Aitmatow | Der weiße Dampfer | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Aitmatow Der weiße Dampfer

Nach einem Märchen. Erzählung
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30750-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Nach einem Märchen. Erzählung

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-293-30750-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Junge wächst als einziges Kind in einer abgelegenen Försterei bei den Großeltern auf. Auf dem Issyk-Kul-See sieht er in der Ferne immer wieder einen weißen Dampfer, der ihn in seinen Tagträumen zum Vater bringt. »Er hatte zwei Märchen. Ein eigenes, von dem niemand wusste. Und ein zweites, das der Großvater erzählte. Am Ende blieb keins übrig. Davon handelt diese Erzählung.« Der weiße Dampfer, neben Dshamilja eines der wichtigsten und bekanntesten Werke von Tschingis Aitmatow, ist vollständig neu übersetzt worden. Ein Anhang zu Entstehungsgeschichte, Varianten und Wirkung des Textes ergänzen diese Ausgabe.

Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.
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1


Er hatte zwei Märchen. Ein eigenes, von dem niemand wusste. Und ein zweites, das der Großvater erzählte. Am Ende blieb keins übrig. Davon handelt diese Erzählung.

Er war sieben, ging ins achte Jahr.

Zuerst wurde eine Schulmappe gekauft. Eine schwarze Kunstledermappe mit glänzendem Metallschnappschloss und einer aufgesetzten Tasche für Kleinigkeiten. Kurz, eine ungewöhnliche, ganz gewöhnliche Schulmappe. Damit hatte wohl alles begonnen.

Der Großvater hatte sie im Verkaufsauto erstanden. Das Verkaufsauto, das die Viehzüchter in den Bergen mit Waren versorgte, kam manchmal auch zu ihnen in die Försterei, in die San-Tasch-Schlucht.

Von hier, vom Forstrevier an, bis zu den Quellgebieten der Flüsse erstreckte sich über Felsschluchten und Hänge ein unter Naturschutz stehender Bergwald. In der Försterei wohnten nur drei Familien. Trotzdem kam das Verkaufsauto hin und wieder zu ihnen.

Er, der einzige Junge von allen drei Höfen, bemerkte das Auto immer zuerst.

»Es kommt!«, schrie er und lief zu Türen und Fenstern. »Das Ladenauto kommt!«

Die Zufahrtsstraße kam vom Issyk-Kul, zwängte sich durch eine Schlucht, immerzu den Fluss entlang, ständig über Steine und Schlaglöcher. Leicht fuhr es sich auf so einer Straße nicht. Hatte sie erst den Wachtberg erreicht, stieg sie vom Grund des Engpasses steil bergan und führte dann auf der anderen Seite lange einen abschüssigen Kahlhang hinab zu den Höfen der Waldarbeiter. Der Wachtberg war ganz nah – im Sommer lief der Junge fast jeden Tag hinauf und blickte durchs Fernglas zum See. Dort auf der Straße war immer alles zu sehen wie auf dem Handteller – ob ein Fußgänger, ein Reiter oder gar ein Auto.

Diesmal – es war gerade heißer Sommer – badete der Junge in seinem Flussbecken und erblickte von dort ein Auto, das Staub aufwirbelnd den Hang hinunterfuhr. Das Becken lag am Rand einer Felsbank im Fluss, auf Geröllboden. Der Großvater hatte es aus Steinen gebaut. Ohne dieses Becken wäre der Junge vielleicht nicht mehr am Leben – wer weiß? Dann hätte der Fluss, wie die Großmutter sagte, längst seine Gebeine ausgewaschen und sie geradewegs in den Issyk-Kul getragen, wo Fische und allerlei Wassergetier sie betrachten würden. Und niemand hätte ihn gesucht und sich seinetwegen die Haare gerauft, denn er hätte ja nicht ins Wasser steigen müssen, und wer würde ihn schon vermissen? Noch war das nicht geschehen. Sollte es aber geschehen, wer weiß, vielleicht würde die Großmutter wirklich nicht losstürzen, um ihn zu retten. Ja, wenn er mit ihr verwandt wäre! Aber sie sagt, er sei ein Fremder. Und ein Fremder ist und bleibt ein Fremder, auch wenn man ihn noch so viel füttert und umsorgt. Ein Fremder … Wenn er aber kein Fremder sein will? Und warum soll gerade er der Fremde sein? Vielleicht ist nicht er, sondern die Großmutter selber eine Fremde?

