E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Aciman Find Me Finde mich
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-423-43749-3
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Vom Autor von ›Call Me by Your Name‹
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-423-43749-3
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
André Aciman, geboren 1951 in Alexandria, studierte Komparatistik in Harvard. Er ist Romancier, Essayist und Dozent für Vergleichende Literaturwissenschaft, zudem schreibt er für verschiedene New Yorker Zeitungen. Sein Roman >Call Me By Your Name< war ein internationaler Bestseller und wurde in einer Oscar-prämierten Verfilmung adaptiert.
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»Du wirst ja rot«, sagte er.
»Nein, gar nicht.«
Er sah mich amüsiert über den Tisch hinweg an, ungläubig. »Bist du dir sicher?«
Ich dachte ein paar Sekunden nach und gab mich geschlagen. »Wahrscheinlich hast du recht.«
Wer hasste das in meinem Alter nicht, so leicht durchschaubar zu sein, noch dazu nach einer peinlichen Stille und wo das Gegenüber fast doppelt so alt war. Andererseits begrüßte der Erwachsene in mir, dass ein Erröten etwas verriet, was ich sonst wohl für mich behalten hätte.
»Du wirst auch rot«, sagte ich.
»Ich weiß.«
Das alles war etwa zwei Stunden später.
Ich hatte ihn bei einem Kammerkonzert in der Pause kennengelernt, in der Kirche Sainte U. auf der Rive Droite. Es war ein Sonntag Anfang November, nicht richtig kalt, aber auch nicht warm, einer dieser typischen trüben Herbstabende, die zu früh beginnen und die langen Wintermonate ankündigen. Ein Teil des Publikums hatte bereits Platz genommen, manche trugen Handschuhe, andere ließen ihre Mäntel an. Doch so wie die Menschen leise durch die Bankreihen gingen, hatte die Atmosphäre trotz der Kälte etwas Behagliches, sie freuten sich auf die Musik. Ich war zum ersten Mal in dieser Kirche und hatte mich für einen der hintersten Plätze entschieden, für den Fall, dass das Konzert nicht nach meinem Geschmack war und ich gehen wollte, ohne jemanden zu stören.
Gekommen war ich, weil ich den vielleicht allerletzten Auftritt des Florian Quartetts in der Stadt erleben wollte. Das jüngste Mitglied musste schon Ende siebzig sein. Sie spielten regelmäßig in dieser Kirche, aber live hatte ich sie noch nie gehört, ich kannte sie nur von ihren wenigen, längst vergriffenen Aufnahmen und ein paar Aufzeichnungen im Internet. Sie spielten ein Quartett von Haydn, nach der Pause sollte es weitergehen mit dem cis-Moll von Beethoven. Anders als die übrigen Besucher – an diesem Sonntag waren es kaum mehr als vierzig – hatte ich mich erst spät entschlossen und mein Ticket bei einer Nonne gekauft, die an einem kleinen Tisch am Eingang saß. Fast alle anderen hatten ihre Eintrittskarten per Mail bekommen und hielten, als sie die Kirche betraten, ihre Belege in der Hand, Ausdrucke, die ungefaltet vorzuzeigen man sie gebeten hatte, und nun trug eine von den Jahren gebeugte Nonne pflichtbewusst mit einem alten grünen Füllfederhalter den vollen Namen eines jeden in eine Liste ein. Sie war mindestens achtzig und machte das bestimmt schon seit Ewigkeiten, wahrscheinlich mit demselben Füller und in derselben zittrigen, altertümlichen Schrift. Die kleinen Barcodenummern auf den Ausdrucken standen wohl für das jüngere Image, das die Kirche neuen Gemeindemitgliedern vermitteln wollte, doch die alte Nonne hatte ihre liebe Mühe damit, sie abzuschreiben, bevor sie jeden Beleg stempelte. Niemand beschwerte sich über ihr langsames Tempo, nur hier und da wechselten Besucher, die ihre Eintrittskarte noch nicht vorgelegt hatten, ein nachsichtiges Lächeln.
