Afanasjew | Russische Volksmärchen | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 328 Seiten

Reihe: Fischer Klassik Plus

Afanasjew Russische Volksmärchen

Fischer Klassik PLUS
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-10-402295-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Fischer Klassik PLUS

E-Book, Deutsch, 328 Seiten

Reihe: Fischer Klassik Plus

ISBN: 978-3-10-402295-6
Verlag: S.Fischer
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Nach dem Vorbild der Brüder Grimm entstand die berühmte Sammlung von Afanasjew, die bis heute ein Lieblingsbuch des russischen Lesers geblieben ist. Swetlana Geier hat die schönsten Märchen ausgewählt und neu übersetzt: von Iwan dem Dummen, über die schöne Wassilissa bis zur Hexe Baba Jaga. Der Glaube an Wunder und zauberische Kräfte, Magie und dunkle Mächte, denen der Mensch schutzlos ausgeliefert ist, ist auch heute noch im russischen Volksglauben lebendig. So ist ein Band entstanden, in dem beides zusammenkommt: die »russischen« Brüder Grimm und eine kongeniale Übersetzerin.

A.N. Afanasjew wurde am 11. Juli 1826 im Gouvernement Woronesch geboren, er starb am 23. September 1871 in Moskau. Er studierte Rechtswissenschaften und war von 1849 an Archivar im Moskauer Außenministerium. Nach dem Vorbild der Brüder Grimm sammelte er russische Volksmärchen, die er erstmals 1855 herausgab und die Weltliteratur wurden.
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Die wunderschöne Wassilissa


In einem Reiche lebte einmal ein Kaufmann. Zwölf Jahre war er verheiratet, aber er hatte nur eine einzige Tochter, die wunderschöne Wassilissa. Ihre Mutter starb, als Wassilissa acht Jahre alt war. Als sie auf dem Totenbett lag, ließ die Kaufmannsfrau die Tochter zu sich kommen, holte unter der Bettdecke eine Puppe hervor und sagte: »Höre gut zu, Wassilissa! Behalte meine letzten Worte und folge ihnen. Ich sterbe und hinterlasse dir mit meinem mütterlichen Segen diese Puppe; bewahre sie stets bei dir und zeige sie niemandem; solltest du Kummer haben, gib ihr zu essen und frage sie dann um Rat. Sie wird ein wenig essen und dir sagen, wie du dir in deiner Not helfen kannst.« Darauf küßte die Mutter ihre Tochter und verschied.

Nach dem Tod seiner Frau trauerte der Kaufmann so lange, wie es sich ziemte, dann aber überlegte er, ob er nicht wieder heiraten sollte. Er war ein guter Mensch, an Bräuten fehlte es nicht, aber er hatte besonderen Gefallen an einer Witwe gefunden. Sie war schon in den Jahren, hatte selbst zwei Töchter, fast im gleichen Alter wie Wassilissa, mußte also eine gute Hausfrau und Mutter sein. Der Kaufmann nahm die Witwe zur Frau, aber er hatte sich in ihr getäuscht und fand keine gute Mutter für seine Wassilissa. Wassilissa war die Schönste im ganzen Flecken; die Stiefmutter und die Schwestern beneideten sie um ihre Schönheit und plagten sie mit schwerer Arbeit, damit sie mager würde und Wind und Sonne ihre weiße Haut bräunten; Wassilissa ertrug alles ohne Murren und wurde mit jedem Tag schöner, während die Stiefmutter und ihre Töchter vor Bosheit immer magerer und magerer und häßlicher wurden, obwohl sie niemals einen Finger rührten, ganz wie die feinen Damen. Und wie kam das? Die Puppe half Wassilissa. Wie hätte das Mädchen sonst mit der Arbeit fertig werden sollen? Dafür hob Wassilissa die besten Bissen auf, schloß sich abends, wenn alle zur Ruhe gingen, in ihrem Kämmerchen ein, bewirtete ihre Puppe und sprach mit ihr: »Hier, mein Püppchen, iß und laß mich klagen! Ich wohne in meines Vaters Haus und kenne keine Freude; die böse Stiefmutter möchte mich aus der Welt haben. Lehre mich, wie soll ich leben und was soll ich tun?« Die Puppe aß, gab Wassilissa guten Rat, tröstete sie in ihrem Kummer, und gegen Morgen verrichtete sie Wassilissas Arbeit; Wassilissa ruhte im Schatten und pflückte Blumen, und währenddessen wurden die Beete gejätet und der Kohl begossen, das Wasser geholt und der Ofen geheizt. Die Puppe hatte Wassilissa auch das Kraut gezeigt, das ihre Haut vor der Bräune bewahrte. Sie hatte es gut mit ihrer Puppe.