Doch davon später, auch von Großvaters Flussbecken später …

Damals erblickte er also das Ladenauto, es kam den Berg herab und zog eine Staubwolke hinter sich her. Und er freute sich so, als wüsste er genau, für ihn würde eine Schultasche gekauft. Im Nu sprang er aus dem Wasser, zog sich rasch die Hosen über die schmächtigen Schenkel und rannte, noch ganz nass und blau angelaufen – das Flusswasser war kalt –, den Pfad lang zum Hof, um dort als Erster die Ankunft des Ladenautos zu verkünden.

Der Junge lief schnell, sprang über Gestrüpp, machte einen Bogen um Findlinge, wenn sie gar zu groß waren, um darüberzuspringen, und stockte nirgends auch nur für einen Augenblick – weder bei den hohen Gräsern noch bei den Steinen, obwohl er wusste, dass die keineswegs so harmlos waren. Sie konnten einschnappen und ihm sogar ein Bein stellen. »Das Ladenauto ist da. Ich komm dann wieder«, rief er im Vorbeilaufen dem »Liegenden Kamel« zu – so hatte er einen rotbraunen buckligen Granitstein getauft, der bis zur Brust in die Erde eingesunken war. Sonst ging der Junge nie vorbei, ohne seinem »Kamel« auf den Höcker zu klopfen. Er tätschelte es herrisch, so wie der Großvater seinen Wallach mit dem gestutzten Schweif tätschelte – achtlos, im Vorbeigehn. Wart nur, hieß das, ich muss erst was erledigen. Ein anderer Findling hieß »Sattel«, der war halb weiß und halb schwarz, ein scheckiger Feldstein mit einer Mulde, darin saß er wie auf einem Pferd. Dann war da noch der Stein »Wolf« – der sah aus wie ein Wolf, war braun, mit Grau gesprenkelt, hatte einen mächtigen Nacken und einen massigen Kopf. Den pirschte er kriechend an und zielte auf ihn. Doch sein Lieblingsstein war der »Panzer«, ein unzerstörbarer Felsbrocken unmittelbar am Fluss, am unterspülten Ufer. Dieser »Panzer« stand da, als würde er jeden Augenblick losfahren, dass der Fluss aufbrodelt und von weißen Sturzwellen schäumt. So fahren ja die Panzer im Kino: vom Ufer ins Wasser, und los gehts … Der Junge sah selten Filme, daher vergaß er so schnell nicht, was er einmal gesehen hatte. Der Großvater brachte seinen Enkel manchmal ins Kino der Sowchos-Zuchtfarm im Wald hinterm Berg. Deshalb war am Flussufer auch der »Panzer« aufgetaucht – immer bereit, über den Fluss zu stürmen. Es gab auch noch andere Steine – »garstige« und »gute«, ja sogar »pfiffige« und »dumme«.

Unter den Pflanzen gab es auch »liebe«, »tapfere«, »ängstliche«, »böse« und allerlei andere. Die Kratzdistel beispielsweise war sein Hauptfeind. Mit ihr focht der Junge tagtäglich Dutzende Male. Und ein Ende dieses Kampfes war nicht abzusehen, die Distel wuchs und wuchs und vermehrte sich. Die Ackerwinden jedoch, obwohl auch Unkraut, waren sehr kluge und fröhliche Blumen. Schön wie sonst keine hießen sie am Morgen die Sonne willkommen. Die anderen Pflanzen begriffen überhaupt nichts – ob Morgen war oder Abend, ihnen war alles gleich. Die Winden aber schlugen beim ersten warmen Strahl die Augen auf und lachten. Erst ein Auge, dann das zweite, und dann entfalteten sich bei ihnen nacheinander alle Blütentrichter. Weiße, hellblaue, fliederfarbene, verschiedene … Und wenn er ganz still bei ihnen saß, war ihm, als flüsterten sie nach dem Erwachen unhörbar miteinander. Auch die Ameisen wussten das. Morgens liefen sie über die Winden, blinzelten gegen die Sonne und lauschten, worüber die Blumen sprachen. Ob sie sich ihre Träume erzählten?

