E-Book, Deutsch, 213 Seiten
Albert Kleine Kinder, starke Wurzeln - bedürfnisorientiert durch die ersten Jahre
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7615-6900-9
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was christliche Familien wachsen lässt
E-Book, Deutsch, 213 Seiten
ISBN: 978-3-7615-6900-9
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Daniela Albert, geb. 1979, ist Erziehungswissenschaftlerin, Familienberaterin und Referentin und schreibt für verschiedene christliche Medien. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern wohnt sie nahe Kassel. Sie hat Freude an allem, das wächst und gedeiht (Kinder, Beziehungen, Pflanzen, Hefeteig ...), was sie in ihrem Blog und ihrem Podcast gern mit anderen Eltern teilt.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Pädagogik Teildisziplinen der Pädagogik Erziehung in der Familie
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Christentum: Sachbuch, Erbauungsliteratur
- Sozialwissenschaften Pädagogik Teildisziplinen der Pädagogik Erziehungsberatung
Weitere Infos & Material
Teil I
- Auf den Spuren der eigenen Wurzeln
Das Wichtigste in Kürze:
- Um unseren Platz im Leben zu finden, brauchen wir Nestwärme. Diese entsteht immer da, wo wir Verbundenheit und Freiheit zu gleichen Teilen erleben dürfen.
- Kinder ins Leben zu begleiten ist immer ein Zusammenspiel aus Halt geben und loslassen.
- Wie gut dir das gelingt, hängt auch immer mit den Mustern zusammen, die du selbst erlebt und dir angeeignet hast. Es ist gut, wenn du dir dessen bewusst bist, weil du dann vermeidest, aufgrund deiner eigenen Erfahrungen bestimmte Muster zu wiederholen oder ins extreme Gegenteil zu verfallen.
- Fragen, die du dir stellen kannst: Hattest du genug Halt in deiner Kindheit? Hattest du auch die Freiheit, eigene Erfahrungen zu machen und eigene Entscheidungen zu treffen? Fühlst du dich manchmal allein gelassen oder zu eng verbunden?
Mama, die Hubbel kitzeln im Bauch.“ Meine kleine Tochter lacht sich auf dem Rücksitz fast kaputt, als wir die alte, kurvige und hubbelige Waldstraße hinunterfahren, die ich seit meiner Kindheit so gut kenne. In meinem Bauch kribbelt es auch – aber nicht wegen des springenden Wagens auf der holprigen Landstraße, sondern weil mich diese Autofahrt mitten in eine meiner glücklichsten Kindheitserinnerungen hinein katapultiert. Wie oft habe ich selbst auf dem Rücksitz gesessen und bin diese Straße hinuntergefahren worden – von meiner Mutter oder meinem Vater. Wie meine Tochter heute hatte auch ich damals oft noch leicht nasse Haare, Chlorgeruch in der Nase und war auf eine unglaublich zufriedene Art müde. Beim Fahren über die Hubbel wanderten meine Erinnerungen meist noch einmal zurück zu der großen Röhrenrutsche im Hallenbad, die ich kurz vorher sicher zwanzig Mal gerutscht war – auch sie hatte Hubbel, die wunderbar kribbelten.
Heute fahre ich die Straße seltener hinunter. Ich wohne nicht mehr in meinem Heimatort. Es hat mich nicht weit weggetrieben, aber weit genug, um nicht mehr in dieses Schwimmbad zu fahren, und wenn doch, eine andere Straße zu benutzen. Doch an diesem Vormittag war einiges zusammengekommen. Es war zu kalt fürs Freibad, und die Hallenbäder in der Nähe hatten keine Onlinetickets mehr frei (für alle, die sich irgendwann einmal darüber wundern: Dieses Buch ist mitten in der Corona-Pandemie entstanden. In einer Zeit, in der etwas vorher Selbstverständliches wie ein Besuch im Hallenbad nur möglich war, wenn du schnell genug auf ein freies Zeitfenster geklickt hast). Da meine kleine Tochter aber gerade schwimmen lernte, wollte ich diesen Morgen unbedingt zum Üben nutzen, und so fuhr ich mit ihr in das Hallenbad meiner Kindheit. Normalerweise hätten wir die Autobahn genommen. Doch wegen einer Baustelle musste ich eine andere Route über meinen Heimatort planen. Und da fuhren wir – auf einer engen kurvigen Straße zwischen zwei kleinen Orten, die dir nichts sagen, und die für mich einmal die Welt bedeuteten.
