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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Zwicker Hier können Sie im Kreis gehen

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-312-01010-3
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Im Alter von 91 Jahren kommt der demente Witwer Johannes Kehr ins Pflegeheim. Nur: Seine Demenz ist vorgetäuscht. Im Heim hofft Kehr, seine Ruhe zu finden. Aber so einfach ist es nicht. Er beobachtet die schrulligen, nicht selten aggressiven Mitbewohner und die Nachlässigkeit der Pfleger. Seine vorgetäuschte Demenz nutzt er, um Desserts zu stehlen und Gehhilfen unliebsamer Nachbarn zu verstecken. Bald aber wird seine Schauspielerei anspruchsvoller; je vertrauter ihm das Heim wird, desto größer ist die Gefahr einer Enttarnung. Als zufällig seine Jugendliebe Annemarie auftaucht, flackert die alte Zuneigung erneut auf. Ein literarisch feinfühliges Debüt, beobachtungsstark und intensiv.
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1   Komm nur herein, mein Kätzchen, komm herein. Die Tür war wohl offen? Ich habe das Hörgerät nicht eingesetzt. Aber du gehst ohnehin auf leisen Pfoten. Das mag ich an dir. Hunde sind mir zu menschlich mit ihrem Gepolter, Gehechel und Gebell. Erlaube, dass ich die Tür schließe. Wenn du rauswillst, melde dich. Ich lege mich hin. Heute bin ich müde, weiß der Kuckuck, warum. Ja, komm nur her. Leg dich zu mir. Wie schön du schnurrst, wenn ich dir den Nacken kraule. Lass dich von mir nicht stören. Ich denke und rede vor mich hin. Mein Schlaf kommt nicht so rasch wie deiner, und Denken ist eine gute Beschäftigung. Wo war ich? Selbst wenn der Kopf noch taugt, früher taugte er einfach mehr. Was man von mir sagen würde. Das hatte ich mir gerade überlegt. Für viele die entscheidende Frage. «Verrückt», würde das Urteil lauten, wenn ich sie unter den Schleier blicken ließe. Einundneunzig Jahre alt, herzlos und verrückt. Aber so weit kommt es nicht. Der Vorhang bleibt unten. Bleibt sitzen, ihr Richter und Henker. Ihr sitzt so bequem. Ich habe das Gericht inzwischen durch die Hintertür verlassen. Aber an Nachschub für die Anklagebank mangelt es euch ja nie. Ich habe lange zugeschaut. Als ich jung war, sah ich die Leute alt werden und verblassen. Sie entfernten sich scheinbar von mir, es war die Vergänglichkeit, die ich den Menschen ansah. Ich hatte alles vor mir. Mein Leben hatte noch gar nicht angefangen. Später sah ich die Menschen dann zu mir heranwachsen. Ich hatte sie überholt, und sie waren mir auf den Fersen. Und bald fühlte ich mich in die Enge getrieben. Den Weg nach vorn versperrte mir der Tod, der immer unverhohlener auf mich schielte, während er erst sporadisch, bald regelmäßig an die Türen meiner Bekannten klopfte. Er war mir ein altbekannter und doch nicht minder unsympathischer Begleiter. Die meisten sehen es falsch. Sie glauben, die Alten würden abgehängt. Sie glauben, die Alten verlören den Anschluss, weil der Zahn der Zeit ihre Geister und Körper daran hindert, mit dem rasenden Fortschritt mitzuhalten. Das stimmt aber nicht. Der Fortschritt gestaltet nur die Kulisse. Und in diesem ewigen Trauerspiel liegen die Alten immer vorn. Letzter Akt: die letzte Sünde. Anstatt ihre verbleibende Zeit in die Hand zu nehmen, anstatt nach vorne zu schauen, wie sie es früher immer wollten, drehen sie sich um. Sie schauen ihren Kindern und Kindeskindern beim Wettlauf zu und kommentieren jeden Atemzug. Viele sind so bösartig, ihre Verfolger anzufeuern, obwohl sie deutlich sehen, dass hinter der Ziellinie nur Ödland liegt. Entschuldige, Kätzchen, du hast es dir bequem gemacht. Aber ich muss mich bewegen. Mein Rücken zwickt. Und die Schulter. Bleib du auf dem Bett, ich setz mich in den Sessel. Ein Hochzeitsgeschenk