E-Book, Deutsch, 166 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
Abraham Literarisches Schreiben. Didaktische Grundlagen für den Unterricht
Originalausgabe 2021
ISBN: 978-3-15-961852-4
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
[Bildung und Unterricht] - Abraham, Ulf - Literatur- und Deutsch-Unterricht - 14080
E-Book, Deutsch, 166 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
ISBN: 978-3-15-961852-4
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulf Abraham, geb. 1954, war bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Er hatte Gastprofessuren in den USA (Atlanta, GA, 2004) und in Österreich (Klagenfurt, 2009) inne und ist seit 2002 Mitherausgeber der Zeitschrift 'Praxis Deutsch' sowie Träger des Erhard-Friedrich-Preises für Deutschdidaktik (2014). Seine Forschungsschwerpunkte liegen u. a. in der Didaktik der Literatur und ihrer Medien, der Theorie und Praxis des Umgangs mit Bild und Text sowie der Begleitung literarischen Schreibens im Unterricht. Siehe auch www.ulfabraham.de.
Autoren/Hrsg.
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[27]1.4 Verfahren literarischen Schreibens
Deklaratives und prozedurales Wissen über Literatur
Das sprachliche Kunstwerk unterscheidet sich von Werken der bildenden Kunst oder Musik dadurch, »dass es als Basis, als Ausgangsmaterial, mit der Alltagssprache arbeitet« (Wintersteiner 2010, 24), dennoch sei die Sprache der Literatur nicht die Sprache des Alltags. So bestimmt Werner Wintersteiner in einem Aufsatz über »Poetisches Verstehen als fachdidaktische Herausforderung« das Verhältnis des poetischen Textes zu der Sprache, aus der er besteht. Diese haben Schriftsteller- oder (wenn es sich um Lyrik handelt) Dichter*innen benutzt, um einen eigenen Wirklichkeitsentwurf zu schaffen, und benutzt, um eine innere Form zu erreichen, die wir nennen (vgl. Abraham & Brendel-Perpina 2015, 45 f.). Was Autor*innen dabei in gelingende oder scheiternde Texte investiert haben, ist – wie Holger Rudloff in seiner (1991) herausgearbeitet hat – als in ihnen aufgehoben: Seit der Wende zur Genieästhetik tritt in der Geschichte der Literaturproduktion das Handwerkliche daran nicht mehr offen zutage (vgl. ebd., 80–88). Dass literarisches Schreiben ein Verfügen über »Kunstmittel« ist (vgl. ebd., 154–163) und der »Techniken« bedarf (ebd., 163–174), ist eine seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert wiederzugewinnende Einsicht (vgl. Kap. 4.1, S. 96). Erst auf deren Grundlage wird es möglich, die Frage nach literarischem Können als Kompetenzfrage zu formulieren: Was ist und worin zeigt sich die Kompetenz, die [28]professionelle Autor*innen beim literarischen Schreiben entwickeln?
Die Literaturwissenschaften beschreiben die Literaturproduktion und -rezeption verschiedener Epochen, Gattungen und Medien einschließlich ihrer eigenen Gegenwart zwar auf der Basis unterschiedlicher Theorien, aber immer ausgehend von der Annahme, dass ihr Wissen ein Beschreibungs- und Deutungswissen sein soll, also weitgehend deklaratives Wissen. In prozedurales Wissen, das Herstellungsprozesse nachvollziehbar macht, ist dieses Wissen nur mit einem gewissen Aufwand und keineswegs vollständig umwandelbar: Auf Vertreter deklarativen literaturbezogenen Wissens wirkt das Ergebnis einer Offenlegung prozeduralen Verfahrenswissens über literarisches Schreiben (vgl. Kap. 1.4, S. 35) notwendigerweise unsystematisch, gehorcht es doch keiner Systematik der Analyse literarischer Werke. Es strukturiert ja nicht hermeneutische Schritte (Beschreibung, Einordnung, Kommentierung und Kontextualisierung, Deutung), sondern Arbeitsprozesse. Dennoch können auch literatur-/kulturwissenschaftliche Arbeiten dazu beitragen, Verfahrenswissen verfügbar zu machen. So versammelt der bereits erwähnte, von Zemanek & Krones (2008) herausgegebene Band Versuche, auffallende Schreibverfahren der Jahrtausendwende zu beschreiben.
