E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Agualusa Die Frauen meines Vaters
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-293-31020-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-293-31020-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Faustino Manso, ein berühmter angolanischer Musiker, hinterlässt nach seinem Tod sieben Frauen und achtzehn Kinder. Als seine jüngste Tochter Laurentina, eine in Portugal lebende Filmemacherin, von ihrem leiblichen Vater erfährt, reist sie nach Angola, um das turbulente Leben des verstorbenen Musikers nachzuzeichnen. Faustinos Spuren führen Laurentina und ihre drei Mitreisenden – Mandume, Bartolomeu und Pouca Sorte – durch die Küstenstädte des südlichen Afrika. Auf ihrer Suche lernen sie Faustinos Frauen, Musikerkollegen und Kinder kennen, und es entsteht das Bild eines Mannes, der durch Charme und Musik einen tiefen Eindruck im Leben vieler Menschen hinterlassen hat.
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Die Beerdigung
Heute Nachmittag ist Faustino Manso beerdigt worden. Ich trug eine dunkelblaue Bluse, einen schwarzen engen Rock und schwarze Strümpfe. Das Haar hatte ich im Nacken zusammengebunden. Mandume mag es, wenn ich das Haar so trage. Er meint, ich wirke dann größer. Ich bin groß. Einsfünfundsiebzig, zehn Zentimeter kleiner als er. Ich rief in der Rezeption an und bat, mir ein Taxi zu rufen. Man erklärte mir, dass es in Luanda keine Taxis gebe, zumindest nicht das, was wir in Europa darunter verstünden, aber man könne mir einen Fahrer mit eigenem Wagen besorgen. Das war mir recht. Eine halbe Stunde später erschien der Fahrer, ein schöner Mann, hager, mit hervorstehenden Wangenknochen und einem eckigen Kinn. Ich fragte ihn nach seinem Namen. »Pouca Sorte, Mädchen.« Das »Mädchen« gefiel mir. Seit Jahren hatte mich niemand mehr so genannt. Über den Namen wunderte ich mich. »Pouca Sorte, Pechvogel? Das ist natürlich ein Spitzname. Wie heißen Sie wirklich?« »Albino. Albino Amador. Man nennt mich Pouca Sorte, weil die Frauen nichts von mir wissen wollen.« Das sagte er mit einem spitzbübischen Lächeln und ließ dabei ein paar ebenmäßige, strahlende Zähne erkennen. Pouca Sorte hat eine tiefe Stimme und einen fröhlichen, aber diskreten Ton, eleganter als die meisten. Das Auto, ein blauer Lieferwagen wie es Tausende hier in Luanda gibt, heißt Malembelembe. In schwarzen Buchstaben steht der Name auf der Heckscheibe. Ich fragte ihn, was das bedeute. Wieder lächelte Pouca Sorte sein fröhliches Lächeln. »Malembelembe sagt man hier für langsam. Es geht langsam voran.« Mandume kam mit. Es waren viele Leute auf dem Friedhof am Alto das Cruzes. Sie schienen sich alle zu kennen. Sie umarmten sich. Manche Frauen weinten an der Schulter anderer Frauen. Niemand störte sich an uns. Ein Mann mit einem üppigen, störrischen Patriarchenbart trat neben die Urne, hob die Stimme und sprach, zur Menge gewandt, lange über das Leben meines Vaters. Einiges davon konnte ich aufschreiben: »Faustino Manso sah ich zum ersten Mal, da war er zwölf Jahre alt und ich keine zehn, im Haus meines Vaters, an dem Tag, an dem Joe Louis Max Schmeling schlug. Mein Vater war damals einer der wenigen Leute in Luanda, die ein Radio hatten. Ich weiß noch, wie wir alle um den Apparat herumsaßen, und erinnere mich an die Freude, als Joe Louis den Deutschen gleich in der ersten Runde zu Boden schickte und wieder Weltmeister im Schwergewicht wurde. Gleich nach der Übertragung des Kampfes erklang ein Piano. Da erhob sich Faustino und verkündete: ›Wenn ich groß bin, will ich Pianist werden.