Während der Pause stellte ich mich in die Schlange am Eingang, wo dieselbe Nonne nun Apfelpunsch ausgab, den sie gewissenhaft in Plastikbecher füllte, mit einer Schöpfkelle, die sie, wenn sie voll war, kaum anheben konnte. Alle spendeten sehr viel mehr als den einen Euro, der auf einem Anschlagbrett neben dem großen Kessel mit dem heißen Punsch angegeben war. Ich war kein großer Freund von Apfelpunsch, alle anderen offenbar sehr wohl, und so stand ich da und steckte, als ich an die Reihe kam, fünf Euro in das Schälchen, wofür die alte Nonne sich überschwänglich bedankte. Sie war sehr aufmerksam und wusste genau, dass ich zum ersten Mal in ihre Kirche kam. Sie fragte mich, ob mir der Haydn gefallen habe. Ich antwortete mit einem begeisterten Ja.
Er hatte direkt vor mir in der Schlange gestanden, und kaum bezahlte ich meinen Punsch, drehte er sich zu mir um und fragte: »Wie kommt es, dass sich ein so junger Mensch für das Florian Quartett interessiert? Wo die so alt sind.« Und weil er offenbar selber merkte, dass die Frage aus dem Nichts gekommen war, fügte er an: »Die zweite Geige, die muss schon über achtzig sein. Die anderen sind kaum jünger.«
Er war groß, schlank, eine elegante Erscheinung, mit einer grauen Mähne, die bis auf den Kragen seines blauen Jacketts fiel.
»Ich wollte den Cellisten hören, und da es heißt, sie würden später im Jahr auf Tournee gehen, bevor sie sich wahrscheinlich auflösen, dachte ich, das ist vielleicht die letzte Gelegenheit. Deshalb bin ich hier.«
»Hat jemand in Ihrem Alter nichts Besseres zu tun?«
»Jemand in meinem Alter?«, fragte ich, und aus meinem Ton klang Überraschung, scharfe Ironie auch.
Für einen Moment war es unangenehm still zwischen uns. Er zuckte die Achseln, was wohl seine Art war, sich zu entschuldigen, und dann schien er sich schon umdrehen zu wollen, hin zu dem Bereich vor den beiden Eingangstüren, wo ein paar Leute standen und plauderten, eine Zigarette rauchten oder sich die Beine vertraten. »In einer Kirche werden einem immer die Füße kalt«, sagte er noch und wandte sich dann tatsächlich zur Tür. Es war eine dahingeworfene, abschließende Bemerkung.
Erst da wurde mir bewusst, dass ich ihn mit meinem Tonfall womöglich brüskiert hatte, und ich fragte: »Sind Sie ein Fan vom Florian Quartett?«
»Nicht direkt. Nicht mal von Kammermusik. Aber ich weiß ein bisschen was über die Musiker, weil mein Vater klassische Musik mochte, er hat ihre Konzerte in dieser Kirche finanziell unterstützt, und das mache ich jetzt auch, dabei ist mir, ehrlich gesagt, Jazz lieber. Aber ich komme her, weil ich früher, als ich noch jung war, an den Sonntagabenden mitgegangen bin, und noch heute komme ich alle paar Wochen her, setze mich hin und höre zu, vielleicht auch, um mir vorzustellen, ich wäre mit meinem Vater zusammen – aber ich gebe zu, für andere ist das ein eher alberner Grund, hier zu sitzen und dem Quartett zuzuhören.«
Welches Instrument hatte sein Vater denn gespielt?, wollte ich wissen.
Klavier.
