Aitmatow | Der Schneeleopard | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Aitmatow Der Schneeleopard

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30749-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-293-30749-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Zeit scheint für beide abgelaufen. Der einst unbezwingbare Schneeleopard Dschaa-Bars fühlt seine Kräfte schwinden und will sich zum Sterben in das kirgisische Hochgebirge zurückziehen. Und Arsen Samantschin, der unabhängige Journalist, wird von der Welle des entfesselten Kommerzes in seiner Heimat überrollt. Die Medien kuschen, Oligarchen und Fanatiker drängen sich vor, und seine große Liebe, die Sopranistin Aidana, feiert als Popstar Triumphe. Das Schicksal führt Arsen und den Schneeleoparden in einer atemberaubenden Wendung zusammen: Arabische Prinzen haben sich zu einer luxuriösen Jagdpartie angekündigt. Arsen soll sie als Dolmetscher begleiten. Aber nicht alle im Dorf wollen hinnehmen, dass es bei diesem Geschäft so wenige Gewinner und so viele Verlierer gibt.

Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.
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1


Die Stunde der Jagd bricht für Dschaa-Bars zumeist um Mittag an. Zu der Zeit machen sich die Pflanzenfresser, die Grauziege und der Steinbock – Etschki und Archar –, von überall her auf den Weg zu den Bächen und Flüssen im Gebirge, um ihren Durst zu stillen, was mitunter über die Nacht bis zum nächsten Tag dauert. Zur Tränke ziehen sie alle wohlgeordnet. Mit flinkem, federndem Tritt scheinen sie den Boden der Pfade kaum zu berühren, bewegen sich wie hüpfende Ketten in kleinen Gruppen, scharf um sich spähend und mit feinem Gehör für alles ringsum, um bei Gefahr wie eine Sprungfeder augenblicklich über den Erdboden davonzuschnellen.

Großartig ist aber auch die Jagdkunst, die Dschaa-Bars beherrscht. Er erwartet seine Beute, geschickt getarnt und verborgen hinter einem Felsen, von wo er in zwei Takten den Überraschungssprung von oben herab vollzieht – seine Meisterleistung. Oder aber er stürzt sich seitwärts aus einem Busch jählings auf das Opfer, reißt es nieder, beißt im gleichen Augenblick die Kehle durch, beginnt noch im heiß strömenden Blut seine Happen zu verschlingen und vollendet das, wozu er bestimmt ist …

Am besten jagt es sich, wenn die Herde gehörig Wasser getrunken hat. Dazu muss sich Dschaa-Bars in der Nähe der Tränke in den Hinterhalt legen und jedes Geräusch vermeiden, geduldig ausharren und sich beherrschen. Die Beute ist so nah – nur einen Sprung entfernt, aber er muss sich zügeln und warten, bis Böcke und Grauziegen sich vollsaugen, alle Kraft verwendet er darauf, ruhig zu bleiben, bis Etschki fertig ist. Immer wieder hebt sie ihren zarten, feinen Schädel, spitzt dabei die Ohren und strahlt aus schimmernden Augen, schluckt und schluckt in unhörbaren Zügen, während die Vorderläufe bis über die Knöchel im Wasser stehen. Und je mehr Wasser Etschki in sich hineinzieht, desto größer wird seine Aussicht auf Erfolg. Denn oft genug misslingt es Dschaa-Bars, sich Etschki und Archar an die Fersen zu heften. Wenn er ihnen direkt nachsetzt, sind sie so schnellfüßig, ja geschwind wie der Schall, dass er sie nicht einholen kann und sie sich vor ihm retten. Sie brüllen und winseln nicht, beschmutzen sich auch nicht aus Angst beim Davonrennen wie manche Geschöpfe, die Wildschweine etwa, die sich bei Dürre hier ins Gebüsch verirren. Aber wenn Etschki und Archar sich satt getrunken haben, verlieren sie an Behändigkeit, und da muss man, setzen sie sich von der Tränke in Bewegung, sofort zupacken.

Auch dieses Mal zieht es Dschaa-Bars gegen Mittag zur Jagd in die Nähe einer Tränke. Er trottet gemächlich durchs Dickicht, entlang dem vertraut lärmenden Fluss, und sieht sich dabei um, kann doch einer seiner gefleckten Mitbrüder urplötzlich von hinten her auftauchen. Es kam ja vor, dass ein anderer Schneeleopard auf der Jagd war oder gar ein ganzes Rudel. Auf diese zusätzlichen Mühen und das gegenseitige bedrohliche Anfauchen verzichtet Dschaa-Bars gern! Lieber ist er allein … Und so zieht er weiter.

