E-Book, Deutsch, 724 Seiten
Reihe: OLZOG Edition
Zitelmann Hitler
6. Auflage 2025
ISBN: 978-3-95768-271-0
Verlag: Lau Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Selbstverständnis eines Revolutionärs
E-Book, Deutsch, 724 Seiten
Reihe: OLZOG Edition
ISBN: 978-3-95768-271-0
Verlag: Lau Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Dr. Rainer Zitelmann studierte Geschichte und Politikwissenschaft und promovierte mit dieser Arbeit über Hitler. Er war Wissenschaftlicher Assistent an der Freien Universität Berlin, danach Ressortleiter bei der Tageszeitung »Die Welt«. Jüngst promovierte er ein zweites Mal - in Soziologie an der Universität Potsdam. Er hat 20 Bücher geschrieben, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Biographien & Autobiographien: Historisch, Politisch, Militärisch
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Geschichte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Faschismus, Rechtsextremismus
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Gewalt Revolutionäre Gruppen und Bewegungen, Bewaffnete Konflikte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politikerbiographien
Weitere Infos & Material
Hitler und der Nationalsozialismus in der jüngeren Geschichtsschreibung1 (1996 – 2016)
Seit der erstmaligen Publikation dieses Buches vor 30 Jahren ist kein Werk mehr zu diesem Thema erschienen – aber natürlich eine Flut von Büchern und Aufsätzen über Hitler und den Nationalsozialismus. Der Versuch, all diese Forschungen zu würdigen und die Kontroversen zu kommentieren, würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Dennoch will ich auf den folgenden Seiten auf einige wichtige Arbeiten zum Nationalsozialismus und Hitler-Biografien eingehen, und zwar insbesondere dann, wenn deren Ergebnisse in einer Beziehung zu den Fragestellungen stehen, die dieses Buch leiten.
Die Arbeit, deren 6. Auflage der Leser in Händen hält, entstand 1985/86 bei Karl Otmar Freiherr von Aretin als Dissertation an der Technischen Hochschule Darmstadt. In ihr wurden erstmals auf einer breiten Quellenbasis Hitlers sozial-, wirtschafts- und innenpolitische Vorstellungen untersucht und rekonstruiert. Zugleich sollte sie einen Beitrag dazu leisten, die Attraktivität und Massenwirksamkeit des Nationalsozialismus verständlich zu machen, indem stärker als bisher sozialrevolutionäre Motive in Hitlers Weltanschauung in den Blick genommen wurden. Als das Buch 1987 erstmals erschien, ist es international in der Forschung auf eine überwiegend sehr positive Resonanz gestoßen2, und nach einer gründlichen Sichtung der neuen Literatur kann ich sagen: Die Ergebnisse haben Bestand und die Relevanz der hier aufgeworfenen Fragestellungen wird durch eine Reihe neuerer Forschungsarbeiten bestätigt.3
Ausgangspunkt meiner Analyse war der Befund, dass jene Komponenten in Hitlers Weltanschauung – Antisemitismus und Lebensraumideologie –, welche bislang vorwiegend von der Forschung beachtet worden waren, nicht der Grund für die Attraktivität und Massenwirksamkeit des Nationalsozialismus waren, zumal sie in Hitlers Reden der Jahre 1929 bis 1932 kaum eine Rolle spielten. Auch Erklärungsversuche, die vor allem auf irrationale Komponenten abhoben, konnten meiner Meinung nach nicht überzeugen. Dagegen betonte ich die sozialistischen und revolutionären Motive in Hitlers Weltanschauung und das Versprechen sozialen Aufstiegs als wesentliche Ursachen für die Anziehungskraft des Nationalsozialismus.
Zu ganz ähnlichen Ergebnissen – freilich aus anderer Perspektive – kam 1996 William Brustein in seinem Buch »The Logic of Evil. The Social Origins of the Nazi Party, 1925 – 1933«. »My central thesis is«, so Brustein, »that the mass of Nazi followers were motivated chiefly by commonplace and rational factors – namely, their material interests – rather than by Hitler’s irrational appeal or charisma.«4 Der Antisemitismus, hier stimmt Brustein mir ausdrücklich zu5, spielte in der Phase des Aufstiegs der NSDAP in den Jahren 1929 bis 1933 nur eine untergeordnete Rolle.6
Auf Basis der Auswertung von Datensätzen, die er und Jürgen W. Falter zusammengetragen hatten, kam Brustein zu dem Ergebnis, dass 40 Prozent der Personen, die sich in den Jahren 1925 bis 1933 der NSDAP als Mitglied anschlossen, Arbeiter waren. Bereits Jürgen W. Falter hatte herausgefunden, dass Arbeiter viel stärker in der NSDAP-Wählerschaft repräsentiert waren, als bislang angenommen worden war.7 Brustein zeigt, dass unter den Mitgliedern der NSDAP gut ausgebildete Arbeiter deutlich über- und weniger gut ausgebildete Arbeiter unterrepräsentiert waren.8 Gerade für diese Gruppen in der Arbeiterschaft sei Hitlers Versprechen des sozialen Aufstieges – ein Thema, das im vorliegenden Buch eine große Rolle spielt – besonders attraktiv gewesen. »The desire for economic advancement and the perception that the NSDAP, alone among the working-class parties, responded to that desire made the NSDAP a likely choice for millions of German workers.«9