‹ Das sagte er mit einer solchen Überzeugung, dass niemand lachte […]« »Bitte verzeihen Sie mir, aber ich will die große Leidenschaft nicht verschweigen, die mein Freund für das schöne Geschlecht hegte. Faustino liebte die Frauen […] Es stimmt, dass er gesagt hat, von allen Frauen, die er gehabt hat, hätte er nur eine einzige geliebt, Dona Anacleta, seine Ehefrau, und ich glaube, das stimmt, denn schließlich ist er in ihre Arme zurückgekehrt, nachdem er mehr als zwanzig Jahre durch Afrika gezogen ist […]« »Faustino, mein alter Freund, das Leben ist ein schneller Traum. Ich schaue zurück und sehe dich Fußball spielen – du warst ein schlechter Spieler – mit Velhinho, Mascote, Camauindo, Antoninho, dem Sohn von Moreira aus der Kneipe, der Mannschaftskapitän war. Ich erinnere mich außerdem an Zeca Pequenino, unseren Torwart, der später sogar Profi geworden ist, fast berühmt geworden wäre und sich nicht mehr an uns erinnert. Wer kennt ihn heute noch? Ich schaue zurück und sehe dich, Jahre später, wie du auf den Tanzveranstaltungen der Liga Africana Klavier spielst […]« »Einmal, da warst du schon lange weg, kam ich nach Lourenço Marques, und jemand nahm mich mit ins Hotel Polana. Als ich in den Salon kam, begann der Pianist, Muxima zu spielen. Das warst du, schon mit ein paar weißen Haaren, aber immer noch jung und elegant. Du sagtest zu mir: ›Schwarze kommen hier nicht rein‹, und wirklich, wir waren die einzigen farbigen Männer. Du ließest ein paar von deinen Lachern los, voller Leben, voller Klang und Zorn und fügtest hinzu: ›Ich komme mir vor wie eine Gazelle, die in einem Rudel Löwen weidet. Der Trick ist, die Mähne zu schütteln und dabei laut zu brüllen.‹ Tatsache ist, dass Faustino Manso immer überall hineinkam, wo er wollte. Er hat sich nie an einer Tür abweisen lassen und nie hat es jemand gewagt, ihn an der Tür abzuweisen […]« Als der Alte fertig war, trat eine beinahe vollkommene Stille ein. Insekten summten. Mir fielen die Frangipanibäume auf, ohne Blätter, aber voller Blüten. Große weiße Blüten mit fünf Blütenblättern ruhten auf den nackten Zweigen wie aufgewirbelte Schneeflocken. Ein steinerner Engel betete kniend gleich rechts von mir. Ich trat einen Schritt vor. Vor der Urne stand eine alte Frau, sehr elegant, sehr zerbrechlich, auf zwei andere Frauen gestützt. Ich sah, wie sie ihren Blick hob und zu singen begann, erst mit einem brüchigen Stimmchen und dann, als hätte sie Flügel bekommen, in einer Sprache ohne Kanten, die nur zum Singen geschaffen zu sein schien. Nach und nach schlossen sich der Witwe andere Frauen an, dann alle Männer und schließlich die Kinder, ein perfekter Chor. Die Melodie war von erschreckender Schönheit. Mir fiel erst auf, dass ich weinte, als ein bildschönes Mädchen, schlank und mit kurzem Haar wie ein Junge, aber blond gefärbt, mir ein Päckchen Papiertaschentücher entgegenstreckte. »Nimm, Cousine, behalte sie. Ich habe mich vorbereitet. Das tue ich immer.« »Cousine?« »Sind wir denn keine Cousinen? Ich glaube, wir alle hier sind Cousins und Cousinen. Ich bin Merengue, die Tochter von General N’Gola.