Aitmatow | Die Klage des Zugvogels | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Aitmatow Die Klage des Zugvogels

Frühe Erzählungen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-293-30751-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Frühe Erzählungen

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-293-30751-3
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Wir fliegen, schwingen uns höher und höher. Öde und leer ist alles ringsum - nur unsere Erdkugel wiegt sich sacht, zieht durchs endlose All wie ein Kameljunges, das sich in der Steppe verirrt hat und die Mutter sucht. Wie der Kopf eines verwaisten Kindes wiegt sie sich - so schutzlos, so verletzlich.« Diese frühen Erzählungen von Tschingis Aitmatow stammen aus den Jahren 1953 bis 1965. Sie dokumentieren den literarischen Weg eines Autors, der zunächst noch unter dem Einfluss der Literatur des »sozialistischen Aufbaus« stand, aber schon bald seinen eigenen Ton und seine Motive fand und zum Erneuerer einer erstarrten Literatur wurde.

Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.
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Der Soldatenjunge


Das erste Mal sah er seinen Vater im Film. Da war er ein Knirps von etwa fünfJahren.

Als Kino diente der große weiße Stall, in dem jedes Jahr die Schafe geschoren wurden. Dieser schiefergedeckte Schafstall steht heute noch hinter der Sowchossiedlung, kurz vorm Berg, an der Straße.

Dorthin war er mit der Mutter gegangen. Seine Mutter Dshejengul, Telefonistin im Sowchospostamt, arbeitete jeden Sommer als Hilfskraft auf dem Scherplatz. Dafür nahm sie ihren Urlaub, verlängert durch das »Abbummeln« ganzer Wochenenden und Nächte, die sie während der Aussaat und der Lammung am Schaltbrett zugebracht hatte. Sie blieb, bis das letzte Schaf geschoren war. Beim Scheren wurde nach Leistung bezahlt, da konnte man ganz gut verdienen. Und sie, die Soldatenwitwe, rechnete mit jeder Kopeke. Zwar bestand die Familie nur aus ihr und dem Sohn, aber Familie bleibt Familie, da muss man Brennstoff für den Winter beschaffen, muss Mehl kaufen, bevor es auf dem Basar teurer wird, muss für Kleidung und Schuhe sorgen und noch für vieles andere.

Zu Haus gab es niemanden, der nach dem Sohn hätte sehen können, und so nahm sie ihn mit zur Arbeit. Tagelang lief er schmutzverschmiert und glücklich zwischen den Scherenden, den Schäfern und den zottigen Hunden herum.

Als der Landfilmwagen in den Hof einfuhr, erblickte er ihn zuerst, und sofort stürzte er davon, um allen dieses höchst erfreuliche Ereignis mitzuteilen.

»Das Kino ist gekommen! Das Kino!«

Die Vorführung begann nach der Arbeit, als es schon dunkel war. Bis dahin verging er fast vor Ungeduld. Doch seine Qualen wurden belohnt. Es war ein Kriegsfilm. Auf der weißen Leinwand, die zwischen zwei Pfosten hinten im Schafstall gespannt war, entbrannte eine Schlacht: Abschüsse dröhnten, pfeifend stiegen Leuchtkugeln hoch, zerrissen mit grellem Weiß die lärmdurchtoste Dunkelheit, strahlten die zur Erde geduckten Aufklärer an. Die Leuchtkugeln erloschen, und die Aufklärer stürzten wieder vorwärts. Maschinengewehre feuerten inmitten der Nacht, dass es dem Jungen den Atem verschlug. Wenn das nicht Krieg war!

Die Mutter hatte sich mit ihm auf Wollballen niedergelassen, hinter den anderen. Von da sah man besser. Er hätte freilich lieber in der ersten Reihe gesessen, dort, wo es sich die Kinder aus dem Sowchos bequem gemacht hatten. Er wollte gleich zu ihnen flitzen, doch die Mutter hielt ihn zurück.

»Nun reichts aber, von früh bis spät tobst du rum, jetzt bleib mal bei mir.« Und sie nahm ihn auf den Schoß.

