Akgün | Der getürkte Reichstag | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Akgün Der getürkte Reichstag

Tante Semras Sippe macht Politik
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400907-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Tante Semras Sippe macht Politik

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-10-400907-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Tante Semras Nichte regiert mit Das neue Buch der Bestsellerautorin Lale Akgün Tante Semras Sippe ist nun im Herzen Deutschlands angekommen: Nichte Lale Akgün wird in den deutschen Bundestag gewählt. Und die ganze Familie nimmt regen Anteil an ihrem neuen Leben. Im Reichstag ist die gebürtige Türkin natürlich erst einmal eine Exotin. Und die Fraktionskollegen wundern sich: dass ihr Mann sie so ganz alleine und ohne Kopftuch in die Hauptstadt gehen lässt! Doch die Genossen erkennen schnell, was »gelungene Integration« bedeutet, und so reist Lale mit langen Wunschlisten in den Türkeiurlaub, um ihnen preisgünstiges Viagra zu besorgen. Blaue Pillen für rote Genossen - schon die Vorstellung ist für Tante Semra so köstlich, wie ihre geliebten Leberkäsebrötchen. Heitere, komische und liebevolle Einblicke unter die Kuppel des Reichstags, in die Hinterzimmer deutscher Kneipen und türkische Wohnstuben.

Lale Akgün, geboren 1953 in Istanbul, kam mit neun Jahren nach Deutschland. Sie studierte Medizin und Psychologie arbeitete lange in Jugendhilfe und Familienberatung, leitete dann das Landeszentrum für Zuwanderung. Von 2002 bis 2009 war sie Bundestagsabgeordnete und migrationspolitische Sprecherin sowie Islambeauftragte der SPD. Seit Mai 2010 leitet sie das Referat internationale Zusammenarbeit im Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Mutter einer Tochter hat seit 1980 die deutsche Staatsangehörigkeit und lebt mit ihrem Mann in Köln.
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Ein Virus namens »zweiter Frühling«


Bei den Türken ist es auch nicht anders als bei den Deutschen. Die Frauen sind einfach zäher und überleben die Männer. Und von diesen zähen Frauen gab es zwei, denen ich jetzt meine Entscheidung, für den Bundestag zu kandidieren, beichten musste: meiner Mama und meiner Tante Semra.

Meine Mama ist die schrecklichste aller Mütter; glaube ich jedenfalls. Sie verfolgt mich auf Schritt und Tritt, will immer wissen, wo ich bin, was ich tue, mit wem ich spreche und mit wem ich nicht spreche (»Ja, warum sprichst du denn nicht mit diesen Leuten?«). Sie mischt sich dauernd in mein Leben ein. Wie ich mich anziehe (»Der Rock ist zu eng, er spannt hinten.«), wie meine Frisur aussieht (»Deine Haare sind zu kurz, du solltest sie wachsen lassen.«), wie viel ich wiege (»Du solltest drei Kilo zunehmen.«), wie ich mich benehme (»Du solltest netter zu deinem Mann sein, weniger arbeiten, deiner Familie keine Tiefkühlprodukte vorsetzen.«) und und und.

Gibt es eigentlich eine Richter-Skala für Mütter? Für die schrecklichsten? Oder nennt man sie höflicherweise die mütterlichsten? Mama würde ganz bestimmt den ersten Platz belegen! Dann stellte ich mir in meiner Phantasie vor, wie meine Mutter, die alle Rekorde gebrochen hatte, noch während der Ehrung vom Siegertreppchen Direktiven auf mich prasseln ließ.

Und da alle Mütter in meiner Umgebung ähnliche Qualitäten aufwiesen, wenn auch nicht in der Intensität wie meine Mama, hielt ich das für eine sehr türkische Sache, und war auch deswegen der festen Überzeugung, dass im Mama-Wettbewerb die vorderen Plätze fest in türkischer Hand sein würden.

Für Außenstehende war Mama das Gegenteil einer überbesorgten Mutter. Sie hatte Mathematik studiert und hielt mathematische Formeln für die einzig mögliche Form der Lebensbewältigung. Für jedes Problem gab es eine Lösung, das Geheimnis des Lebens bestand darin, die Unbekannten in die richtigen Formeln zu setzen.

Sie ging keinem Streit aus dem Weg, gab er ihr doch die Möglichkeit, ihre grauen Zellen funkeln zu lassen. »Wenn ich mich streite, dann spüre ich, dass ich lebe«, sagte Mama. »Ich streite, also bin ich.«

Das diametrale Gegenstück zu meiner Mama war meine Tante Semra, genannt Tantchen, eine Cousine meines Vaters. Eine höchst charmante alte Dame, das türkische Gegenstück zu Johannes Rau, dem ehemaligen Bundespräsidenten. Nicht dass Tantchen irgendwann Politik gemacht hätte, geschweige denn dass sie irgendwelche politischen Ämter bekleidet hatte, aber auch sie war eine Menschenfischerin, und auch ihr Lebensmotto war »Versöhnen statt spalten«.