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Als »phantomisches Erzählen« bezeichnet Katrin Schumacher (2008) ein Phänomen, das sich in der Literatur um 2000 auffallend häufig manifestiert: Die Erzähler*innen sind tot. Das Verfahren, wie es etwa in Cees Nootebooms Roman (1998, dt. ) [29]Verwendung findet, stehe in der Tradition der »unsouveränen Rede« eines wahnsinnigen, unzuverlässigen Erzählers sowie »des Erzählens aus dem Traum, der Hypnose, dem Koma und Schlaf, dem Tod« (ebd., 228).
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Ein anderes für die Jahrtausendwende charakteristisches Schreibverfahren liegt im »Sammelsurium« vor, angesiedelt im Grenzbereich zwischen Literatur und Sachbuch. Musterbildend hierfür war (2002, dt. ). Anhand dieses Beispiels beschreibt Mark Ludwig (2008) das Sammelsurium als Verfahren der ›geordneten Unordnung‹. Anders als etwa dem enzyklopädischen Schreiben fehle ihm ein Prinzip der einheitlichen Ordnung (vgl. ebd., 259). »›Literatur‹ ist hier als ein Archiv des Randständigen bestimmt, in dem die Selektionsverfahren eine entscheidende Bedeutung gewinnen.« (Ebd., 261)
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Ein weiteres Verfahren, das Zemanek und Krones (2008, 19) als »literarisches Sampling« oder »Remix« bezeichnen, schafft »eine hochreflektierte Literatur der Jahrtausendwende, die musikalische Produktionsmethoden auf Texte überträgt« (ebd.). Ein Beispiel ist Thomas Meinekes Roman (2007)4, der mit einem Remix aus unterschiedlichsten Fremdquellen (meist ohne sie nachzuweisen) arbeitet; der Erzähler ist wie ein DJ nur für das Sampling zuständig.
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Bei den »so genannten ›Fußnotenromanen‹, die um 2000 einen Boom erleben« (Zemanek & Krones 2008, 20), handelt es sich um Geschichten, die strukturell auf (mindestens) zwei Textebenen erzählt werden. Ein [30]Beispiel aus der (fantastischen) Jugendliteratur ist die -Reihe von Jonathan Stroud (deutsche Ausgaben ab 2005).
Ist literatur- und kulturwissenschaftlich die literaturtheoretische Beschreibung oder die Einordnung solcher Beobachtungen in die Epoche, den ›Zeitgeist‹ und/oder das Werk eines Autors wichtig, so geht es im Kontext literarischen Schreibens um diese Verfahren selbst: Zu fragen, ob das Sammelsurium »zugleich Abbild und Gegenbild der modernen Gesellschaft« (vgl. Ludwig 2008, 266) sein könne, ist für den produktionsästhetischen Blick auf ein Verfahren wenig ergiebig; interessanter ist beispielsweise, dass Monolog und Chor »zwei prominente Weisen phantomischen Erzählens« sind (vgl. Schumacher 2008, 235): Prozedural geht es nicht um Einordnung oder Deutung eines literarischen Verfahrens, sondern um Möglichkeiten seiner praktische Umsetzung.