An diesem frühherbstlichen Tag strahlt der Tienschan, das Himmelsgebirge, in all seiner Fülle. Die Schneestürme werden erst später hereinbrechen, noch sind die Pässe seit dem Sommer frei zum Herumstreunen. Das Wild genießt die hohe Zeit des Äsens und hat bereits eine verlockende Körperfülle angesetzt, auch die Vögel lärmen, trällern und zwitschern noch ganz ausgelassen, die Nestkleinen sind schon recht kräftig. Die Vogelbrut kann ja nicht bis zum Winter bleiben, den sie hier nicht aushält, eines Tages wird alles, was Flügel hat, bis zum nächsten Sommer verschwinden.

Dschaa-Bars hält Ausschau nach Beute und späht nach einem Platz für die Jagd. Ziehen da nicht durstige Grauziegen zum Wasser? Jetzt ist es Zeit, sich zwischen Büschen und Felsen niederzukauern, wo sie den Gesprenkelten nicht bemerken können. Von hohem Wuchs ist Dschaa-Bars, elastisch, lang und stark, sein Nacken makellos und geschmeidig, sein Hals mächtig und rund, der Schädel groß und wuchtig, mit katzenhaften Ohren, und seine durchdringenden Augen leuchten und strahlen im Schatten. Die der Umgebung so gut angepassten, markant farbigen Flecken auf dichtem, wollig seidenem Fell besingt man seit alters in Liedern über Schamanen und Hakane, die sein Fell auf ihrem Körper tragen … Weiß er denn von seinem afrikanischen Bruder, der einen gleichermaßen langen und stattlichen Schweif trägt, aber wie eine Katze von Baum zu Baum springen muss, um sich von oben herab auf die Beute zu stürzen, während ihm, dem Schneeleoparden, gegönnt ist, stolz dahinzuschreiten, über Felsen und durch Schluchten zu klettern? Denn hier, in vier- bis fünftausend Metern Höhe, gibt es keine mächtigen Stämme und Baumkronen wie in Afrika, in seinem Reich liegt der Wald weit drunten im Tal, wo sich im Geäst der Bäume die Luchse tummeln. Wenn sich ein Bars wie er in die waldigen Gefilde verläuft, fauchen ihn die Luchse an und zischen, als wollten sie den entfernten Verwandten nicht anerkennen. Für die Schneeleoparden gibt es eine eigene Welt hoch oben – die großen Berge gleich unterm Himmel. Hier sind ihre Jagdgründe im Wettlauf mit Archar und Etschki, den Bergziegen und Steinböcken.

Dschaa-Bars platziert sich geschickt zwischen Steinbrocken im Gebüsch am Ufer des kleinen Flusses. Gut verborgen, spreizt er seine scharfen Krallen. Die Etschki werden bald eintreffen und sich am Wasser volltrinken, an die sieben sind es, die in einer Kette am Berghang stolz daherstelzen und zugleich ängstlich die Ohren spitzen. Aus seiner Felsspalte hat er sie schon lange erspäht. Und erstarrt jetzt voller Erwartung.

Die Sonne strahlt von hoch oben am klaren Himmel, nur vereinzelte Wolken berühren im Vorüberziehen die Gletschergipfel. Wetter und Sonne könnten nicht besser passen zu dem, was dieses einzigartige Raubtier vorhat. Innerlich und äußerlich bereitet es sich vor auf den Sprung. Der entscheidende Moment der Jagd rückt näher. Nur eins beunruhigt Dschaa-Bars – wie er da zwischen den Felsbrocken liegt und aufmerksam alles beobachtet, hört er plötzlich sich selbst, als würde er tief Atem holen. So etwas geschieht natürlich in vollem Lauf und bei jähen Sätzen und Sprüngen, auch dann, wenn in erbitterten Raufereien ums Weibchen geröchelt, gebrüllt und wütend gekeucht wird, wenn die Fetzen fliegen und man bereit ist, allen Tieren ringsum an die Kehle zu gehen. Aber in dieser reglosen Stellung, wo er mit dem Ort des Hinterhalts völlig verschmilzt und nur noch gespannte Aufmerksamkeit ist – da darf er doch nicht so schnaufen … Er hört jetzt deutlich sein Einatmen und Ausatmen. Das widerfährt ihm zum ersten Mal. Auch das Herz schlägt heute stärker als sonst und hallt nach in den Ohren.