So vergingen einige Jahre. Wassilissa wurde erwachsen und kam in das Heiratsalter. Alle Freier aus der Stadt hielten um Wassilissa an; die Töchter der Stiefmutter würdigten sie keines Blickes. Die Stiefmutter wütete ärger denn je und gab allen Freiern dieselbe Antwort: »Die Jüngste kommt nicht vor der Älteren aus dem Haus.« Und wenn sich die Freier verabschiedet hatten, ließ sie ihren Ärger an Wassilissa aus.

Eines Tages mußte der Kaufmann für längere Zeit in Handelsgeschäften verreisen. Da zog die Stiefmutter in ein anderes Haus um, in der Nähe dieses Hauses war ein dichter Wald, mitten im Wald auf einer Lichtung stand ein Häuschen, und in diesem Häuschen wohnte die Baba Jaga. Sie ließ niemanden in ihre Nähe kommen und verschlang Menschen, als wären es Hühnchen. Sobald sie in das neue Haus eingezogen war, schickte die Kaufmannsfrau die ihr so verhaßte Wassilissa immer wieder in den Wald, aber Wassilissa kehrte stets wohlbehalten zurück: Die Puppe wies ihr den rechten Weg und bewahrte sie davor, in die Nähe des Häuschens der Baba Jaga zu kommen.

Es wurde Herbst. Die Stiefmutter teilte den drei Mädchen ihr Maß Arbeit für den Abend zu: die eine mußte Spitzen klöppeln, die zweite Strümpfe stricken und Wassilissa spinnen. Sie löschte das Licht im ganzen Haus, ließ bei den Mädchen eine einzige Kerze brennen und ging zu Bett. Die Mädchen arbeiteten. Da nahm die eine Stiefschwester die Schere, um das Licht zu putzen, löschte dabei aber wie aus Versehen die Kerze aus, wie es ihre Mutter befohlen hatte.

»Was sollen wir tun?« fragten die Mädchen. »Im ganzen Haus ist kein Licht! Und wir sind noch lange nicht fertig. Wir müssen uns Feuer bei der Baba Jaga holen!« – »Ich habe genug Licht von meinen Stecknadeln!« sagte das Mädchen, das Spitzen klöppelte. »Ich geh nicht hin!« – »Ich gehe auch nicht«, sagte die andere, die Strümpfe strickte. »Ich habe genug Licht von meinen Stricknadeln!« – »Du mußt Feuer holen!« schrien die beiden. »Geh du zu der Baba Jaga!« Und sie stießen Wassilissa aus der Stube.

Wassilissa ging in ihr Kämmerchen, setzte der Puppe das aufbewahrte Essen vor und sagte: »Hier, mein Püppchen, iß und laß mich klagen! Sie schicken mich zu der Baba Jaga Feuer holen. Die Baba Jaga wird mich auffressen!« Die Puppe aß, und ihre Augen leuchteten wie zwei Kerzen. »Fürchte dich nicht, Wassilissa«, sagte sie. »Geh, wohin sie dich schicken, behalte mich aber immer bei dir. Wenn ich bei dir bin, wird dir bei der Baba Jaga nichts Böses zustoßen.« Wassilissa zog sich an, steckte ihre Puppe in die Tasche, bekreuzigte sich und ging in den dichten Wald.

Sie ging und zitterte vor Angst. Plötzlich sprengte ein Reiter an ihr vorbei: Er selbst war weiß, seine Kleider waren weiß, das Roß unter ihm war weiß, das Zaumzeug war weiß – und schon brach der Tag an.

Sie ging weiter. Da sprengte ein anderer Reiter vorbei: Er selbst war rot, seine Kleider waren rot und das Roß unter ihm war rot – und schon ging die Sonne auf.