Im Übrigen bleiben solche Beobachtungen verstreute Funde; eine von ganz wenigen Studien, die die Kluft zwischen deklarativem Beschreibungs- und prozeduralem Verfahrenswissen systematischer schließen wollen, ist die von Tasos Zembylas und Claudia Dürr (2009). Hier geht es um Wissen und Können beim literarischen Schreiben. Schriftsteller*innen »bilden ein gemeinsames Wissensreservoir, bestehend aus Erfahrungen, Theorien, Denkstilen sowie Werkzeugen, und formen sich durch kommunikative Interaktionen, Lernprozesse, Aushandlungsprozesse und Wechselbeziehungen zu anderen Praxisgemeinschaften« (ebd., 2). An Fallbeispielen ermitteln Zembylas und Dürr [31]Arbeitshaltungen und Vorgehensweisen beim Schreiben und unterscheiden »literarische Konventionen« (vgl. ebd., 2009, 67)
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»syntaktischer« Art (Stil, Rhythmus, Komposition, Dramaturgie),
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»semantischer« Art (Polyvalenz, Symbole, Metaphern, Anspielungen),
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»ästhetisch-normativer« Art (z. B. »Originalität«).
Bis zur Isolierung einzelner eventuell musterbildender Verfahren dringt die Untersuchung von dieser Abstraktionsebene aus allerdings nicht vor. Dabei wird es vielleicht auch bleiben müssen: Das Wissen, das in der Produktion von Literatur zur Anwendung kommt, ist nicht von einer Wissenschaft erzeugt, sondern »es ist in der kulturellen Praxis des Lesens und Schreibens entstanden und lebt in dieser Praxis als prozedurales Wissen literarischen Gestaltens und literarischen Verstehens« (Zabka 2019, 11). Für die Zwecke der vorliegenden Darstellung unterscheide ich Makroverfahren (wie die oben erwähnten), die die Organisation eines literarischen Textes insgesamt betreffen und diesem eine gewisse Struktur geben (also z. B. ein Toter als Erzähler), von Verfahren, die Einzelprobleme der literarischen Gestaltung eines Stoffes lösen. Diese können einerseits sehr verschiedene Gestaltungsentscheidungen betreffen und andererseits zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Rahmen des Schreibprozesses zum Einsatz kommen.
Dokumentiert sind solche Verfahren im Rahmen eines von der Robert-Bosch-Stiftung geförderten Fort- bzw. Weiterbildungsangebots mit dem Titel »Literarisches [32]Schreiben im Deutschunterricht« (künftig abgekürzt als LSiD). Dieses wurde zunächst in Zusammenarbeit des Literaturhauses Stuttgart mit dem Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Bamberg entwickelt und dann (seit 2018) von anderen Standorten adaptiert (Literarisches Zentrum & Universität Göttingen; Literaturhaus & Universität Rostock). Prozedurales Wissen über Formen und Gestaltungsentscheidungen literarischen Schreibens wird im Rahmen dieses Programms handlungs- und projektorientiert an Deutschlehrer*innen vermittelt und von diesen wiederum, in einer zweiten Phase, an die Lernenden einer ausgewählten Projektklasse. Wir verstehen dabei das Schreiben literarischer Texte »als ein lehrbares Handwerk« (Abraham & Brendel-Perpina 2015, 59) und erkunden im Rahmen von Seminarwochenenden mit Werkstattdozent*innen und Fortbildungsteilnehmer*innen Art und Ausmaß des für seine Beherrschung praktisch vermittelbaren Wissens. Zudem haben seit Beginn des Stuttgarter Entwicklungsprojekts im Jahr 2011 alle Werkstattleiter*innen ihre Schreib- und Vermittlungskonzepte in Monografien und teilweise auch in ergänzenden Materialienbänden dargestellt.5
Die gattungsspezifischen literarischen Werkstätten (in Stuttgart fünf, in Göttingen und Rostock derzeit je zwei) und die Seminarwochenenden des über eineinhalb bis zwei Jahre laufenden Programms sind beschreibbar als permanenter Dialog zwischen Expert*innen der kulturellen Praxis Literatur, Lehrkräften und Didaktiker*innen über [33]die Produktion und...