Aitmatow | Abschied von Gülsary | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 216 Seiten

Aitmatow Abschied von Gülsary

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30743-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 216 Seiten

ISBN: 978-3-293-30743-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der alte Tanabai ist mit seinem Hengst Gülsary auf dem nächtlichen Heimweg in die kirgisischen Berge. Nach einem stürmischen Leben wird dies ihr letzter Gang. Beide sind müde geworden. Wie an Stationen eines Kreuzwegs brechen die Bilder der Vergangenheit hervor, die hitzigen Jahre des Aufbaus und des Weltkriegs, als die Steppe urbar gemacht und aus den Trümmern eine neue Welt aufgebaut wurde. Erinnerungen an ihre Feste, an die Reiterspiele, in denen sie gemeinsam siegten, an ihre großen und kleinen Romanzen. Und dann die Stationen des Abstiegs, der Enttäuschungen. Aitmatow hat in diesem Roman der Kraft, der Klage und Sehnsucht des Individuums Sprache verliehen, das den Gang der Geschichte in seine Hand nimmt und wieder ihr Opfer wird.

Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.
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1


Der alte Mann fuhr auf einem alten Wagen. Auch der falbe Passgänger Gülsary war alt, sehr alt.

Der Weg zum Plateau war lang und mühsam. Im Winter wirbelte zwischen den kahlen grauen Hügeln der Schnee zuhauf, und im Sommer lag über ihnen eine Höllenhitze.

Für Tanabai war dieser Aufstieg immer eine Plage. Er mochte das langsame Fahren nicht, konnte es nicht ertragen. In seiner Jugend hatte er oft zum Kreiszentrum kutschieren müssen, und auf dem Rückweg nahm er dann den Berg jedes Mal im Galopp. Mitleidlos ließ er das Pferd unter der Peitsche gehen. Fuhr er mit dem Ochsengespann und hatte er Begleiter, sprang er vom Wagen und lief zu Fuß. Wütend stürmte er bergan, wie zu einem Angriff, und machte erst auf dem Plateau halt. Dort sog er die Luft tief in die Lungen und wartete auf das heraufkriechende Gespann. Sein Herz hämmerte und stach in der Brust. Aber so war es besser, als wenn er sich von den Ochsen hätte ziehen lassen.

Der verstorbene Tschoro hatte sich oft über diese Absonderlichkeit seines Freundes lustig gemacht. »Weißt du, Tanabai, warum du kein Glück hast? Wegen deiner Ungeduld. Glaub mir. Nichts kann dir rasch genug gehen. Auf zur Weltrevolution! Ach, was heißt zur Revolution, ein gewöhnlicher Weg, der Aufstieg von Alexandrowka, selbst der geht dir auf die Nerven. Alle fahren ruhig, wie es sich gehört, du aber springst ab und rennst den Berg hinauf, als wären Wölfe hinter dir her. Und was hast du davon? Nichts. Hockst dort oben und wartest auf die andern. Auch in die Weltrevolution wirst du allein nicht springen; du musst warten, bis alle so weit sind.«

Doch das war lange her, sehr lange.

Heute hatte Tanabai überhaupt nicht gemerkt, wie er die Anhöhe hinter sich gebracht hatte. Er war alt geworden und fuhr jetzt weder schnell noch langsam. Er fuhr halt, so gut es ging. Jetzt war er stets allein unterwegs. Von der fröhlichen Schar, die in den Dreißigerjahren mit ihm diesen Weg zog, war kaum einer übrig geblieben. Viele waren gefallen, viele gestorben, die anderen lebten zu Haus ihre Tage zu Ende. Die Jugend fuhr mit Autos. Sie mochte nicht mehr in solch armseligen Karren dahinkriechen.

Die Räder ratterten über den alten Weg. Tanabai hatte noch weit zu fahren. Vor ihm lag die Steppe, und dort, hinter dem Kanal, dehnte sich das Vorgebirge.

Seit Langem schon wusste er, dass das Pferd schwächer wurde. Aber er machte sich keine Sorgen darum und hing seinen Gedanken nach. War es denn so ein großes Unglück, wenn ein Pferd unterwegs ermüdete? Das kam alle Tage vor. Es würde es schon schaffen.