»Zu Hause hat mein Vater nie gespielt. Nur am Wochenende, wenn wir auf dem Land waren, da ist er spätabends ans andere Ende des Hauses gegangen, und in meinem Schlafzimmer im oberen Stock konnte ich das Klavier hören, als würde es von irgendeinem Herumtreiber heimlich gespielt, einem Menschen, der gleich abbrach, sobald er die Dielen knarren hörte. Er hat nie über sein Klavierspiel gesprochen, auch meine Mutter hat es nie erwähnt, und ich habe gelernt, morgens den Mund zu halten oder zu sagen, ich hätte geträumt, das Klavier hätte wieder von allein gespielt. Ich nehme an, er wäre am liebsten professioneller Pianist geblieben, so wie er sich bestimmt gewünscht hat, dass auch ich mich für klassische Musik begeistere. Aber er war niemand, der seine Ansichten anderen aufzwang, und noch weniger sprach er mit wildfremden Menschen – im Gegensatz zu seinem Sohn, das wird Ihnen sicher schon aufgefallen sein.« Worauf er in sich hineinlachte. »Er war so feinfühlig, mich nicht zu bitten, ihn sonntags in diese Konzerte zu begleiten, wahrscheinlich hatte er sich schon damit abgefunden, allein zu gehen. Aber meine Mutter wollte nicht, dass er abends allein rausging, also bat sie mich, mitzugehen. Irgendwann wurde es zur Gewohnheit. Nach dem Konzert hat er mir immer irgendein Gebäck gekauft. Dann saßen wir hier in der Nähe zusammen, und als ich etwas älter war, sind wir irgendwo etwas essen gegangen. Nur über seine Zeit als Pianist hat er nie gesprochen, und ich war mit meinen Gedanken in diesen Jahren sowieso woanders. Die Sonntagabende waren eigentlich reserviert, um auf den letzten Drücker noch Hausaufgaben zu machen, und wenn ich ihn begleitete, hieß das, ich musste noch aufbleiben und Sachen machen, die ich normalerweise früher hätte erledigen können. Aber ich war froh, mit ihm zusammen zu sein, für mich war das wichtiger als die Musik, und wie Sie sehen, hat mich die Gewohnheit immer noch im Griff. Ich habe wieder zu viel geredet, nicht wahr?«
»Spielen Sie auch?«, fragte ich, um ihm zu bedeuten, dass ich nichts gegen seine Plauderei hatte.
»Eher nicht. Ich bin in die Fußstapfen meines Vaters getreten. Er war dann Anwalt, sein Vater war Anwalt, ich bin Anwalt geworden. Weder mein Vater noch ich wollten Anwalt sein, aber … Das Leben!« Er lächelte wehmütig. Zum zweiten Mal schon lächelte er und zuckte die Achseln. Es war ein breites, charmantes, unvermitteltes Lächeln, es kam völlig überraschend, doch so ironisch, wie er das Wort Leben betont hatte, zeugte es nicht gerade von Fröhlichkeit. »Und welches Instrument spielen Sie?«, fragte er und schaute mich direkt an. Ich wollte nicht, dass unser Gespräch endete, und war überrascht, dass es ihm offenbar genauso ging.
»Klavier«, sagte ich.
»Hobby oder Beruf?«
»Beruf. Hoffe ich.«
Er schien nachzudenken.
»Dranbleiben, junger Mann, nicht aufgeben.«
Und damit legte er mir so verständnisvoll wie sanft beschützerisch den Arm um die Schulter. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich griff nach der Hand, die auf meiner Schulter lag. Das alles ging so nahtlos ineinander über, dass ich ihn anschaute, und wir lächelten beide, was es seiner Hand, die sonst wahrscheinlich gleich wieder verschwunden wäre, gestattete, noch einen Moment länger zu verweilen. Er wandte sich ab, aber dann schaute er noch einmal zu mir, und ich verspürte den plötzlichen Drang, mich ihm entgegenzuwerfen und ihm meine Arme um den Oberkörper zu schlingen, direkt unter dem Jackett. Ihm musste es so ähnlich gegangen sein, denn in der unangenehmen Stille, die auf seine Worte folgte, sah er mich weiter fest an, und genauso unverdrossen erwiderte ich...