Meine Mutter und Semra hatten sich lange Jahre bekriegt, bis sie irgendwann, ein paar Jahre nach Papas Tod, gemerkt hatten, dass sie sich wunderbar ergänzten. Mama analysierte, Tantchen folgerte; Mama überlegte, Tantchen führte aus; Mama führte den Degen, natürlich verbal, Tantchen sekundierte lächelnd. Zusammen waren sie ein unschlagbares Team, auch politisch: Mama war überzeugte Kemalistin, Tante Semra Hadschi und auf ihre unorthodoxe Art praktizierende Muslima.

Zum Beispiel beim Einkaufen: Wenn sie gemeinsam einen Laden betraten, sorgten sie schon allein auf Grund ihres Aussehens für Aufmerksamkeit: Mama, groß, schlank, mit kurzen grauen Haaren und ihrem sportlich-ökologischen Outfit und Gesundheitsschuhen (»Oma sieht aus wie eine Kampflesbe«, sagte Aziza immer), daneben Tantchen, klein, zierlich mit ihren extra für sie angefertigten Ensembles mit passendem Seidenkopftuch.

Mama war die Wortführerin. In den letzten Jahren hatte sie es zu ihrem Hobby erklärt, bei allem, was sie kaufte, zäh um den Preis zu feilschen, und wenn es sich um Klopapier handelte. Man hätte natürlich auch von Altersgeiz reden können, aber dafür shoppten die beiden Damen zu viel.

Nachdem sie etwas ausgesucht hatten, winkte Mama eine Verkäuferin heran.

»Was kostet das?«

»Nun, der Preis steht dran.«

»Ich habe nicht gefragt, ob der Preis dran steht, sondern, was es kostet.«

Die Verkäuferin, die jetzt davon ausging, dass die Dame vielleicht nicht mehr so gut sah, las den Preis ab.

»Sie scherzen«, sagte Mama mit strenger Stimme, »das ist viel zu teuer.«

Die Verkäuferin zuckte mit den Achseln. Mama übersah das Achselzucken. »Sind Sie so freundlich und holen mir den Geschäftsführer, … oder die Geschäftsführerin.«, fügte sie politisch korrekt hinzu.

Nach mehreren Minuten Diskussion wurde der Geschäftsführer herbeizitiert.

»Die Damen wünschen?« Er lächelte souverän. Noch.

»Ich möchte, dass Sie mir 20 Prozent Rabatt gewähren!«

»Aber gnädige Frau, dazu besteht nicht der geringste Anlass, die Ware ist neu, unbeschädigt …«

»Habe ich das behauptet?«, entgegnete Mama. »Habe ich versucht, irgendeinen Makel an Ihrer Ware zu finden? Ich will nur Rabatt, 20 Prozent, und ich weiß, dass Sie mir die gewähren können.«

»Nun, wir haben die Saison für den Preisnachlass noch nicht eröffnet!«

»Ich weiß, welchen Monat wir haben, junger Mann, ich bin nicht verkalkt, wenn Sie das meinen sollten!« Mamas Stimme wurde lauter, das war jetzt das Signal für Tantchens Auftritt.

»Aber, er meint das doch nicht so«, sagte sie jetzt mit der ihr eigenen sanften, leicht erotischen Stimme. »Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor!« Dabei lächelte sie charmant den Geschäftsführer an. »Meine Schwägerin echauffiert sich so schnell.« Dann erzählte sie dem Typen, was für ein wunderbarer Mensch ihre Schwägerin sei, mit einem großen Bekanntenkreis, alle wohlhabend und große Konsumenten, also müsste doch ein Kompromiss gefunden werden können, der beiden Seiten gerecht würde usw. usw. Tantchen erzählte und erzählte, derweil Mama wie ein wilder Stier zwischen zwei Angriffsphasen um sich blickte.

Dem Geschäftsführer war klar, dass er die beiden möglichst schnell aus dem Laden haben wollte.

Man wurde bei 10 Prozent Rabatt handelseinig. Draußen vor der Tür, mit der Beute unterm Arm, schauten sich die beiden an und schüttelten sich kurz die Hände. Das war ihr Ritual nach erfolgreichen Raubzügen. Ihre bad-guy-good-guy-Strategie wirkte ganz natürlich und führte fast immer zum Erfolg. Es war eine Vergeudung von Ressourcen, dass die beiden ihr Talent auf Einkaufstouren verschwendeten; sie hätten jeder internationalen Verhandlungsdelegation zur Zierde gereicht.

