wieder zurückgenommen werden. Vielleicht hätte er also doch noch Aussicht auf irgendeine Arbeit bei der Eisenbahn, und wenn es auch nur wieder als Taglöhner sei.
»Eh man sich's versieht, übernimmt dieser gottlose Pöbel die Herrschaft im Land.« Die Stimme der Oberlehrerswitwe überschlug sich vor wohliger Aufregung. »Scharf geschossen wird dort! Ach, wir gehen schrecklichen Zeiten entgegen! Man traut sich heutzutage gar nicht mehr auf die Gasse! Wie gut, dass ein tüchtiger Landjäger wie unser Klotzbücher für Ordnung sorgt!«
Die letzten Worte der Oberlehrerswitwe hörte Marie schon nicht mehr. Und auch nicht das Zetern der Wäschereibesitzerin, die ihr befahl, gefälligst ihre Arbeit zu tun. Denn Marie hatte hastig ihre Schürze abgestreift, nach ihrem wollenen Umschlagtuch gegriffen und stürmte aus der Wäscherei, auf dem schnellsten Weg hinunter zum Bahnhof. Dort, auf dem Vorplatz, entdeckte sie schließlich Josef in dem Häuflein der Entlassenen.
Von Krawall konnte keine Rede sein. Schweigend standen die Männer da, ihre Gesichter aschfahl. Ihnen gegenüber in einigen Metern Abstand eine Ansammlung, Frauen und Kinder vor allem, die von Minute zu Minute anwuchs. Und zwischen den beiden Gruppen marschierte der verhasste Landjäger Klotzbücher auf und ab, ein schwerer Mann mittleren Alters mit wucherndem Backenbart und einer fleckigen Uniformjacke, die über dem dicken Bauch spannte. Seinen Revolver hielt er seitwärts auf die Männer gerichtet. Nichts war zu hören außer den schweren Tritten seiner genagelten Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster.
»Er wartet nur auf Verstärkung. Er will alle festnehmen lassen«, flüsterte eine junge Frau Marie zu. »Wegen Aufruhr ins Zuchthaus bringen. Aber das kann er doch nicht machen? Oder?« Blassblaue Augen sahen Marie ängstlich an. Eine eiskalte Hand krallte sich um ihren Arm. »Oder? … Kann er?«
»Das kann er … nicht«, schob Marie nach einem zweiten Blick auf die junge Frau nach. Das arme Mädchen in der schäbigen grauen Jacke, dem Dialekt nach eine Ortsfremde, stand kurz vor der Niederkunft. Sie musste eine von denen sein, die auf der Suche nach Arbeit mit ihren Männern von Ort zu Ort zogen. »Nein, das kann er nicht«, wiederholte sie.
Die junge Frau lächelte sie dankbar an. »Nein, er kann sie nicht verhaften!«, rief sie plötzlich mit schriller Stimme, und als hätte die Menge nur auf ein Signal gewartet, fielen wie ein Chor alle mit ein. »Nein, er kann sie nicht verhaften! Nein, er kann sie nicht verhaften! Nein …!«
Der Landjäger hatte seine Waffe in die Höhe gerissen, ein Schuss peitschte, und so unvermittelt, wie die Rufe begonnen hatten, verstummten sie. Neben sich hörte Marie ein dumpfes Gurgeln, und es dauerte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, dass es von der Schwangeren kam, die zu Boden gesunken war. Im selben Moment spürte sie, wie jemand sie unsanft an der Taille packte und zur Seite schob. »Hau ab, hier wird’s gefährlich«, zischte ihr der schweißüberströmte Klotzbücher direkt ins Ohr. Seine Stimme überschlug sich, als er sich wieder umdrehte und brüllte: »Ruhe und Ordnung! Das ist ein Befehl! Oder ich schieß euch alle über den Haufen!«
Tumultartige Szenen, so war es Tage später im Schwäbischen Merkur zu lesen, hätten sich auf dem sonst so friedlichen Bahnhofsvorplatz zugetragen. Eine aufsässige Menschenmenge habe gegen die Obrigkeit revoltiert, und nur der Geistesgegenwart und dem besonnenen Einschreiten des örtlichen Landjägers Egon Klotzbücher sei es zu verdanken, dass eine größere Katastrophe verhindert worden sei. Für dieses vorbildliche polizeiliche Handeln stehe ihm wahrhaft ein königlicher Orden zu.
Wie betäubt wankte Marie nach Hause. Voller Sorge stand sie dann am Fenster ihrer Kammer in der Kirchgasse, spähte stundenlang vergeblich nach draußen, wo das gleiche Treiben wie jeden Tag herrschte: Ochsengespanne, die es kaum den steilen Berg hinauf schafften, Hausfrauen, die mit einem Korb am Arm vorbeieilten, Mägde, die sich am Brunnen trafen, Kinder, die ihre kleineren Geschwister hüteten, laut stritten und sich dann wieder vertrugen, alles war wie immer. Nur Josef fehlte. Was war mit ihm geschehen? Hatte der Klotzbücher ihn verhaftet? Sollte sie sich auf die Suche nach ihm machen?
