E-Book, Deutsch, 576 Seiten
Abdullah Der Sternenstaubdieb
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12395-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
The Sandsea Chronicles
E-Book, Deutsch, 576 Seiten
ISBN: 978-3-608-12395-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Chelsea Abdullah ist eine amerikanisch-kuwaitische Schriftstellerin. Schon als Kind lauschte sie Geschichten über mysteriöse Kreaturen der Wüste und schlaue - aber nur manchmal sympathische - Helden. Nach dem MA in Englisch an der Duquesne University zog sie nach New York, wo sie heute lebt.
Weitere Infos & Material
2
Mze
Da Mazen bin Malik von seinem vertrauenswürdigsten Diener erfahren hatte, dass sein älterer Bruder bei Sonnenuntergang zurückkehren wollte, rechnete er natürlich nicht damit, ihn schon früher wiederzusehen.
Omar kam nie vormittags von der Jagd wieder, und die Nachmittage verbrachte er zumeist bei seinen Räubern. Und so war Mazen, als Omar die Tür zu dessen Schlafzimmer aufstieß, gerade dabei, durch das Fenster hinauszusteigen. Als Omar eintrat, kam Mazen der Gedanke, dass es ein folgenschwerer Fehler gewesen war, nicht mit einer früheren Rückkehr seines Bruders zu rechnen.
Mazen stellte sich den Anblick vor, den er Omar bot: Er, der jüngste Sohn des Sultans, versuchte, sich am helllichten Tag in schlichter Kleidung aus seinem Schlafzimmer zu stehlen. Als man ihn das letzte Mal in einer ähnlichen Situation erwischt hatte, war er noch ein Kind gewesen und hatte sich auf seine Abenteuerlust herausgeredet. Aus dem Mund eines Zweiundzwanzigjährigen klängen diese Ausflüchte sicher nicht mehr so süß wie damals.
Mazen räusperte sich. »Salaam, Omar.«
Omar zog eine seiner Brauen so weit hoch, dass sich seine Stirn runzelte. »Salaam, Mazen.«
»Wie war deine Jagd?«
»Doppelt erfolgreich.« Omar deutete auf seine Kleidung: Sein besticktes Hemd steckte in einer Pumphose, die von einem Gürtel mit Messerkerben festgehalten wurde. Der silberschimmernde Lebenssaft der Dschinn sah eher wie Sternenstaub als wie Blut aus.
»Du glitzerst wie der Mond, mein Bruder«, sagte Mazen mit aufgesetztem Lächeln.
»Obwohl ich deine Schmeicheleien durchaus zu schätzen weiß, möchte ich noch lieber die Wahrheit hören.« Omar schloss die Tür hinter sich. »Vielleicht wäre es besser, wenn du wieder hereinkommst, damit wir uns unterhalten können.«
»Aber drinnen ist es so stickig …«
»Weiß Vater, dass du dich davonschleichst?«
Mazen erstarrte. Nein, sein Vater wusste natürlich nichts davon. Wenn der von Mazens heimlichen Ausflügen erführe, würde er ihn für immer in diesem Zimmer einsperren. Im Palast gefangen zu sein, war schon schlimm genug, doch ganz allein in seinem Zimmer würde Mazen auf keinen Fall überleben.
Er zwang sich zu einem Lachen. »Ich wollte mich doch nicht rausschleichen! Ich habe nur etwas frische Luft geschnappt.«
»Indem du dich gefährlich weit aus dem Fenster baumeln lässt?«
»Nein, das ist gar nicht gefährlich. Der Vorhang ist erstaunlich stabil.«
»Du schleichst dich wohl öfter davon, hm?« Omar kam, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, näher.
Mazen warf einen Blick auf die Messer an Omars Gürtel und schluckte. Das kleine Kind in ihm, das noch immer Angst vor seinem Bruder hatte, sorgte sich, dass Omar mit einer dieser Klingen den Vorhang durchschneiden könnte.