Am Tag, gewöhnlich gegen Mittag, schlüpfte der Junge gern in ein Gestrüpp von Estragonstängeln. Der Estragon ist hoch, Blüten hat er keine, doch er duftet, wächst haufenweise in ganzen Inseln und duldet keine anderen Pflanzen in seiner Nähe. Der Estragon ist ein treuer Freund. Vor allem wenn einen jemand verletzt hat und man unbemerkt weinen möchte, ist Estragongestrüpp das beste Versteck. Da duftet es wie am Rand eines Kiefernwaldes. Heiß und still ist es im Estragon. Vor allem aber verdeckt er den Himmel nicht. Man muss sich auf den Rücken legen und in den Himmel blicken. Zuerst sieht man durch die Tränen fast nichts. Dann aber kommen Wolken angeschwommen und gestalten oben alles, was einem in den Sinn kommt. Die Wolken wissen, dass einem gar nicht gut zumute ist, dass man am liebsten weggehen oder wegfliegen würde, damit niemand einen findet und alle dann Ach und Weh schreien, der Junge ist verschwunden, wo werden wir ihn bloß finden? Und damit das nicht geschieht, damit man nicht entschwindet, damit man still liegt und sich über die Wolken freut, werden sie sich in alles verwandeln, was man sich wünscht. Aus ein und denselben Wolken werden die verschiedensten Dinge. Man muss nur herausfinden, was die Wolken darstellen. Im Estragon aber ist es still, und er verdeckt den Himmel nicht. So ist er, der Estragon, der nach heißen Kiefern riecht …

Noch manches andere wusste der Junge von den Pflanzen. Zu dem silbrigen Federgras, das auf der Auenwiese wuchs, verhielt er sich herablassend. Federgräser sind komische Käuze. Windige Gesellen. Ihre weichen, seidigen Rispen können ohne Wind nicht leben. Sie warten nur darauf, wohin der Wind weht – und schon neigen sie sich selbst in diese Richtung. Dabei neigen sie sich mit einem Mal, die ganze Wiese, wie auf Kommando. Wenn es aber regnet oder ein Gewitter aufzieht, wissen die Federgräser nicht, wohin. Sie wogen hin und her, fallen um, pressen sich an die Erde. Ja, hätten sie Beine, dann würden sie wahrscheinlich weit weglaufen. Aber sie verstellen sich nur. Kaum ist das Gewitter abgezogen, wiegen sich die leichtsinnigen Federgrashalme wieder im Wind – wo er hinbläst, dort neigen auch sie sich hin.

Allein, ohne Freunde, lebte der Junge, umgeben von unscheinbaren Dingen, und höchstens das Ladenauto ließ ihn alles vergessen und brachte ihn dazu, dass er blitzschnell hinrannte. Natürlich – ein Verkaufsauto ist was anderes als Steine und Pflanzen. Was gibt es da nicht alles!

Als der Junge das Haus erreicht hatte, näherte sich das Verkaufsauto von der Rückseite der Häuser her bereits dem Hof. Die Häuser der Försterei standen dem Fluss zugewandt, der Vorplatz erstreckte sich über einen sanft abfallenden Hang bis unmittelbar ans Ufer; auf der anderen Seite des Flusses stieg der Wald von dem ausgewaschenen Steilhang bergan, sodass es nur einen Weg zur Försterei gab – von der Rückseite der Häuser. Wenn der Junge nicht rechtzeitig da gewesen wäre, hätte niemand gewusst, dass das Verkaufsauto bereits angekommen war.

Von den Männern war gerade keiner da, alle waren schon seit dem frühen Morgen unterwegs. Die Frauen machten Hausarbeit. Doch der Junge lief zu den...


Aitmatow, Tschingis
Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.

Kossuth, Charlotte
Charlotte Kossuth, geboren 1925 in Bolkenhain/Schlesien, war Russisch-Lektorin in Halle/Saale und fast dreißig Jahre lang Verlagslektorin für russische und sowjetische Literatur in Berlin. Sie übersetzte u. a. Aitmatow, Astafjew und Granin. Sie starb 2014 in Berlin.



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