Irgendwann, nach einer sehr erfolgreichen Spartour, beschlossen die beiden, dass sie viel mehr sparen könnten, würden sie zusammenziehen. Es gab einige wenige Diskussionen, in wessen Wohnung die Damen ihr gemeinsames Zuhause finden würden. Mama kam mit dem Granatenargument, sie sei die Ältere, und ihr sei eine Veränderung weniger zuzumuten als Tantchen. Tantchen schlug ein, da sie sich sowieso die meiste Zeit in Mamas Wohlfühlwohnung aufhielt, um dort für weniger Wohlgefühl und mehr Ordnung zu sorgen. So änderte sich im Grunde genommen gar nichts.

Jetzt musste ich diesen reizenden alten Damen, und nicht nur ihnen, beichten, dass ich in die aktive politische Arbeit einsteigen würde.

Die meisten Leute verbinden mit dem Thema »Politik« nur das, was sie sehen. Es ist wie beim Computer: Der gewöhnliche Endverbraucher, der User, kennt nur die Oberfläche, und das reicht ihm. Er kann schreiben, Tabellen erstellen oder hübsche Graphiken zeichnen, wenn er ein Programm kauft, das andere für ihn geschrieben haben. Er weiß nicht, wie der Computer funktioniert, und wenn er ehrlich ist, will er es auch gar nicht wissen. Hauptsache, der Computer erfüllt seine Bedürfnisse.

Und in der Politik ist es ganz ähnlich. Die meisten Menschen sind gewöhnliche Endverbraucher, d.h. sie sehen sich im Fernsehen die Nachrichten an, lesen Zeitung und wenn es soweit ist, gehen sie wählen. Da sie die Jahre zwischen den Wahlen nicht mitzählen, wie die Aktiven in der Politik, sprich: die Programmschreiber, wissen sie auch nicht, wann die nächsten Wahlen sind. Erst wenn darüber gesprochen wird und die Parteien anfangen, den sogenannten Wahlkampf zu machen, merken sie es.

Mein Einstieg in das aktive politische Leben erwischte die Familie wie ein Gewitter im Sommer: Man sieht zwar die dunklen Wolken aufziehen, und es donnert auch, aber man hofft doch, es werde woanders regnen. Es regnete aber nicht woanders! Es traf genau uns! Ich hatte mich entschlossen, für den Bundestag zu kandidieren.

Nicht dass sich die Familienmitglieder nicht für Politik interessierten, einige taten es sogar sehr. Das Wort »Berufspolitiker« löste jedoch ein gewisses Unbehagen aus, weil sich mit diesem Wort Assoziationen einstellten, die sich mit den moralischen Ansprüchen der Familienmitglieder nicht vereinbaren ließen. Es waren natürlich nur Klischees, aber sie schienen doch fest in den Köpfen verankert zu sein.

»Also, ich weiß nicht, was ich sagen soll!«, sagte Mama, ausgerechnet Mama, die eigentlich immer wusste, was sie sagen sollte. »Einerseits hat sich ja dein seliger Vater immer für Politik interessiert, aber er ist ja nie über das Amateurhafte hinausgegangen, der Gute, er hat doch immer so von der sozialen Gerechtigkeit geschwärmt!«

Tantchen kicherte: »Weißt du noch, wie er uns alle mit seinen ellenlangen Vorträgen zu Tode gelangweilt hat?«

Mama kicherte mit: »Nicht nur uns, wie ich mich erinnern kann! Andererseits«, fuhr Mama fort, »ist es bei ihm nie richtig ernst geworden; er hat immer nur theoretisch herumgeredet und wollte die Welt verbessern, was ja auch in Ordnung war.«

»Er war halt ein Idealist«, warf Tantchen ein.

»Wenn das jetzt bei dir ernst wird«, fuhr Mama fort, »welche...


Akgün, Lale
Lale Akgün, geboren 1953 in Istanbul, kam mit neun Jahren nach Deutschland. Sie studierte Medizin und Psychologie arbeitete lange in Jugendhilfe und Familienberatung, leitete dann das Landeszentrum für Zuwanderung. Von 2002 bis 2009 war sie Bundestagsabgeordnete und migrationspolitische Sprecherin sowie Islambeauftragte der SPD. Seit Mai 2010 leitet sie das Referat internationale Zusammenarbeit im Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Mutter einer Tochter hat seit 1980 die deutsche Staatsangehörigkeit und lebt mit ihrem Mann in Köln.

Lale AkgünLale Akgün, geboren 1953 in Istanbul, kam mit neun Jahren nach Deutschland. Sie studierte Medizin und Psychologie arbeitete lange in Jugendhilfe und Familienberatung, leitete dann das Landeszentrum für Zuwanderung. Von 2002 bis 2009 war sie Bundestagsabgeordnete und migrationspolitische Sprecherin sowie Islambeauftragte der SPD. Seit Mai 2010 leitet sie das Referat internationale Zusammenarbeit im Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Mutter einer Tochter hat seit 1980 die deutsche Staatsangehörigkeit und lebt mit ihrem Mann in Köln.



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