»Was hast du vor? Bist du mit einer Frau verabredet?« Omar blieb am Sims stehen und beugte sich vor, bis sein Lächeln nur noch wenige Zoll von Mazens Gesicht entfernt war. »Willst du eine Besichtigungstour machen? Oder planst du irgendeine Schandtat?«
»Nichts von alledem!« Mazen umklammerte den Vorhang noch fester. »Ich habe … nur Gerüchte gehört, dass heute der Alte Rhuba nach Madinne zurückkehrt.«
Omar sah ihn ausdruckslos an. »Du machst dich davon, um dir die Geschichten eines alten Mannes anzuhören?«
»Er kommt von den Weißen Dünen, Omar. Den Weißen Dünen. Du weißt ja, was man sich über den Sand dort erzählt … dass er aus der Asche von Ghulen bestehe, die …«
»Von mir aus.« Omar trat seufzend einen Schritt zurück. »Geh nur und hör dir das Gefasel alter Männer an.«
Mazen blinzelte. »Wirst du es denn nicht Vater erzählen?«
»Das hier wird unser Geheimnis bleiben.« Omar lächelte. »Aber natürlich kostet dich das was.« Bevor Mazen protestieren konnte, hob er eine Hand. »Du hast gar keine andere Wahl. Entweder erkaufst du dir mein Schweigen, oder ich spaziere jetzt gleich durch diese Tür und informiere den Sultan über deine Eskapaden.«
Mazen verschlug es den Atem. Er hatte keine Ahnung, mit was sein Bruder ihn erpressen wollte, doch er hätte lieber hundert Abmachungen mit Omar getroffen, als dem Sultan die Wahrheit zu sagen – dass er, ein Prinz, gegen seinen ausdrücklichen Befehl ohne Geleitschutz den Palast verließ und sich unbewacht in die angeblich vor Dschinn nur so wimmelnden Straßen begab.
»Denk dran, Mazen. Eine Hand wäscht die andere. Du schuldest mir was, Akhi.« Omar bedachte ihn mit einem letzten Lächeln, bevor er den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog.
Mazen sah seine unheilvoll gekräuselten Lippen noch immer vor sich, während er durch den Palastgarten schlich. Er versuchte sich abzulenken, indem er sich auf all die Wunder um ihn herum konzentrierte, doch seine Sorgen trübten ihre Herrlichkeit. Die von weißen Rosen gesäumten Pfade kamen ihm auf einmal farblos und langweilig vor, und der wunderschöne Brunnen aus tanzenden Glasfiguren schien nicht so prächtig in der Sonne zu funkeln wie sonst. Selbst die Heckenskulpturen, die wie Fabelwesen aus den Geschichten seiner Mutter gestaltet waren, ließen ihre übliche Pracht vermissen.
Mazen passierte all diese Sehenswürdigkeiten wie ein Geist in seinem schlichten Hemd und der dazu passenden Hose. Die verschlungenen Gartenpfade führten ihn vorbei an Bächen voll bunter Fische und durch leere Pavillons mit komplex gemusterten Decken. Die mit Kissen belegten Bänke darin waren leer und würden es noch eine ganze Weile bleiben, bis die Ratgeber des Sultans ihre politischen Debatten unterbrachen und sich hierher zurückzogen, um den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen. Dieser Gedanke machte Mazen nervös, da er seinen Ausflug so gelegt hatte, dass ihn bei Hofe niemand vermissen würde. Er vertraute auf seinen Plan, musste nun aber hoffen, dass Omar Wort halten und ihn nicht bei seinem Vater anschwärzen würde.
Nervös näherte er sich dem Dienstboteneingang. Beim Anblick des Mannes, der das silberne Tor bewachte, besserte sich seine Laune jedoch sofort. Es war derjenige, den er erwartet hatte, und so konnte er sich den Weg nach draußen erkaufen. Mazen versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie angespannt der Wächter wirkte, als er ihn passieren ließ, und wie hektisch er seine Münzen einsteckte.