Wassilissa wanderte die ganze Nacht und den ganzen Tag, erst gegen Abend trat sie auf die Lichtung hinaus, wo das Haus der Baba Jaga stand. Um das Haus war ein Zaun aus Menschenknochen, auf dem Zaun steckten Menschenschädel mit Augen; statt Pfosten am Tor – Menschenbeine, statt Riegel – Hände, statt Türschloß – ein Mund mit scharfen Zähnen. Wassilissa erstarrte vor Schrecken und blieb wie angewurzelt stehen. Plötzlich ritt wieder ein Reiter vorbei: er selbst war schwarz, seine Kleider waren scharz, das Roß unter ihm war schwarz; er sprengte auf das Tor der Baba Jaga zu und verschwand, als wäre er in die Erde versunken – es wurde Nacht. Aber es blieb nicht lange dunkel: In allen Schädeln auf dem Zaun begannen die Augen zu glühen, und auf der Lichtung wurde es hell wie mitten am Tage. Wassilissa zitterte vor Angst, aber sie wußte nicht, wohin sie fliehen sollte, und rührte sich nicht von der Stelle.

Bald erhob sich im Wald ein schreckliches Getöse: die Bäume knarrten, das trockene Laub raschelte – die Baba Jaga kam aus dem Wald. Sie fuhr in einem Mörser, trieb ihn mit dem Stößel an und wischte die Spur mit dem Ofenbesen aus. Sie kam an das Tor, hielt an, schnupperte und rief: »Huh, huh! Hier riecht es nach Russen! Wer ist hier?« Wassilissa trat ängstlich vor die Alte, verneigte sich tief und sagte: »Ich bin es, Großmutter! Die Stiefschwestern haben mich zu dir nach Feuer geschickt.« – »Recht so«, sagte die Baba Jaga. »Die kenne ich. Du sollst eine Weile bei mir bleiben und für mich arbeiten, dann werde ich dir Feuer geben; und wenn nicht, dann verschlinge ich dich!« Dann wandte sie sich dem Tor zu und rief: »He, meine Riegel, meine festen, schließt euch auf; mein Tor, mein breites, öffne dich!« Die Torflügel öffneten sich, die Baba Jaga fuhr pfeifend in den Hof, Wassilissa folgte ihr, dann schloß sich wieder alles. Die Baba Jaga trat in die Stube, streckte sich auf der Bank aus und sagte zu Wassilissa: »Trag mir alles auf, was im Ofen steht: Ich habe Hunger.«

Wassilissa steckte einen Kienspan an einem Schädel am Zaun an und begann, die Töpfe aus dem Ofen zu holen und der Baba Jaga das Essen aufzutischen. Alles war für ein gutes Dutzend Menschen gerichtet; aus dem Keller holte sie Kwas, Met, Bier und Wein herauf. Die Alte aß alles auf und trank alles aus; für Wassilissa blieb nur ein Löffel Schtschi, ein Kanten Brot und ein Restchen vom Spanferkel. Bevor sich die Baba Jaga schlafen legte, sagte sie: »Wenn ich morgen aus dem Haus gehe, mußt du den Hof kehren, die Stube fegen, das Essen kochen, die Wäsche waschen und in die Kornkammer gehen, dort ein Tschetwert Weizen holen und den Schwarzkümmel auslesen. Sieh zu, daß alles fertig ist, wenn ich zurückkomme, sonst fresse ich dich!«

Nachdem sie dies befohlen hatte, begann die Baba Jaga zu schnarchen; und Wassilissa stellte das, was die Alte übriggelassen hatte, der Puppe hin, weinte bitterlich und sagte: »Hier, mein Püppchen, iß und laß mich klagen! Die Baba Jaga hat mir eine schwere Arbeit aufgetragen und gedroht, mich zu fressen, wenn ich nicht alles erfülle; hilf mir!« Die Puppe antwortete: »Fürchte dich nicht, wunderschöne Wassilissa, iß zu Abend, bete und leg dich schlafen; der Morgen ist weiser als der Abend!«

Wassilissa wachte in aller Frühe auf, aber die Baba Jaga war schon auf den Beinen. Wassilissa schaute zum Fenster hinaus: die Augen in den Schädeln verglommen. Der weiße Reiter sprengte vorbei – es wurde hell. Die Baba Jaga trat auf den Hof hinaus, pfiff, und der Mörser mit dem Stößel und der Ofenbesen standen vor ihr. Der rote Reiter sprengte vorbei – die Sonne ging auf. Die Baba Jaga stieg in den Mörser und fuhr davon, sie trieb ihn mit dem Stößel an und verwischte die Spur mit dem Ofenbesen. Wassilissa blieb allein zurück, ging durch das Haus der Baba Jaga, staunte über die Fülle, die darin herrschte, und blieb unschlüssig stehen. Womit sollte sie ihr Tagewerk beginnen? Aber da sah sie, daß alle Arbeit schon getan war; die Puppe las aus dem Weizen die letzten...