Mit den Thesen meines Buches korrespondieren auch Brusteins Befunde: »By combining nationalist-etatist thinking with creative Keynesian economics, the NSDAP, more than any other party, fashioned a program that addressed the material concerns of many German workers.«10 Antisemitismus, Hypernationalismus und Xenophobie, so Brustein, »played a marginal role in the rise of the NSDAP«. Wesentlich wichtiger sei gewesen: »The Nazi Party alone crafted economic programs that in the perception of many Germans could redress their grievances or provide the means to greater social mobility«.11
In diesem einleitenden Forschungsüberblick befasse ich mich mit der Hitlerforschung seit 1996, denn bis zu diesem Jahr liegt eine ausgezeichnete Darstellung von John Lukacs vor, die 1997 gleichzeitig in Amerika und Deutschland erschien: »Hitler. Geschichte und Geschichtsschreibung«. Es handelt sich dabei um eine historiografische Arbeit, die einen Überblick über die weltweite Hitlerforschung vermittelt und versucht, ein Resümee zu ziehen. Zugleich stellt Lukacs dar, welche Folgerungen er selbst aus der Forschung zieht. Er folgt in seiner Deutung der Interpretation, die ich im vorliegenden Buch entwickelt hatte. »Nicht nur die immense Flut von Quellen, Forschungsarbeiten und Schriften zu Hitler, sondern auch eine bestimmte Perspektive führt mich zu einer verblüffenden Aussage: Hitler war womöglich der populärste revolutionäre Führer in der Geschichte der modernen Welt.«12
Es gelte, neu zu überdenken, wer Hitler war und was die Begriffe »fortschrittlich« und »modern« bedeuten. Lukacs betont die »modernen«, »sozialen« und »fortschrittlichen« Aspekte in Hitlers Weltanschauung – »nicht um sie zu verharmlosen, sondern im Gegenteil, um die gefährliche Anziehungskraft verständlich zu machen, die sie in der Vergangenheit (und manchmal zumindest potenziell auch in der Gegenwart) hatten«.13 Lukacs kam zu dem Ergebnis, »dass Hitler eine neue Art von Revolutionär war, ein populistischer Revolutionär in einem demokratischen Zeitalter, ungeachtet aller damals noch vorhandenen älteren Elemente der deutschen Institutionen und der deutschen Gesellschaft, von denen er viele für seine Zwecke zu instrumentalisieren verstand«.14 Hitler sei kein Reaktionär gewesen, sondern habe im Gegenteil die Reaktionäre als seine gefährlichsten Feinde in Deutschland betrachtet. Man müsse Hitler beim Wort nehmen, um ihn zu verstehen. »Man sollte darauf achten, was er meinte. Ein Revolutionär will nicht nur das Staatsschiff auf einen anderen Kurs bringen; er will die Gesellschaft neu gestalten.«15
Laut Lukacs hat meine Forschungsarbeit über Hitlers Selbstverständnis als Revolutionär mehrere Beiträge »von unbestreitbarer Gültigkeit« gebracht. Dazu gehöre vor allem die Erkenntnis, »dass Hitler tatsächlich ein Revolutionär war und dass folglich seine Ziele und Visionen modern waren, egal, welche traditionellen deutschen Wurzeln sie gehabt haben mögen. Somit waren auch seine Vorstellungen und Pläne für die Umgestaltung der deutschen Gesellschaft modern …«16 Weiterhin stimmte Lukacs mir in dem Befund zu, »dass Hitler im Gegensatz zur landläufigen Meinung in wirtschaftlichen Angelegenheiten weder ignorant noch gleichgültig war«.17
Lukacs verwendet einen Begriff, den ich selbst in meinem Buch nicht verwendet habe – der jedoch Jahrzehnte später in aller Munde ist: den des Populisten. Hitler, so Lukacs, »war ein Populist. Er glaubte an die Souveränität des Volkes, stand für einen modernen Populismus und war kein altmodischer Demagoge.« Zwar habe es vor Hitler schon Populisten gegeben, aber Hitler habe erkannt, »dass der moderne Populismus von Natur aus nationalistisch und, wichtiger noch, der Nationalismus populistisch sein musste«.18 Mit diesen Einordnungen wollte Lukacs Hitler nicht beschönigen – ganz im Gegenteil. Er selbst bezeichnete sich immer wieder als »Reaktionär« und war einer der ersten Historiker, der nachdrücklich vor den Gefahren des modernen Populismus warnte.
2001 erschien ein Überblick über die NS-Forschung von Ulrich von Hehl. Er steht meinen Thesen distanzierter gegenüber als Lukacs, räumt jedoch ein, ich hätte damit die »Forschung belebt«19. Nach Hehl gehe ich von drei »Voraussetzungen« aus20: »1. der Ablehnung eines normativ besetzten Modernisierungsbegriffs; 2. einer Entkoppelung des konstitutiven Zusammenhangs von Modernisierung und Demokratisierung; 3. der generellen Infragestellung der These von der unbeabsichtigten Modernisierungswirkung des Nationalsozialismus, die er [Zitelmann] im Gegenteil als ›intendiert‹ beschreibt.«21 Zudem, so fasst Hehl zutreffend meine Forschungsbefunde zusammen, sei ich der Auffassung, »dass Hitlers Denken über die hinlänglich bekannten außen- und rassenpolitischen Ziele hinaus ernst zu nehmende wirtschafts-, gesellschafts- und...