Wir haben alle unsere Bedürfnisse, dachte er. Ich muss aus dem Palast entkommen, und er braucht Gold für sein Kind, das demnächst zur Welt kommt. Es war ein ehrenhafter Handel.
Der erhöht gelegene Teil von Madinne, auf dem sich der Palast und das Adelsviertel befanden, war nur eine kleine Oase über der Ebene, auf der sich die Stadt ausbreitete, und so fiel es ihm nicht schwer, zum Souk der einfachen Leute im Unteren Viertel zu gelangen. Die grünen Hänge gingen in karge Staubflächen über, die breiten Kopfsteinpflasterstraßen verengten sich zu befestigten Trampelpfaden, und die Ladengeschäfte wichen baufälligen, aber charmanten Ständen mit grob gemalten Schildern. Lautenmelodien und Trommeln durchbrachen die Stille, und die Luft war erfüllt von Gerüchen wie Moschus und Schweiß, Öl und Bakhoor, sowie einer verlockenden Mixtur aus Gewürzaromen, die ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen.
Die Pfade, denen Mazen auf seiner Suche nach der goldenen Zeltplane des Alten Rhuba folgte, waren mit allen möglichen quietschbunten farbenprächtigen Ständen gesäumt, doch er hatte nur Augen für die Auslagen der Künstler. Im Vorübergehen betrachtete er Keramikschalen, Shatranj-Bretter, glasierte Tierkreiszeichenteller … und blieb jäh stehen, als sein Blick an einem kleinen, aber aufwendig gewebten Teppich hängen blieb, auf dessen Oberfläche sich eine Reihe geometrischer Muster wiederholte. Er erkannte dieses Motiv. Ein beinahe exakt gleich aussehender Teppich bedeckte den Boden seines Schlafzimmers.
Er hob den Kopf und begegnete dem Blick der Händlerin des Marktstandes – eine in mehrere rotorange Stoffschichten gehüllte Frau mittleren Alters. Auf dem Hocker neben ihr saß ein dürrer junger Mann, der den Souk mit glasigen Augen gelangweilt betrachtete – vermutlich ihr Sohn, der sie beschützte.
»Salaam, ya Sayyid«, begrüßte die Händlerin ihn so leise, dass Mazen sie wegen des Trubels ringsum kaum verstehen konnte.
»Salaam«, erwiderte Mazen automatisch, während er zwei schwankenden Sängern auswich und wieder zur Verkaufstheke zurückkehrte. Er deutete auf das Muster, das ihm aufgefallen war. »Deine Teppiche sind schön.«
Die Weberin lächelte strahlend. »Shukran. Aber der Teppich, den du gerade betrachtest, ist nicht von mir. Meine Tochter hat ihn angefertigt. Ich habe sie nur dabei angeleitet.« Sie streckte den Arm aus und strich mit den Fingern über die Quasten. »Sie hat ihn viele Wochen lang aus feinstem Kamelhaar gewoben, während wir mit unserem Schwesterstamm durch die Klippen über Ghiban zogen.«
Stamm. Das Wort erfüllte Mazen mit einer vagen Sehnsucht. Obwohl seine Familie von Nomaden abstammte, war sie schon lange sesshaft – zumindest der väterliche Zweig. Er hätte gerne gewusst, wie es sich anfühlte, in der gesamten Wüste zu Hause zu sein.
Mazen lächelte. »Die Götter haben deine Tochter mit großem Talent gesegnet. Dieser Teppich erinnert mich an einen anderen, den ich vor Jahren geschenkt bekommen habe. Er hat eine ähnliche Struktur und fast das gleiche Motiv – blaue Diamanten auf weißem Untergrund mit einem Halbmond in der Mitte. Man hat mir gesagt, er sei von einem Meister gewoben worden.«
»Ah, das ist mein Muster«, gluckste die Händlerin. »Wie schmeichelhaft, als Meisterin bezeichnet zu werden.«
Mazen...