E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Aitmatow Das Kassandramal
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30746-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-293-30746-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.
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1
Auch dieses Mal war im Anfang das Wort. Wie damals, in der bekannten Geschichte. Und obwohl Es nicht Gott verkörperte, war doch alles, was danach geschah, nur die Folge des Gesagten.
Jene, die als Erste, ganz unvorbereitet, mit der so unerwarteten Erscheinung konfrontiert wurden, wären nie auf den Gedanken gekommen, dass sie später diese Geschichte, um die Wette schreibend, in Memoiren und Bestsellern als größte Erschütterung ihres Jahrhunderts darstellen würden. Und sie konnten ihr Zeugnis nicht anders beginnen als mit dem banalen Satz: »An jenem Tag begann alles wie in einem Kriminalroman.«
Aber so war es, als plötzlich die gesamte Redaktion zu einer außerordentlichen Sitzung in die Chefetage zusammengerufen wurde und die Anweisung erging, die Konferenz bis auf Weiteres streng abzuschotten. Es durfte aus der Redaktion weder angerufen noch auf Anrufe oder Faxe geantwortet und kein Besucher, wer er auch sein mochte, ins Gebäude der Tribune eingelassen werden.
Mit diesem Ausnahmezustand begann alles.
Wer hätte es sich träumen lassen, dass eine solche Erklärung auf den Frontseiten der Weltpresse veröffentlicht würde! Aber man musste sich entscheiden, hier gab es nur ein Entweder-oder. Und die Tribune, die schon lange heimlich, aber energisch an ihrem Image einer »weltweiten Meinungsmacherin« arbeitete, konnte der Versuchung nicht widerstehen (einer teuflischen, versteht sich, wie ihre Opponenten später ausführten). Eine globale Sensation, exklusiv veröffentlicht – die Zeitung hatte ohne Übertreibung sehr viel riskiert, ja va banque gespielt und auf eine blitzartige Publikation dieses in der Menschheitsgeschichte unerhörten Dokuments gesetzt.
In der Hitze der sich überschlagenden Ereignisse hatte einer der Leitartikler die prophetischen Worte, die sich vielen einprägten, fallen lassen: »Nun denn, Freunde«, sagte er und hielt die frisch gedruckte Seite demonstrativ vor sich hin, »das Undenkbare ist geschehen, die Weltgeschichte ist aus den Fugen! Und wir haben es gewagt, unsere Tribune! Diese Latte überspringt keiner, der Rest ist unwichtig! Wie es ausgeht, werden wir ja sehen!« Dann schüttelte er den Kopf und fügte vielsagend hinzu: »Kollegen, Verzeihung bitte! Jetzt rette sich, wer kann!«
Die Warnung war begründet, wenn man genauer nachdachte. Jeder hatte das begriffen. Die Stimmungen in der Redaktion wechselten an jenem Tag von Stunde zu Stunde, alle – vom Chefredakteur bis zu den Volontären von der journalistischen Fakultät – waren entweder restlos verzweifelt, schlossen sich ein und verließen ihren Schreibtisch nicht mehr, um nicht miteinander reden zu müssen, oder sie rannten in heller Aufregung durch Korridore und Arbeitszimmer mit aufgerissenen und irrlichternden Augen. Dabei war es an der Zeit, an etwas anderes zu denken, nämlich Türen und Fenster des Gebäudes zu verbarrikadieren, um einem Ansturm der Menge standhalten zu können. Vermutlich ließ der nicht mehr allzu lange auf sich warten, alle Zeichen sprachen dafür, dass ein tobender Menschenstrom (keine Polizei in der Welt hätte ihn aufhalten können!) die Scheiben in Stücke schlagen, die Telefonapparate am Boden zerschmettern, die Möbel und die gesamte Organisationstechnik zertrümmern würde, ja man würde die Zeitungsleute bei laufenden Fernsehkameras für Reality-Shows am Kragen packen und wütend durchschütteln, weil sie es gewagt hatten, die gesamte Weltöffentlichkeit von einer Stunde zur andern in Panik zu versetzen, kurzum – die Redaktion hatte etwas ausgelöst, was noch nie da gewesen war und woran sich kein Mensch, womöglich seit Anbeginn der Tage, erinnern konnte. Doch vorerst wussten die Menschen von nichts.
Es trieb sie wie an jedem anderen Tag in lärmenden Mengen durch die Straßen der großen amerikanischen Stadt, wie lebende Flüsse um gläserne Wolkenkratzer, und daneben strömten unablässig glitzernde Automobile über den Fahrdamm, hoch über den Köpfen schwebten blendend durchsichtige Helikopter. Vorerst nahm alles seinen gewohnten Gang auf Erden, mit dem Wechsel von Tag und Nacht, mit Geburt und Tod der Geschöpfe. Vorerst war noch niemand außer sich geraten oder hatte mitten auf einem Platz aufgeschrien, erschüttert von der rücksichtslosen Zeitung, die hemmungslos in die geheimsten Sphären, in die fraglosen Gesetze der ewigen Weltordnung eingedrungen war. Vorerst hatte noch niemand den Brandsatz geworfen, der alle so aufwühlte, dass sie sich auf die Teufelsbrut stürzten …
Aber all das konnte jeden Augenblick eintreten. Die Tribune traf ihre Vorbereitungen im Geheimen, um jeder Konkurrenz zuvorzukommen. Die Ausgabe musste buchstäblich aus dem Stand gemacht werden; hätte sie sich auch nur um eine halbe Stunde verzögert, wäre das Material, das aus dem Weltraum gesendet worden war, von allen anderen Zeitungen rund um den Globus veröffentlicht worden, wer weiß, wie die Sache dann geendet hätte. Um nichts auf der Welt hätte die Tribune solch eine Chance ausgelassen, und wenn am nächsten Tag eine allgemeine Sintflut alles Leben auf Erden ausgelöscht hätte und niemand mehr, versteht sich, eine Zeitung gebraucht hätte.
