E-Book, Deutsch, Band 012, 160 Seiten
Reihe: Bibliothek César Aira
Aira Weltflucht
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7518-0948-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Essays
E-Book, Deutsch, Band 012, 160 Seiten
Reihe: Bibliothek César Aira
ISBN: 978-3-7518-0948-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
César Aira, geboren 1949 in Coronel Pringles, veröffentlichte bisher über 80 Bücher: Romane, Novellen, Geschichten und Essays. Darüber hinaus übersetzt er aus dem Englischen, Französischen und Portugiesischen und lehrt an den Hochschulen von Rosario und Buenos Aires, wo er heute lebt. Aira gilt als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Autoren der Gegenwart - und als ihr raffiniertester. Seine Texte überraschen durch Genresprünge, aberwitzige und riskante Erzählkonstruktionen und Plots. 2016 erhielt er den Premio Iberoamericano de Narrativa Manuel Rojas.
Weitere Infos & Material
Eine kurze Rede
Als Kind hütete ich sorgsam, was ich nicht verstand, was unerklärlich blieb, den seltenen Edelstein, der im trivialen, tauben Gestein des Einsichtigen und Bekannten glänzte. Ich war nicht der Einzige. Es gibt einen Instinkt, der Kinder zum Unerklärlichen hinzieht und, wie ich vermute, Teil ihrer natürlichen Ausstattung ist. Vielleicht wird den Kindern heute zu viel erklärt, man spornt sie an, alles zu verstehen, und gibt ihnen die Mittel an die Hand, ihre Fragen sofort zu beantworten. Diese Einstellung ist möglicherweise auch Teil eines gesellschaftlichen Evolutionsprozesses, der darauf abzielt, das Nachwachsen unproduktiver Träumer zu verhindern. Solche Schutzvorkehrungen gab es noch nicht zu der Zeit und in dem Ort, wo ich meine ersten Jahre verlebte: ein Städtchen mit einer Landbevölkerung, der es nicht im Traum eingefallen wäre, ihre Kinder anders zur Erkenntnis anzuspornen, als indem man sie zur Schule schickte und sie sich dort allein zurechtfinden ließ. Ich kann sagen, dass ich ungestört meinen Geheimnissen nachgehen durfte, die nicht weltbewegend waren. Auf mich zugeschnittene Geheimnisse, die ich niemandem anvertraute, aus Angst, man würde sie mir enthüllen und mich ihrer köstlichen Dunkelheit berauben. Ich erinnere mich, dass ich einmal in einer Zeitschrift auf eine Werbung für Seife stieß, von der behauptet wurde, neun von zehn Hollywoodstars würden sie benutzen. Ein Gefühl der Entrüstung überkam mich angesichts der Grausamkeit, mit der jene Werbetexter die arme Frau, die Nummer zehn, auf diese Weise bloßstellten, sie so öffentlich und zugleich so heimtückisch denunzierten. Es stimmt, ihr Name blieb ungenannt, aber die anderen neun Harpyien würden ihn schon kennen, das ganze sich gnadenlos das Maul zerreißende Hollywood nicht minder. Im Kino versuchte ich zu erraten, um welche der Schauspielerinnen es sich handelte, versuchte jenseits der Rolle, die sie darstellte, ihre wahre, rebellische Persönlichkeit zu erkennen. Mein Blick richtete sich auf die Nebendarstellerinnen, Statistinnen eingeschlossen: Die diskriminierende Ausgrenzung, die ihr durch die Schuld der vermaledeiten Seife widerfuhr, machte es wenig wahrscheinlich, dass man ihr Hauptrollen übertrug. Mein Mitleid für sie legte sich rasch. Ich dachte mir nämlich: Wenn sie die Charakterstärke besaß, sich dem Gebrauch der Seife zu verweigern, die alle anderen benutzten, wäre sie auch imstande, die Bosheit an sich abperlen zu lassen und zu besiegen, die jene trifft, die den Mut besitzen, anders zu sein als andere. Ich identifizierte mich mit ihr, der unbekannten, namenlosen, rebellischen Amazone. Auch ich glaubte, anders zu sein. Umgeben von Jungen, die verzweifelt nach Gewissheiten suchten, suchte ich nach Geheimnissen, die ihre Aufklärung schuldig blieben, war ein Connaisseur des Unbekannten. Viel später erfuhr ich, dass ich so originell nicht war. Ich las irgendwo, dass einer der Heroen meiner Jugend, John Cage, als Kind nur mochte, was er nicht verstand, und alles, was er verstand, als banal und eines intelligenten Kindes unwürdig verschmähte. So radikal war ich nicht, denn mir wurde bald klar, dass der Königsweg in die Ferne und zum Geheimnis über das führte, was ich zum Greifen nah hatte, das sich meinem Blick und Verständnis offen darbot. Auf meinen Expeditionen fand ich zu den Büchern, und die Lektüre wurde zu meiner Lieblingsbeschäftigung, seit damals und für immer, bis heute. Die Lektüre war und ist eine unerschöpfliche Begabung mit anderen Welten, doch wohnte ihr auch etwas Nostalgisches inne. Denn das emsige Lesen hatte unweigerlich zur Folge, dass ich mich in jene banale Person verwandelte, die der GEBILDETE MENSCH ist, der Mensch der Antworten, der in jedem Moment zu einem langweiligen Besserwisser mutieren kann. Die Bücher erhellten mir Fragen, die ich lieber in der Schwebe vielsagender Dunkelheit belassen hätte: Nach und nach verblassten die Rätsel; auch das ging nicht nur mir so. Ich erinnere mich, eine Dichterin einmal von der Traurigkeit sprechen gehört zu haben, die