von meinen Schwiegereltern. Seit fünfundfünfzig Jahren habe ich ihn schon. Man sieht es ihm an. «Runter von Vaters Sessel!», schimpfte Ursula immer, wenn die Kinder darauf herumtollten. So ist es besser. Der Sessel ist meinen Körper gewohnt. Das Bett hätte da noch viel zu lernen. Aber es wäre wohl vergebene Müh. Die Erinnerung bleibt. Die Erinnerung und, in meinem Fall, ein Sessel. Manchmal würde ich auch gern die Erinnerung verlieren. Obwohl, das ist dummes Geschwätz. Genug geruht? Du bist jung. Was wären meine einundneunzig Jahre wohl in Katzenjahren? Ich mache dir die Tür auf. Auf Wiedersehen, Kätzchen. Danke fürs Gespräch. Ein besseres hatte ich lange nicht.     2   Sophie, diese Geschichte ist für dich. Ich erzähle sie dir, weil du sie nicht hören kannst. Du bist nur eine Fotografie über meinem Bett. Und dennoch stockt mir die Stimme. Ich habe die Kamera aus dem Büro geholt und dich damit überrascht, wie ich dich jetzt mit meiner Geschichte überrasche. Du hast meine alte Fuji-Kamera geliebt. Ich habe sie dir vermacht. Du sitzt am Esstisch in meiner alten Wohnung. Dein Oberkörper ist gerade, du blickst mich an und lächelst. Vielleicht hast du im Flur meine Schritte gehört und dich gefreut, dass ich zurückkomme. Deine schulterlangen hellbraunen Haare sind locker zusammengebunden. Zwei Strähnen haben sich gelöst. Das warme Braun deiner Augen lässt sich auf dem Schwarzweißfoto nur erahnen. Einer deiner kleinen Silberohrringe ist zu sehen. Mir hat es immer gefallen, dass du so natürlich aussiehst, so ungekünstelt. Du hast mich an dem Abend auch fotografiert. Erinnerst du dich? Es war der 2. September, Mitternacht und damit mein Geburtstag vorüber. Das war vor über einem Jahr. Mir kommt es vor wie ein Leben aus dem Geschichtsbuch. Die Biographie eines Toten. Franziska und Hans waren da gewesen. Hans hatte sich wie immer unwohl gefühlt und sich beim ersten günstigen Moment ins Wohnzimmer verdrückt und gelesen. Dort hatte er ausgeharrt, bis er mit Franziska nach Hause fahren durfte. Wir fühlten beide ähnlich bei solchen Zusammenkünften, dein Vater und ich, und doch kamen wir uns nie näher. Adrian wohnte neuerdings mit Freunden, und auch er sehnte den Abschied herbei, weil wahrscheinlich Aufregenderes als ein neunzigster Geburtstag des Großvaters wartete. Sebastian, das Küken, war im Austauschjahr in Amerika. Natürlich erinnere ich mich an die Namen. Du bist noch geblieben, als die anderen gingen. Wie so oft. Und da wurde mein Geburtstag auch für mich ein Fest. Wir saßen am Tisch und tranken Kaffee und Slibowitz, den du mitgebracht hattest. Deine Nachbarin hatte dir die Flasche geschenkt. Sie war erst vor kurzem mit der Familie in die Schweiz gekommen. «‹Schliwowitza› nennen sie ihn dort», hast du mir erklärt. Ein Heilmittel gegen jegliche Schmerzen. An meiner Kamera hat dir so gefallen, dass du dich auf die Fotos freuen konntest, weil sie erst entwickelt werden mussten. «Die Menschen haben keine Geduld mehr», hast du gesagt. Aber so geduldig warst du dann auch nicht, als du noch siebenmal auf mich gezielt und abgedrückt hast, um den Film zu füllen. Eine Porträtstudie hast du es genannt und mir erklärt, welche Effekte du mit der Blende und der Belichtungszeit erzielen wolltest. Obwohl wir beide mit ernsten Mienen unsere Rollen spielen wollten – du die professionelle Fotografin, ich das launische Model –, konnten wir unser Grinsen nicht immer unterdrücken. «Ich liebe dieses Geräusch», hast du vom Klicken gesagt. «Nicht so grimmig, Großvater. Lächeln!», und gleich darauf wolltest du mein grimmigstes Gesicht sehen. Nach dem letzten Bild hast du zurückgespult, versonnen und mit vorsichtigen Handgriffen. Und dann hast du den Film aus der Kamera geklaubt, mit mir geschimpft, weil die Plastikdose, in