Tanabai konnte nicht wissen, dass der alte Passgänger Gülsary, der diesen Namen seiner hellgelben Mähne verdankte, zum letzten Mal die Anhöhe von Alexandrowka überwand und seine letzten Werst zurücklegte. Das Pferd lief wie betäubt. Vor seinen trüben Augen tanzten bunte Kreise, und die Erde wankte.

Der vor ihm liegende Weg verschwamm in rötlichen Nebelschwaden. Lange schon ging von dem überanstrengten Herzen ein dumpfer, ziehender Schmerz aus, das Atmen im Kummet wurde immer schwerer. Das verrutschte Geschirr schnitt ins Kreuz, und auf der linken Seite stach dauernd etwas Spitzes in die Schulter. Vermutlich war eine Niete durch den Filzbelag des Kummets gebrochen. Auf der alten verhornten Quetschung an der Schulter hatte sich eine kleine Wunde geöffnet, die unerträglich pochte und brannte. Die Hufe wurden immer schwerer, als stapften sie über nassen Ackerboden.

Aber das alte Pferd zottelte trotzdem weiter. Ab und zu zerrte Tanabai am Zügel, trieb das Tier an. Dabei hing er seinen Gedanken nach. Da war so viel, über das er nachzudenken hatte.

Die Räder ratterten über den alten Weg. Immer noch, seit er zum ersten Mal ängstlich zitternd auf eigenen Beinen gestanden hatte, ging Gülsary den gewohnten Passgang, seit damals, als er auf der Wiese hinter der Mutter, der großen, langmähnigen Stute, hergelaufen war.

Gülsary war Passgänger von Geblüt, und sein herrlicher Passgang hatte ihm viele gute und bittere Tage eingebracht. Früher wäre es niemandem eingefallen, ihn anzuspannen. Das wäre einer Schändung gleichgekommen. Aber in der Not trinkt ein Pferd auch mit Zaumzeug, wie man so sagt, und in der Not durchwatet ein Mann auch in Stiefeln die Furt.

All das lag weit zurück. Jetzt lief der Passgänger mit letzter Kraft zum letzten Mal dem Ziel entgegen. Noch nie war er ihm so langsam entgegengelaufen. Und doch hatte er sich ihm noch nie so rasch genähert.

Bis zum Ziel war es nur noch ein Schritt.

Die Räder ratterten über den alten Weg.

Das Gefühl, weichen Boden unter den Hufen zu haben, ließ in dem erlöschenden Gedächtnis des Pferdes dunkel längst vergangene Sommertage erstehen, nasse Bergwiesen, die wunderbare Märchenwelt, wo die Sonne wiehernd über die Gipfel galoppierte und er, ein dummes Fohlen noch, ihr nachgejagt war über die Wiese, durch den Bach und durch die Büsche, bis der Hengst der Herde ihn mit zornig angelegten Ohren eingeholt und zurückgebracht hatte. Damals, in jenen längst vergangenen Tagen, war ihm die Mutter, die große, langmähnige Stute, eine warme Milchwolke gewesen. Er liebte die Augenblicke, wenn die Mutter sich plötzlich in eine zärtlich schnaubende Wolke verwandelte: Ihre Zitzen wurden straff, die Milch schäumte auf den Lippen, und sie floss so reichlich und war so süß, dass er sich vor Gier verschluckte. Er liebte es, den Kopf unter den Bauch seiner großen, langmähnigen Mutter zu stecken. Was war das doch für eine berauschende Milch gewesen! Die ganze Welt, die Sonne, die Erde, die Mutter lebten in so einem Schluck Milch. Und man konnte immer noch ein bisschen trinken, selbst wenn man schon satt war.