Der Filmapparat surrte, der Krieg ging weiter. Die Zuschauer wandten kein Auge von der Leinwand. Die Mutter seufzte; manchmal, wenn ein Panzer direkt auf sie zielte, fuhr sie erschrocken zusammen und presste den Sohn fester an sich. Eine Frau, die neben ihnen auf den Ballen saß, schnalzte kummervoll mit der Zunge und murmelte: »Mein Gott, was geht da vor, mein Gott!«

Er aber fand es gar nicht so schrecklich; im Gegenteil, wenn die Faschisten fielen, war es sogar recht lustig. Fielen aber Sowjetsoldaten, dann meinte er, sie müssten gleich wieder aufstehen.

Überhaupt ist es komisch, wie die Menschen im Krieg fallen. Haargenau wie Kinder beim Kriegspielen. Er kann auch so fallen, mitten aus dem Lauf heraus, als hätte ihm jemand ein Bein gestellt. Weh tut es ja, wenn man so hinschlägt, doch was machts, man steht wieder auf, der Angriff geht weiter, und vergessen ist der Schmerz. Diese hier aber stehen nicht mehr auf, sie bleiben als unbewegliche dunkle Hügel liegen. Er kann auch anders fallen, so wie die Soldaten nach einem Bauchschuss. Die fallen nicht sofort, sie greifen sich erst an den Leib, krümmen sich und lassen sich langsam ins Gras sinken, während ihnen die Waffe aus der Hand gleitet. Er verkündet danach immer, er sei gar nicht tot, und kämpft weiter. Diese hier aber standen nicht wieder auf.

Der Krieg ging weiter. Der Filmapparat surrte. Jetzt erschienen auf der Leinwand Artilleristen. Unter starkem Feuer, inmitten von Explosionen und Rauch, brachten sie eine Pak für den direkten Beschuss in Stellung. Sie schoben das Geschütz eine steile Böschung hinauf. Der Hang war hoch und breit, reichte fast bis an den Himmel. Und auf diesem hohen und breiten Hang, der unter den schwarzen Spritzern der Explosionen beinahe barst, arbeitete sich das Häuflein Artilleristen vor. In ihren Bewegungen, in ihrem Äußeren war etwas, was einem das Herz höher schlagen ließ und die Brust mit Stolz, Schmerz und der Erwartung von Schrecklichem und Großem erfüllte. Es waren sieben Mann. Ihre Kleidung schwelte. Einer der Artilleristen sah nicht wie ein Russe aus. Vielleicht hätte der Junge ihn gar nicht beachtet, wenn nicht die Mutter geflüstert hätte: »Schau nur, dein Vater …«

Von da an wurde er sein Vater. Der ganze Film handelte nun von seinem Vater. Der Vater war jung wie die Burschen aus dem Sowchos. Er war von niedrigem Wuchs, hatte ein rundes Gesicht und flinke Augen, die böse in dem von Schmutz und Rauch schwarzen Gesicht funkelten, er wirkte flink und geschmeidig wie eine Katze. Da, die Schulter gegen ein Rad des Geschützes gestemmt, drehte er sich um und rief jemandem weiter unten zu: »Munition! Schnell!« Seine Stimme wurde übertönt vom Donner einer neuen Explosion.

»Mama, ist das mein Vater?«, fragte Awalbek die Mutter.

»Was?« Sie verstand nicht. »Sitz ruhig und pass auf!«

»Du hast doch gesagt, er sei mein Vater.«

»Ja freilich. Aber sei still, stör die andern nicht.«

Warum hatte sie das gesagt? Vielleicht einfach so, zufällig, unüberlegt; vielleicht in der Erregung, weil sie an ihren Mann erinnert wurde. Und er, der kleine Dummrian, glaubte es, war ganz verwirrt vor Freude, einer jähen, nie zuvor erlebten Freude, und ihn erfasste kindlicher Stolz auf seinen Vater, den Soldaten. Das war doch ein richtiger Vater! Sein Vater! Und die Jungs neckten ihn dauernd, er habe gar keinen. Jetzt sollen sie seinen Vater endlich sehen, sie und auch die Hirten! Diese Hirten, die immerzu nur in den Bergen herumwandern und die Kinder nicht mal mit Namen kennen! Er hilft ihnen die Schafherden in den Pferch zum Scheren treiben, er jagt ihre Hunde auseinander, wenn sie sich raufen, und dennoch setzen ihm die Hirten mit Fragen zu. So viel Hirten es auf der Welt auch gibt, jeder fragte ihn unbedingt: »Na, Dshigit, wie heißt du denn?«

»Awalbek.«

»Und wer ist dein Vater?«

»Ich bin der Sohn von Toktossun.«

Die Hirten wissen nicht gleich, wer das ist. »Von Toktossun?«, fragen sie und beugen sich aus dem Sattel herab. »Von was für einem Toktossun?«

»Ich bin der Sohn von Toktossun«, beharrt er.