sie empfand, als das Wort »cartílago« (Knorpel) aufhörte, das zu sein, was es ihre ganze Kindheit über gewesen war: ein Ritter in stählerner Rüstung mit gezücktem Schwert auf einem steilen Felsvorsprung, um durch ihr gewachsenes Bescheidwissen zu einem Fußsoldaten des menschlichen und tierischen Gewebes degradiert zu werden. Ich war ein doppelter Leser, wobei ich mich frage, ob das nicht auf alle Leser zutrifft, ob die Dissoziation von Welten, in der die Lektüre besteht, nicht der Normalfall ist. Aber meine Verdopplung war besonders: Zum einen suchte ich die Distanz des Hermetischen, um neue Verblüffungen in mir freizusetzen: Surrealisten, Gongoristen, dunkle Philosophen, die für meine Ohren klangen wie dissonantes Stimmengewirr in Vogelsprache. Ich schreckte nicht einmal vor Büchern in Sprachen zurück, die ich kaum und schlecht beherrschte, um wieder den köstlichen Schauer des Unverständlichen zu spüren. Aber es gab auch den anderen Gesichtspunkt, wo die Distanzierung ihre Grenze in der Nähe oder Nachbarschaft einer massiven Identifikation mit dem Menschlich-Allzumenschlichen des alten Realismus fand. Die von Piraten, Musketieren und Schatzsuchern handelnden Romane fanden ihre Fortsetzung in Zola, in Dickens. Dort begegnete mir ein anderes Kaliber von Geheimnis, verfeinert, verwandelt, insofern es das Wirkliche verwandelte. Balzac war geheimnisvoller als Mallarmé, weil er mich auf das Geheimnis meiner selbst zurückwarf, auf meine Sehnsüchte, Ambitionen, Ängste. Das Dunkle verbarg sich im Hellen, man musste es aus den alltäglichen Ereignissen herausschälen, wie ein Missverständnis. Als darum die Lektüre im Schreiben kristallisierte, gab es ebenfalls eine nicht zu tilgende Duplizität. Der esoterische Avantgardismus, nach dem ich beim Hören von Pierrot Lunaire und Cecil Taylor getrachtet hatte, verharrte auf halbem Weg, eingefügt in das Alte, welches das ist, was man liest, während das Neue da ist, um geschrieben zu werden. Ich bewahrte das Alte aus Treue zur Lektüre. Aus Treue und Dankbarkeit, denn manche von uns haben ihr viel oder fast alles zu verdanken. Eines meiner Lieblingszitate ist ein Satz von Fontenelle: »Es gibt keinen Kummer, der einer Stunde der Lektüre standhielte«. Man muss tatsächlich nicht einmal Kummer haben, um die tröstende Kraft der Lektüre zu erfahren. Aber diese Stunde gibt es nicht umsonst, nicht einfach dadurch, dass man ein Buch aufschlägt. Man muss einen langen Lernprozess durchlaufen, um sie von weit her zu holen, aus den ersten Lektüren, als sie uns wie ein Wunder erschienen, um das neue Wunder einer Waffenruhe im ewigen Probleme-Bewältigen und Ziele-Verfolgen zu bewirken, die das Erwachsenenleben ausmachen. Ich glaube, dass Fontenelle die hedonistische und absichtslose Lektüre im Auge hatte, ebenjene, der sich jeder gute Leser rühmt, auch wenn er lügt. Wer aus Lust am Lesen liest, muss den Gesetzen der Lust gehorchen, deren erstes und einziges das Gesetz der Freiheit ist. Freiheit von den Konditionierungen, in die man die Lektüre einschließt, von ihren Nutzanwendungen: bilden, informieren, den Geschmack verfeinern, zum Denken anregen. Die Lust am Lesen kann in einem glücklichen Nihilismus all das getrost beiseitelassen. Nun ist aber der Nihilismus ein Weg ohne Wiederkehr, und die Freiheit, die man der Lust zugesteht, kann unvorgesehene Verläufe nehmen. Jemand kann so blasphemische Dinge tun, wie die Lust an Shakespeare, Kafka, Henry James verlieren und sich der Lektüre von Kriminalromanen zuwenden. Dergleichen ist weniger unüblich, als man zugeben mag (wie ich bestätigen kann). Und es kommt nicht von ungefähr, dass in diesem Fall Kriminalromane die Lektüre der Wahl sind. Wer sein Leben damit zugebracht hat, die Klassiker zu lesen, die alten wie die modernen, der hat im Zeichen des Wiederlesens gelebt, das unabhängig davon, ob man es tut oder nicht, jeder guten Literatur inhärent ist. Es gibt eine Verdopplung der Zeit in der Lektüre, die Notwendigkeit eines zweiten Standpunkts für das Etablieren der Perspektive und das Fällen des Werturteils. Der Kriminalroman ist schlechthin das, was nicht wiedergelesen wird, er fungiert als sein eigener Spoiler, und seine Leser entledigen sich jener zeitlichen Duplizität, wie sie für die Klassiker konstitutiv ist. Aber auch ohne die Perspektive, die ihm das Wiederlesen verleiht, ist das Werturteil unvermeidlich. Noch von der am wenigsten prätentiösen Lektüre verlangen wir Qualität; verlangen sie von ihr sogar mehr als von anderen, weil sie nicht von vornherein ein Gütesiegel trägt. So leidenschaftlich gern ich Kriminalromane lese, so dankbar ich für das geballte Vergessen bin, das sie mir bescheren, beurteile ich sie doch mit aller Strenge. Agatha Christie finde ich langweilig, Margery Allingham bewundere ich rückhaltlos, doch bedauere ich ihren gelegentlich forciert moralischen Ton. Dorothy Parker gegenüber befinde ich mich in einem Loyalitätskonflikt: Ich verstehe nicht, warum Borges nicht müde wurde, schlecht von...