« Merengue war es dann auch, die mich Dona Anacleta vorstellte. Die alte Dame schaute mich einen Moment lang argwöhnisch an. »Entschuldige, Mädchen, ich kann mich an dich nicht erinnern. Du bist die Tochter von …?« Ich nahm meinen Mut zusammen. »Ich bin eine Tochter des Verstorbenen«, antwortete ich. »Ich bin eine Tochter Ihres Mannes.« Ich dachte, sie würde sauer werden. Fürchtete, sie würde mich schreiend vom Friedhof vertreiben. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie umarmte mich mit ehrlicher Herzlichkeit, fast glücklich. »Du bist noch so jung. Wie alt bist du? Dreißig? Du kannst nur das Nesthäkchen sein, Laurentina. Ich bin so froh, dass du gekommen bist, Kind. Willkommen in deiner Familie.« So fand ich mich nach der Beerdigung im Haus von General N’Gola wieder, dem zweiten Sohn von Anacleta. Das Haus lag am Ende einer heruntergekommenen, staubigen Straße ohne Bäume, die zu einem kleinen Hügel voller Baracken führte. Merengue, meine Nichte, erzählte mir, dass in dieser Straße zu Kolonialzeiten die obere Mittelschicht gewohnt habe. Heute stehen dort sehr schöne, sehr gepflegte, wenn auch hinter hohen Mauern versteckte Häuser neben anderen, die fast zusammenfallen. Merengue sagte mir auch, dass Häuser in Luanda ein Vermögen kosten, selbst die heruntergekommenen. Viele seien kurz nach der Unabhängigkeit von armen Bauern besetzt worden, die aus den Musseques gekommen seien und die Häuser anschließend ausgeschlachtet und abgewohnt hätten. Und sie jetzt zu Fantasiepreisen, eine Million Dollar oder mehr, verkauften und dann verschwänden. Ich staunte. Gerne würde ich einen Film über einen dieser Hausbesetzer drehen. Herausfinden, was ein armer Mensch tut, der plötzlich eine Million Dollar bekommt. Wo geht er hin? Mandume dagegen ist erschüttert und jammert ununterbrochen über den Lärm, den chaotischen Straßenverkehr, die ziellos umhertreibenden Menschenmassen in den Straßen. Ich sagte: »Energie!« »Energie?« »Energie. Was ich spüre, ist Energie. Diese Stadt pulsiert.« Wenn ich ehrlich bin, weiß ich noch nicht, ob ich sie liebe oder hasse. Luanda meine ich. Die Villa von General N’Gola lag in einem großen tropischen Garten mit Palmen, Bananenstauden und einem Teich mit Springbrunnen und roten Fischen. Rund um ein herrliches Schwimmbecken standen zahlreiche runde Eisentische. Die Leute plauderten. Aßen und tranken. Am Tisch, an den wir gesetzt wurden, saß bereits ein junger Unternehmer – »Ich importiere Wein und Spirituosen«, sagte er, als er sich vorstellte – mit seiner Frau, einem dicken Mädchen mit makellosem Gesicht, frisch diplomiert in Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Rio de Janeiro. Außerdem noch ein hoch gewachsener junger Mann mit breiten Schultern, der mich mit fröhlicher Offenheit begrüßte. »Tante Laurentina, stimmt’s? Oma hat es mir schon erzählt. Es wurden Wetten abgeschlossen, wie viele Kinder von Großvater Faustino, unbekannte natürlich, auf der Beerdigung auftauchen würden. Zwei sind gekommen. Sie und ein Militär aus dem Süden.« Ich muss rot geworden sein. Er bemerkte mein Unbehagen. »Ach was, ärgern Sie sich nicht. Sie sind Teil der Familie. Es tut mir leid, dass Sie den Alten nicht mehr lebend kennenlernen konnten. Er war ein außergewöhnlicher Mensch. Wir alle freuen uns, dass Sie gekommen sind. Vor allem ich, weil ich jetzt eine so schöne Tante habe. Habe ich mich schon vorgestellt? Entschuldigung, mein Name ist Bartolomeu, Bartolomeu...