Unschlüssig ging Marie in der Kammer auf und ab. Wieder sah sie das feiste Gesicht des Landjägers vor sich, der sich so nah an sie gedrängt hatte, dass sie seinen stinkenden Atem zu riechen glaubte. Vielleicht hatten Ella und die anderen Frauen in der Wäscherei doch recht mit ihren lockeren Reden, dass nämlich der Klotzbücher ein Auge auf sie, die schöne Marie, geworfen habe. Sie selbst hatte das immer abgetan. Ach was, das habe nichts zu bedeuten, und dass der Klotzbücher die Hemden nur von ihr gebügelt haben wolle, liege nur daran, dass sie eben besonders sorgfältig bügle. Insgeheim aber war sie doch beunruhigt gewesen, bemühte sich, nicht allzu deutlich zu zeigen, wie zuwider ihr der Landjäger war. Denn ihn, das wusste jeder im Dorf, sollte man keinesfalls zum Feind haben.
Das Angelusläuten vom nahen Kirchturm war längst verklungen, als sie Josef endlich die schmale Gasse entlangkommen sah. Eigentlich hätte sie überglücklich sein müssen – er war wieder zurück, auch wenn seine Jacke zerfetzt war und er eine geschwollene Lippe hatte –, doch stattdessen schüttelte sie ein heftiger Weinkrampf. Sie beruhigte sich erst wieder, als er ihr versicherte, dass alle Männer freigelassen worden seien, es der Schwangeren wieder besser gehe und die Menge sich friedlich verlaufen habe. »Aber unsere Träume können wir endgültig begraben.« Erschöpft ließ er sich auf einen Küchenstuhl fallen und stützte die Ellbogen schwer auf den Tisch. »Die Bahn hat uns betrogen. All die schönen Versprechungen sind keinen Pfifferling mehr wert. Marie, ich sag es, wie es ist: Mit unsereinem wird es in diesem Leben nichts mehr. Und es ist allein meine Schuld. Wenn der Hof nicht durch mein Verschulden verloren gegangen wär … Ein auskömmliches Leben hätten wir und nicht so ein erbärmliches Taglöhnerdasein.«
Marie beugte sich vor und nahm seine Hand, doch sie wusste, es gab keinen Trost für ihn. Denn es war nicht nur der Verlust des Hofes, es waren auch die ständigen Demütigungen, die Josef zermürbten. Keiner der Bauern war bereit gewesen, ihn zumindest als Knecht einzustellen, und mit versteinerter Miene hatte er ihr vor einiger Zeit erzählt, dass der Moserbauer, der seinen Hof ersteigert hatte, ihm seinen alten Platz am Stammtisch im Adler verwehrt habe mit den Worten: »Gsellhuber, hast du’s immer noch nicht kapiert? Du hast keinen Hof mehr. Du bist keiner mehr von uns. Also verschwind! Lass dich bloß nicht mehr bei uns blicken!«
Doch dann, nach Wochen voller Schwermut, in der nicht einmal die Malerei half, die ihn bislang in diesen schwarzen Momenten getröstet, ja vielleicht sogar gerettet hatte, gab es plötzlich einen Lichtblick. Über den Schwiegersohn, den Mann von Agnes, der jüngeren Tochter, bekam Josef Arbeit beim Eisenbahnbau, als Tagelöhner zwar nur, aber mit der verheißungsvollen Aussicht, falls er sich dort bewährte, eines Tages angestellt zu werden. Ab diesem Zeitpunkt war er wie verwandelt gewesen und trotz der schweren Arbeit voller Tatendrang. Gut gelaunt las er Marie jeden Wunsch von den Augen ab, kaufte ihr von seinem ersten Wochenlohn sogar den teuren, mit künstlichen Blumen verzierten Florentinerhut, den sie auf dem Jahrmarkt bei einem der Händler sehnsüchtig angeschaut hatte.
Er begann auch wieder zu malen, und einmal mehr staunte sie über sein Können. In Wirklichkeit ist er ein Künstler und gar kein Bauer, dachte sie, als er ihr ein kleines Aquarell zeigte, das er in kurzer Zeit auf Papier gebracht hatte. Den Kirschgarten am Dorfrand besaßen sie zwar schon seit einer Weile nicht mehr, doch noch immer war er Josefs Lieblingsmotiv in seiner schwelgerischen weißen Blütenpracht und, mittendrin, an einen der Bäume gelehnt, Marie, eine schlanke Gestalt mit leuchtenden Augen, die dicken schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten und kranzförmig um den Kopf gelegt. »Wie eine Krone«, hatte sie lachend gemeint, und Josef küsste sie und nannte sie seine Königin, behauptete, sie sehe immer noch aus wie das Mädle von einst. Verlegen hatte sie abgewehrt, so jung war sie schließlich nicht mehr, aber gefreut hatte sie sich dennoch darüber. Sie begannen auch wieder, Zukunftspläne zu schmieden: Wenn ihre Schulden erst abbezahlt waren – sie hatten sich Geld von Seffi, der ältesten Tochter, geliehen, die in Zürich gut verheiratet war –, wollten sie als Erstes den Kirschgarten zurückkaufen, das Symbol ihrer Liebe, wie Josef ihn bezeichnete.
Doch dann, schon Tage vor dem Aufruhr am Bahnhof, hatte es beunruhigende Anzeichen gegeben. Ein Trupp junger Vorarlberger tauchte auf, kaum den Kinderschuhen entwachsen, aber voller Kraft und Eifer, und schnell hatte das Gerücht die Runde gemacht, alle Männer, die älter als vierzig seien,...