Afanasjew, A.N.
A.N. Afanasjew wurde am 11. Juli 1826 im Gouvernement Woronesch geboren, er starb am 23. September 1871 in Moskau. Er studierte Rechtswissenschaften und war von 1849 an Archivar im Moskauer Außenministerium. Nach dem Vorbild der Brüder Grimm sammelte er russische Volksmärchen, die er erstmals 1855 herausgab und die Weltliteratur wurden.

Geier, Swetlana
Swetlana Geier (1923–2010) hat u. a. Sinjawskij, Tolstoi, Solschenizyn, Belyi und Bulgakow ins Deutsche übertragen. Für ihr Werk, das sie mit der Dostojewskij-Neuübersetzung krönte, wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. – In der Reihe Fischer Klassik liegen sämtliche ihrer im Ammann Verlag erschienenen Dostojewskij-Übersetzungen vor: ›Verbrechen und Strafe‹ (Bd. 90010), ›Der Spieler‹ (Bd. 90446), ›Der Idiot‹ (Bd. 90186), ›Böse Geister‹ (Bd. 90245), ›Ein grüner Junge‹ (Bd. 90333), ›Die Brüder Karamasow‹ (Bd. 90114) sowie ›Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹ (Bd. 90102). Über ihr Leben und ihre Arbeit gibt Swetlana Geier Auskunft in dem von Taja Gut aufgezeichneten Buch ›Swetlana Geier. Ein Leben zwischen den Sprachen‹ (Bd. 19221).

A.N. AfanasjewA.N. Afanasjew wurde am 11. Juli 1826 im Gouvernement Woronesch geboren, er starb am 23. September 1871 in Moskau. Er studierte Rechtswissenschaften und war von 1849 an Archivar im Moskauer Außenministerium. Nach dem Vorbild der Brüder Grimm sammelte er russische Volksmärchen, die er erstmals 1855 herausgab und die Weltliteratur wurden.
Swetlana GeierSwetlana Geier (1923–2010) hat u. a. Sinjawskij, Tolstoi, Solschenizyn, Belyi und Bulgakow ins Deutsche übertragen. Für ihr Werk, das sie mit der Dostojewskij-Neuübersetzung krönte, wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. – In der Reihe Fischer Klassik liegen sämtliche ihrer im Ammann Verlag erschienenen Dostojewskij-Übersetzungen vor: ›Verbrechen und Strafe‹ (Bd. 90010), ›Der Spieler‹ (Bd. 90446), ›Der Idiot‹ (Bd. 90186), ›Böse Geister‹ (Bd. 90245), ›Ein grüner Junge‹ (Bd. 90333), ›Die Brüder Karamasow‹ (Bd. 90114) sowie ›Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹ (Bd. 90102). Über ihr Leben und ihre Arbeit gibt Swetlana Geier Auskunft in dem von Taja Gut aufgezeichneten Buch ›Swetlana Geier. Ein Leben zwischen den Sprachen‹ (Bd. 19221).

A.N. Afanasjew wurde am 11. Juli 1826 im Gouvernement Woronesch geboren, er starb am 23. September 1871 in Moskau. Er studierte Rechtswissenschaften und war von 1849 an Archivar im Moskauer Außenministerium. Nach dem Vorbild der Brüder Grimm sammelte er russische Volksmärchen, die er erstmals 1855 herausgab und die Weltliteratur wurden.
Swetlana Geier (1923–2010) hat u. a. Sinjawskij, Tolstoi, Solschenizyn, Belyi und Bulgakow ins Deutsche übertragen. Für ihr Werk, das sie mit der Dostojewskij-Neuübersetzung krönte, wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. – In der Reihe Fischer Klassik liegen sämtliche ihrer im Ammann Verlag erschienenen Dostojewskij-Übersetzungen vor: ›Verbrechen und Strafe‹ (Bd. 90010), ›Der Spieler‹ (Bd. 90446), ›Der Idiot‹ (Bd. 90186), ›Böse Geister‹ (Bd. 90245), ›Ein grüner Junge‹ (Bd. 90333), ›Die Brüder Karamasow‹ (Bd. 90114) sowie ›Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹ (Bd. 90102). Über ihr Leben und ihre Arbeit gibt Swetlana Geier Auskunft in dem von Taja Gut aufgezeichneten Buch ›Swetlana Geier. Ein Leben zwischen den Sprachen‹ (Bd. 19221).



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