Und der Ozean, jener Urspeicher einer möglichen, ja eines Tages unvermeidlichen, universalen Sintflut, war an diesem Tag mächtig aufgewühlt, er schlug gegen die Kontinente des Planeten, wiegelte mit seiner gesamten, unverrückbaren Masse den Erdball auf dessen Umlaufbahn, spielte in den Tiefen und aus den Tiefen mit gewaltigen Strömungen, ja der Ozean erregte sich selbst in plötzlich aufbrandenden Wallungen der Wellen, drehte unaufhörlich die Wasser, er glitzerte und glänzte zu der Stunde über dem ganzen atlantischen Raum.
Der Futurologe blickte aus großer Höhe auf das kochende Magma und ergötzte sich daran am Fenster des Flugzeugs über dem Atlantik. Und was er betrachtete, begeisterte ihn an jenem sonnigen Tag ganz besonders, obgleich daran nichts Besonderes war – der Ozean in der Tiefe, Wasser und Wellen, ein eintöniger, wüstenhafter Horizont. Das winzige menschliche Auge, dachte er, kann die unfassliche Weite des Weltraums überblicken. Nicht einmal dem Adler über den Wolken war solch eine Panoramasicht gegeben. Ja, dank der technischen Leistungen schafft der Mensch eine zweite Realität, entdeckt immer neue Mittel für seine universale Anpassungsfähigkeit und baut sich von eigener Hand die Glückseligkeit einer Himmelsbehausung. Früher konnte nur Gott die Erde im Ganzen überblicken und über der Welt wie ein unsichtbarer Wirbel in unsichtbarer Höhe dahinjagen. Im beharrlich gleichmäßigen Dröhnen des Flugzeugs ließ sich der Futurologe von solchen Gedanken in eine Stimmung der Muße versetzen. Genau das war es, was er sich zu der Stunde wünschte, während er noch am Himmel weilte: sich entfernen, völlig allein sein … Leicht berauscht vom Whisky, der am Grund des großen Glases mit den Eiswürfeln golden schimmerte, setzte er der angenehmen Erregung des Blutes keinen Widerstand entgegen, ganz im Gegenteil – er wollte das seltene Gefühl, da er sich befreit fühlte und nur sich gehörte, möglichst lange erhalten. So ausgezeichnet hatten sich doch die Götter nach einem Glas Wein fühlen müssen, dachte der Futurologe nicht ohne Selbstironie in dem Moment; und dass die Sitze neben ihm leer waren, also niemand neben ihm saß, der ihn durch seine Gespräche hätte ablenken können, war ebenfalls ein Glück des Augenblicks.
Der Futurologe kehrte von einem seiner gewohnten Aufenthalte in Europa zurück: wieder so eine internationale Konferenz, eine Tagung von Intellektuellen, erfüllt von den endlosen Diskussionen, die zu einer Art Lebensweise für dieses kosmopolitische Milieu geworden waren, nichts als Debatten, die sich in den Kreislauf von Meinungen und Prognosen ergossen. Die Perspektiven der Weltzivilisation … Die Gefahren des monopolaren Entwicklungsmodells … All jene stets aktuellen Probleme, bei deren Reflexion die Tage und Jahre, das ganze Leben eines Harvardgelehrten zerfloss. Und je länger er sich in diese Wissenschaft der Orakel vertiefte, desto deutlicher entdeckte er ein unergründliches, schwarzes Loch in dem vom Menschen geschaffenen Leben auf Erden; hier spürte er, dass das, was man so beharrlich zu erforschen sich bemühte, verschlüsselt blieb – nämlich die Ziele, Handlungen und das alltägliche Verhalten des gegenwärtigen Menschengeschlechts. Mitunter dünkte es ihn, der Mensch trage eine zwanghafte Unruhe in sich – immer will er das Schicksal im Voraus ausloten, sich unablässig mit dem Sinn des Lebens abquälen, eben mit all dem Kram, der sich ohnehin niemandem erschließt, nicht heute oder morgen, auch nicht in tausend Jahren. Versuch es doch einmal, sagte er sich, und verweigere dich diesem unaufhörlichen Wettlauf in der Zeit; wozu überhaupt solch ein Leben, warum nicht vor Erschöpfung und Verzweiflung abbrechen, statt stets in vollem Lauf jeden Schimmer am Horizont einschätzen zu wollen; aber dann wäre das Leben unnütz. Wird das Schicksal denn nicht unfruchtbar ohne ein Bild der Zukunft? Wie schwierig war es doch zeitweise, wissenschaftlich gelassen zu bleiben und über den Händeln der Parteien, über den Widersprüchen zu stehen und objektiv zu prognostizieren, zu welchen Abgründen sich das sogenannte Rad der Geschichte hindrehe; vielleicht war es gar kein Rad, sondern ein Ding, das sich überhaupt nicht drehen konnte, also eher eine Radfelge, die durch einen schrecklichen Schlag plattgedrückt war und in der alle Speichen auseinandergeborsten waren. Diese Form der Bewegung hatte...