Im Leben des Dschaa-Bars hat sich in der letzten Zeit einiges verändert. Schon seit dem vergangenen Winter ist er ein Einzelgänger, ein grimmiger Paria, den das Rudel verstoßen hat. So kommt es, wenn das Alter, zunächst unmerklich, über einen hereinbricht. Plötzlich brauchte ihn niemand mehr. Ein jüngerer Bars hatte sich seiner Barsin genähert und sie umworben. Die Rauferei war furchtbar. Er konnte ihn nicht besiegen. Ein zweites Mal gingen sie aufeinander los, verbissen sich ineinander, es ging um Leben und Tod, aber es misslang ihm erneut, den eingedrungenen Rivalen ein für alle Mal zu verjagen. Das Krummohr war äußerst bösartig – man hatte dem wohl bei früheren Balgereien das eine Ohr zerfetzt –, ein zähes, hartnäckiges Raubtier, das der Barsin zu Leibe rückte, sich zu ihr legte und sich an ihr rieb, scharwenzelte und drohte. All das trieb der Eindringling schamlos vor Dschaa-Bars’ Blicken. So kam es, dass die Barsin, mit der Dschaa-Bars nach seiner ersten Leopardin, die beim Erdbeben im Gebirge ums Leben gekommen war, lange zusammengelebt hatte, mit der er zweimal Nachkommen bekommen hatte, dass sie mit dem Rivalen, dem Krummohr, fortging. Sie stellte sich dabei zur Schau, schlenkerte mit dem Schweif mal nach links, mal nach rechts, richtete ihn hoch und krümmte ihn zu einem Bogen, rieb und rüttelte Seiten und Schultern mit dem anderen, ihrem neuen Partner. Sie lief einfach davon. Ungerührt. So mir nichts, dir nichts …

Dschaa-Bars setzte nach, holte sie ein, was nicht schwer war. Die beiden zogen hintereinander her durch die Talsenke, wo es wie zuvor zu einer wilden Balgerei kam. Bei diesem erneuten Versuch, seinen Platz als Stammvater und Erzeuger im Rudel zu erhalten, ereilte Dschaa-Bars die endgültige Katastrophe. Denn dieses Mal stürzte sich die Barsin an der Seite ihres neuen Gefährten auf Dschaa-Bars, biss ihn und zerrte an seinem Fell, was seine Niederlage besiegelte. Aber noch in dieser Lage riskierte er es, als er wieder etwas zu sich gekommen war, ins benachbarte Rudel einzudringen und sich ein jüngeres Weibchen zu schnappen. Das Geraufe war erbarmungslos, gleich drei Männchen fielen über ihn her, und so wurde wieder nichts daraus. Das Rudel mit dem Muttertier und den jungen Anwärtern rannte davon in die nächstbeste Bergschlucht, während er verlassen und verstoßen zurückblieb, abgeschnitten von seiner Bestimmung – denn im Kampf um den Erhalt des Geschlechts steht die Natur stets auf der Seite der frischen, jungen Kräfte.

Dschaa-Bars schweifte danach eine Zeit lang durch die Umgebung, mal erstarrte er mitten im Lauf, mal rannte er ziellos dahin oder legte sich auf den Boden, um sich darauf wieder zu erheben und verzweifelt die Berge anzubrüllen. Wenn er es doch nur gekonnt hätte – er wollte heulen wie der Wolf. Erschüttert und verwirrt wusste er nicht mehr aus und ein, verlor sogar die Jagdlust, die Beute reizte ihn nicht...


Hitzer, Friedrich
Friedrich Hitzer, geboren 1935 in Ulm, war freischaffender Autor, Übersetzer und Redakteur und engagierte sich als Kulturvermittler zwischen Europa, Russland und Mittelasien. 2006 wurde er mit der Puschkin-Medaille für sein Lebenswerk als Brückenbauer geehrt. Friedrich Hitzer starb 2007.

Aitmatow, Tschingis
Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.



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