der man ihn aufbewahren sollte, verschwunden war, und ihn in deine Tasche gesteckt. Du hast mich angesehen, mit deinen guten Augen, die so tröstlich schauen können, mit der Hand dreimal auf deine Tasche geklopft und gesagt: «Vorfreude.» Ich habe gelacht und war stolz, weil du so klug und gut und schön bist. Und dann wurde ich traurig, weil ich an Paul denken musste. Und deshalb schenkte ich mir noch einen Schliwowitza ein. Ich muss immer an Paul denken, wenn ich dich sehe. Du hast so viel von Paul. Was mich erstaunt, weil du Franziskas Tochter bist. Aber du hast eben auch, was Paul gefehlt hat. Und deswegen mache ich mir um dich keine Sorgen.     3   Am liebsten ist mir der Gedanke, dass ich es aus Liebe tue. Das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Aber das Leben hat mich gelehrt, dass die Liebe fast immer bloß die halbe Wahrheit ist. In meinem Fall ist auch eine gehörige Prise Eigennutz dabei, das gebe ich zu. In unserer Gesellschaft werden ich und meinesgleichen als Gnadenbrotempfänger angesehen. Ich will das nicht verurteilen. Ich stelle nur fest, wie ich es empfinde. Für die Jungen ist es selbstverständlich, dass sie unsere Zügel in den Händen halten. Ich habe mir erlaubt, meine Zügel ein letztes Mal zu greifen. Und um sicherzugehen, dass mir niemand meinen Gaul lahm- oder meinen Hintern weichreden konnte, habe ich gesattelt, ohne jemandem davon zu erzählen, und bin in eine Richtung geritten, in die mir niemand folgen kann.     4   «Guten Morgen, Herr Kehr, haben Sie gut geschlafen?» Er schaut sie an, sein Blick zuckt in alle Richtungen durchs Zimmer, ruht kurz auf dem verlassenen Bett, das hinter dem Vorhang hervorlugt. Dann richtet er ihn wieder auf sie. «Ja, ich habe gut geschlafen», sagt er zögerlich. «Wer sind Sie? … Ich habe Sie schon einmal gesehen … ja … aber ich habe Ihren Namen … im Schrank, ja.» «Ich bin Frau Feller, Herr Kehr. Ich bin hier, um Ihnen aus dem Bett zu helfen.» «Aus dem Bett? … das Bett … das Bett, das Bett. Haben Sie meine Brille gesehen? Das ist nicht mein Bett. Das werde ich melden.» «Schauen Sie, hier auf dem Nachttisch ist Ihre Brille. Hier. Ich gebe sie Ihnen.» Herr Kehr setzt seine Brille auf, schaut sich wieder im Zimmer um und fährt mit kreisenden Bewegungen der rechten Hand durch seine weißen, noch dichten struppigen Haare. «Kommen Sie», sagt Frau Feller, «ich helfe Ihnen auf.»     5   Wie wenig es doch braucht, um aus einem kahlen Zimmer sein eigenes Zimmer zu machen. Oder aus einem kahlen halben Zimmer mein etwas weniger kahles halbes Zimmer. Ein paar Fotos, einen Sessel, einen geknüpften kleinen Teppich auf dem Tisch und eine Brille auf dem Nachtschränkchen. Ein Foto meiner Familie an einer kahlen Wand macht sie zu meiner Wand. So schnell ein Zimmer aber zu einem persönlichen Zimmer wird, so schnell wird es auch wieder irgendein leeres Zimmer sein. Das Foto hängt, um mir zu sagen: Du sollst dich hier zu Hause fühlen. Ich antworte: Ich bin nirgends zu...


Zwicker, Frédéric
Frédéric Zwicker, wurde 1983 in Lausanne geboren und wuchs in Rapperswil-Jona am Zürichsee auf, wo er heute wieder lebt. Während seines Studiums der Germanistik, Geschichte und Philosophie trat er regelmässig an Poetry Slams auf. 2006 gründete er mit dem Jazzmusiker Matthias Tschopp die Band Knuts Koffer, die seine Texte musikalisch umsetzt. Zwicker arbeitete als Werbetexter, Journalist, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, als Moderator von Lesungen, Musiklehrer und Leiter von Literaturworkshops an Schulen. Während einer Afrikareise schrieb er für die Zeitung Südostschweiz den Blog „Zu Tee bei Mutter Afrika“. Neben seinen Auftritten arbeitet Zwicker heute für die Kulturzeitschrift Saiten.


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