Aber ach, das währte nur kurze Zeit, sehr kurze Zeit. Bald änderte sich alles. Die Sonne am Himmel hörte auf, wiehernd über die Berge zu galoppieren, sie ging streng im Osten auf und unbeirrt im Westen unter, die zerstampfte Wiese unter den Hufen schmatzte und wurde dunkel, und die Steine am Bach bekamen Risse. Die große, langmähnige Stute ward zur strengen Mutter und biss ihn schmerzhaft in den Rist, wenn er sie zu sehr belästigte. Die Milch reichte nicht mehr. Gras musste er fressen. Jenes Leben begann, das lange Jahre dauerte und dessen Ende nun nahte.

Nie mehr war der Passgänger in jenen für immer vergangenen Sommer zurückgekehrt. Unter dem Sattel vieler Reiter war er viele endlose Wege gezogen. Und erst jetzt, unter der Sonne, mit der wankenden Erde unter den Hufen, da alles vor seinen Augen flimmerte und verschwamm, tauchte jener Sommer vor ihm auf, der so lange nicht wiedergekehrt war – die Berge, die nasse Wiese, die Herden und die große, langmähnige Stute.

Gülsary streckte sich, tappelte heftig mit den Hufen, um dem Kummet und der Gabeldeichsel zu entrinnen, um in die vergangene, sich ihm plötzlich wieder auftuende Welt hineinzutraben. Aber das Trugbild entrückte immer wieder, und das war qualvoll. Die Mutter lockte ihn, wie in der Kindheit, mit leisem Wiehern. Die Herden zogen vorüber, wie in der Kindheit, und streiften ihn mit ihren Flanken und Schweifen. Doch ihm fehlte die Kraft, den Dunstflimmer des Schneesturms zu durchdringen, der immer stärker wurde und ihm die Flocken in Augen und Nüstern peitschte. Heiß brach ihm der Schweiß aus den Poren, und er zitterte vor Kälte. Still versank jene unerreichbare Welt. Berge, Wiese und Bach verschwanden, die Herden jagten davon, und in dunklen Umrissen tauchte der Schatten der Mutter, der großen, langmähnigen Stute, vor ihm auf. Sie ließ ihn nicht im Stich. Sie rief ihn. Schluchzend wieherte er aus ganzer Kraft; aber es war nichts zu hören. Und alles verschwand, auch das Schneegestöber. Die Räder standen still. Die Wunde unter dem Kummet schmerzte nicht mehr. Der Passgänger war stehen geblieben und wankte.

Die Augen taten ihm weh. In seinem Kopf hämmerte es dumpf.

Tanabai hängte die Zügel vorn über den Wagen, stieg schwerfällig ab, vertrat sich die steif gewordenen Beine und ging zu dem Pferd. »Bei dir stimmts wohl nicht!«, schimpfte er.

Der Passgänger stand da, sein großer Kopf auf dem langen schmalen Hals ragte weit über das Kummet. Die Rippen hoben und senkten sich und spannten die Haut über den mageren, schlaffen Flanken. Einst hellgelb, golden, war sie jetzt graubraun vor Schweiß und Schmutz. Graublaue Schweißbäche rannen in schaumigen Streifen von der knochigen Kruppe über Bauch, Beine und Hufe.

»Ich werd ihn doch nicht zu sehr getrieben haben«, murmelte Tanabai und wurde unruhig. Er lockerte den Bauchgurt, löste den Kummetriemen und zäumte das Pferd ab. Heißer, klebriger Speichel war am Gebiss. Mit dem Ärmel wischte er dem Pferd Maul und Hals. Dann raffte er hastig den Rest Heu vom Wagen und warf ihn dem Tier vor. Aber das stand zitternd und rührte das Futter nicht an.

Tanabai hielt ihm ein Büschel vor die Nase. »Da, friss! Was hast du nur?«

Die Lippen des Passgängers bewegten sich, konnten jedoch das Heu nicht fassen. Tanabai blickte ihm in die Augen und wurde ernst. Sie waren tief eingesunken, halb verdeckt von den kahlen Lidfalten, und er konnte nichts darin erkennen. Sie waren erloschen und leer, wie die Fenster eines verlassenen Hauses.

Betroffen sah sich Tanabai um. In der Ferne die Berge, rings öde Steppe. Zu dieser Jahreszeit war hier selten jemand unterwegs.

...


Aitmatow, Tschingis
Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.



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