Ich bekomme an diesem späten Vormittag in meinem Auto einen regelrechten Nostalgieanfall. Ich belasse es nicht dabei, den Ort meiner Kindheit schnell über die Hauptstraße zu durchqueren und nach Hause zu fahren. Stattdessen biege ich in eine Nebenstraße ab und halte vor der Bäckerei. Dort sieht alles noch so aus wie früher. Nur die Auslage ist leerer. Aber das wichtigste Gebäck liegt da: Die Campingbrötchen. Solltest du jemals durch Dennhausen oder Dittershausen kommen, mach einen Abstecher zum örtlichen Bäcker und hoffe, dass er noch Campingbrötchen hat. Du wirst es nicht bereuen.
Wir kaufen ein paar Campingbrötchen, und ich erzähle meiner Tochter dabei, wie ich hier früher jeden Samstag unsere Frühstücksbrötchen geholt habe. Dann fahre ich noch einen kleinen Schlenker durch den Ort und zeige ihr, wo ich zum Kindergarten gegangen bin und wo die Grundschule war. Sie kennt bereits beides, denn meine Eltern wohnen noch hier, und wir sind regelmäßig dort. Nur sehe ich all das selten durch die Augen des kleinen Mädchens, das ich einst war. Und so zeige ich all die Orte wohl eher noch einmal mir selbst als ihr.
Selten gehe ich durch diesen Ort und sehe, fühle oder schmecke, was mir in meiner Kindheit Verbundenheit gegeben hat. Normalerweise fahre ich eher mit einem Schulterzucken durch, betrete mein Elternhaus, verlasse es, ohne nach links und rechts zu schauen, und fahre wieder weg.
Es ist nicht so, dass der Wohnort meiner Kindheit – mein Heimatort – eine Insel glückseliger Erinnerungen für mich ist. Im Gegenteil, manche Erinnerung ist schmerzhaft. Ich war wohl als Kind und erst recht als Jugendliche das, was man uncool nennt. Ich war klein, lange Zeit sehr kindlich, und obwohl ich eine große Klappe hatte, schon immer eher introvertiert. Zu allem Überfluss war mein Vater der Büroleiter der örtlichen Gemeindeverwaltung und Mitglied im Posaunenchor der Kirchengemeinde und ich somit bekannt wie eine bunte Hündin. Selbst wenn ich dort erwünscht gewesen wäre, hätte ich mich kaum mit Bier und Zigarette mit den anderen Jugendlichen auf der Treppe vor dem Supermarkt blicken lassen können. Ich blühte erst auf, als ich in die nächste größere Stadt zur Schule gehen konnte und hatte meinen Freundeskreis größtenteils dort. Kurzum – abgesehen von meinen Eltern verbindet mich heute eigentlich wenig mit meinem Heimatort.
Doch an diesem Tag merke ich, wie tief ich dort doch verwurzelt bin. Wie sehr mich die hubbelige Straße, die Treppe hoch zum Kindergarten, der Geruch der Grundschulturnhalle und der Bäcker mit seinen Campingbrötchen geprägt haben.
Natürlich sind es nicht die Campingbrötchen und nicht mal die schönen, hubbeligen Kurven für sich genommen, die dafür gesorgt haben, dass ich mich verwurzelt fühle. Für sich allein genommen hätten sie noch so schön sein können: Wurzeln gegeben hat mir der Ort, an den ich kam, nachdem wir die holprige Straße verlassen hatten. Der Ort, an dem ich meine nassen Badesachen aufhängen und die Campingbrötchen essen konnte. Der Ort, an dem es immer nach irgendetwas zu essen roch, und der Ort, an dem ich mich nicht vor den abschätzigen Kommentaren anderer Kinder oder dem Schrecken der Welt zu fürchten brauchte. Es war mein Zuhause. Dort wurde der Grundstein dafür gelegt, dass ich heute das Gute im Leben sehen kann. Dort habe ich nicht nur tief gewurzelt – dort habe ich auch alles mit ins Leben bekommen, um später auch anderswo neue Wurzeln schlagen zu können.