Die Mutter hat ihn geheißen, so zu antworten, und auch die blinde Großmutter ermahnt ihn, er dürfe den Namen des Vaters nie vergessen. Sie zieht ihn sogar an den Ohren. Die Böse …

»Aaah, wart mal, du bist doch der Sohn von der Telefonistin auf der Post, nicht wahr?«

»Nein, ich bin der Sohn von Toktossun.« Er bleibt dabei.

Da endlich kapieren die Hirten.

»Na freilich, du bist der Sohn von Toktossun! Bist ein tüchtiger Junge! Wir wollten dir ja bloß auf den Zahn fühlen. Nimms nicht krumm, Dshigit, das ganze Jahr sind wir in den Bergen, und ihr wachst hier wie das Gras, wie soll man sich da auskennen.«

Dann tauschen sie lange Erinnerungen an seinen Vater aus. Flüstern miteinander, sagen, dass er blutjung an die Front gegangen ist, viele können sich gar nicht mehr an ihn erinnern. Gut, dass er einen Sohn hinterlassen hat, wie viele Burschen sind unverheiratet ins Feld gezogen, und keiner trägt heute mehr ihren Namen!

Seit dem Augenblick jedoch, da die Mutter ihm zuraunte: »Schau, dein Vater …«, wurde der Soldat auf der Leinwand sein Vater. Er sah tatsächlich dem Foto des Vaters, einem jungen Soldaten mit Käppi, sehr ähnlich. Dem Foto, das sie später vergrößern ließen und unter Glas gerahmt aufhängten.

Nun betrachtete Awalbek den Vater mit Sohnesaugen, und sein kindliches Herz wurde von einer heißen Woge nie gekannter Sohnesliebe und Zärtlichkeit durchflutet. Der Vater auf der Leinwand wusste anscheinend, dass der Sohn auf ihn blickte; es war, als wollte er sein kurzes Leben im Film so nützen, dass der Sohn ihn für immer im Gedächtnis behielt und auf ihn, den Soldaten, für immer stolz war. Jetzt erschien der Krieg dem Jungen gar nicht mehr unterhaltsam, und es war gar nicht mehr komisch, wie die Menschen fielen. Der Krieg wurde ernster, erregender, schrecklicher. Und zum ersten Mal bangte er um einen ihm nahestehenden Menschen, um den, den er immer vermisst hatte.

Der Filmapparat surrte, der Krieg ging weiter. Vorn tauchten angreifende Panzer auf. Sie näherten sich drohend, rissen mit ihren Raupenketten die Erde auf, drehten die Türme und schossen im Fahren aus ihren Kanonen. Die sowjetischen Artilleristen aber zogen mit letzter Kraft die Pak hinauf.

»Schneller, Papa, schneller! Die Panzer kommen, die Panzer!«, feuerte der Sohn den Vater an. Endlich hatten sie die Pak oben, schoben sie in ein Haselnussgestrüpp und eröffneten das Feuer auf die Panzer. Die schossen zurück. Es waren viele. Ihm wurde unheimlich.

Der Sohn meinte dort neben dem Vater zu sein, im Feuer und Kampfeslärm. Er zappelte auf den Knien der Mutter, wenn Panzer in Brand gerieten und schwarzer Rauch aufstieg, wenn es die Raupenketten...


Wiegershausen, Halina
Halina Wiegershausen ist Übersetzerin aus dem Russischen und Polnischen, darunter auch Kinderbücher.

Aitmatow, Tschingis
Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgisien geboren, arbeitete nach der Ausbildung an einem landwirtschaftlichen Institut zunächst in einer Kolchose. Nach ersten Veröffentlichungen zu Beginn der Fünfzigerjahre besuchte er das Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und wurde Redakteur einer kirgisischen Literaturzeitschrift, später der Zeitschrift Novyj Mir. Mit der Erzählung Dshamilja erlangte er Weltruhm. Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren.



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