Nestwärme ist Autonomie und Verbundenheit
Doch was genau ist das, dieses „Alles“, das ich mit ins Leben nehmen musste, um stabile Wurzeln auszubilden, an neuen Orten dieser Welt immer wieder neu zu bilden und mich jeder Situation anzupassen, in die Gott mich bisher gestellt hat? Ich nenne es Nestwärme.
In ihrem Buch „Nestwärme, die Flügel verleiht“ beschreiben die Psychologinnen Stefanie Stahl und Julia Tomuschat, wie die Balance zwischen Bindung einerseits und Autonomie anderseits dafür sorgt, dass Menschen gut ins Leben wachsen. Wenn Kinder sicher an sie feinfühlig begleitende Erwachsene gebunden sind und ihnen zugleich zugetraut wird, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbständig zu entwickeln, entsteht ein stabiles Fundament, das auch im späteren Leben trägt.
Das Wort Nestwärme assoziieren wir oft eher mit Bindung als mit Autonomie. Das warme Gefühl eines Zuhauses scheint vor allem dort zu entstehen, wo wir Nähe und Geborgenheit erfahren haben. Da, wo immer jemand da war. Nestwärme ist dadurch entstanden, dass wir gesehen und gehalten wurden, dass uns jemand getröstet hat, wenn wir traurig waren, und Menschen da waren, die uns Sicherheit gaben, wenn die Welt uns bedrohlich erschien. Bis ins Erwachsenenalter hinein verbinden Menschen mit positiven Bindungserfahrungen ihr Elternhaus mit Sicherheit, Rückzug und Wärme.
Doch zur Nestwärme gehört genauso die Ermutigung, das Nest zu verlassen. Denn wenn wir zwar Sicherheit und Geborgenheit erfahren haben, aber gleichzeitig in unserer Autonomie gehemmt wurden, schwingt beim Gedanken an unser Elternhaus oft auch ein Druckgefühl mit. Vielleicht haben wir bis heute das Gefühl, dort zwar unfassbar geliebt zu werden und immer mit allem kommen zu können, aber gleichzeitig fällt es uns schwer, wieder wegzugehen. Menschen, die ihr Bedürfnis nach Autonomie in Kindheit und Jugend nur wenig ausleben dürfen, sind bis ins Erwachsenenalter häufig ängstlicher und weniger durchsetzungsstark.1
Als Menschen sind wir von Anfang an darauf angelegt, nach beiden Seiten zu streben: Wir wollen uns an jemanden binden, wir können tatsächlich auch gar nicht anders (mehr dazu im nächsten Kapitel), und gleichzeitig ist von Anfang an jeder Tag ein kleiner Entwicklungsschritt raus in die Welt und weg von unseren Bindungspersonen. Dies ist wichtig, denn Autonomie geht einher mit Selbstwirksamkeit und Selbstverwirklichung. Wir müssen eigene Entscheidungen treffen und eigene Wege gehen können, um die Menschen zu werden, die wir sind. Die einzigartigen Persönlichkeiten, die Gott sich ausgedacht hat.
Wurzeln müssen wachsen können
Gerade wenn es darum geht, stabile Wurzeln auszubilden, ist es wichtig, dass wir nicht in unserem Wachstum gehemmt werden, sondern uns in die Richtungen entfalten können, in die wir gehen möchten, und die für uns bestimmt sind.
Es geht also immer um das Zusammenspiel von beidem: Bindung und Autonomie. Halten und Loslassen.
Eine Pflanze, die zwar fest in der Erde verwurzelt ist, aber oben stark beschnitten wird, wird keine Früchte tragen. Allerdings würde eine, die in alle Richtungen wild und üppig wachsen kann, aber in...