Alberts | Das Kameradenschwein | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 171 Seiten

Alberts Das Kameradenschwein


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95865-047-3
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 171 Seiten

ISBN: 978-3-95865-047-3
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Lindow las die Aufschrift auf dem Sockel des Reiterstandbildes: 'Heute beginnt der Rest deines Lebens.' Die grüne Farbe war noch frisch. Wir sind doch nichts weiter als Hilfssheriffs, dachte er. Wenn die Staatsanwaltschaft übernimmt, hat die das Sagen. Bei einer Weihnachtsfeier hatte Lindow sich diesen Gedanken mal erlaubt. 'Ich trinke auf alle Hilfssheriffs des ersten Kommissariats! Immer wenn es ernst wird, müssen wir den Fall abgeben. Prost Kollegen, lasst euch dadurch nicht stören.'

Jürgen Alberts lebt als Schriftsteller in Bremen. 1987 wurde er für seinen Roman Landru mit dem »Glauser« ausgezeichnet. 2011 wurde er vom SYNDIKAT mit dem Ehrenglauser ausgezeichnet ('...in Würdigung seines Engagements für die deutschsprachige Kriminalliteratur und für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk im Bereich der Kriminalliteratur'). Neben historischen und Reiseromanen (zusammen mit seiner Frau Marita) hat er sich immer wieder dem Krimi-Genre verbunden gefühlt, wie es in dieser 10-Bände umfassenden Bremen-Krimireihe zum Ausdruck kommt. Mehr unter: www.juergen-alberts.de
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Schon zum dritten Mal ging Wolfgang Lindow an seiner Dienststelle vorbei. Er drehte Runden, eine nach der anderen. Ein warmer Januartag und alles war durcheinander, sein Kreislauf und seine Welt. Das Thermometer an der Apotheke zeigte 11 Grad, trotzdem war nicht Frühling, sondern nur der Übergang von trockenem zu feuchtem Schmuddelwetter. Lindow hasste diese unentschiedenen Tage, dieses graue Einerlei, nicht mal für Stunden konnte man die Sonne sehen. Die Beweise gegen den Bauarbeiter waren so dünn wie Seidenpapier. Und er hatte sie geliefert.

»Denkt ein Unschuldiger überhaupt über seinen Aufenthalt zum Zeitpunkt eines Mordes nach?« fragte der Verteidiger.

Ein Satz, der in Lindows Kopf kreiste.

Den Wall hinunter, Bischofsnadel zum Domshof. Der Bankenplatz, ein großer Platz umstellt von Banken, nur der Dom am oberen Ende, der ihm seinen Na¬men gab, machte eine Ausnahme. Aber wer wusste schon, ob es nicht ein Tempel der Händler war? Dann wandte er sich nach links, Violenstraße. Vorbei am Pfandhaus.

Ich habe die Beweise geliefert, aus denen der Staatsanwalt jetzt eine Täterschaft konstruiert. Die Beweise waren ein paar Widersprüche in den Aussagen des Bauarbeiters, ein paar widersprüchliche Zeugen, eine Konstruktion aus Behauptungen. Aber der Bauarbeiter konnte sich nicht verteidigen; er war stumm, blass, eingeschüchtert gewesen.

Wolfgang Lindow machte sein Übergewicht zu schaffen. Die kleinen Schweißperlen auf der Oberlippe wischte er mit dem Handrücken weg; er zog den Wollmantel aus, den er am Morgen, nach einem Blick aus dem Fenster, für die richtige Bekleidung gehalten hatte. Sein gelichtetes Haar, kurz geschoren, nach Vorschrift, bedurfte bei dem leichten Wind der ordnenden Hand. Er merkte, wie schwer der Wollmantel war.

Dann stand er wieder vor dem Gerichtsgebäude. Die steinernen Justiz-Skulpturen an der Außenfassade waren noch geschwärzt, obwohl der Krieg seit dreißig Jahren vorüber war. Die Frau mit den verbundenen Augen, ihre Waage niemals. im Gleichgewicht. Ich habe mich geirrt. Lindow war sich jetzt ganz sicher. Ich hätte keine Beweise gegen den Bauarbeiter liefern sollen, sondern solche, die ihn entlasten: Aber dafür war es zu spät. Einmal hatte der Bauarbeiter angefangen, leise zu schluchzen. Niemand der Herren in schwarzer Robe registrierte es, sie schauten weg, wenn sich einer gehen ließ, Emotion störte die starren Regeln der Prozessordnung, dagegen hatte man noch keinen Paragraphen erfunden. Erst spät begriff der Bauarbeiter, dass es tatsächlich ernst wurde. Zu spät.

Lindow setzte sich wieder in Bewegung. Am liebsten hätte er seinen Wollmantel an das Gebäude gehängt. Ein Zeichen. Am liebsten wäre er zum Vorsitzenden Richter gegangen und hätte ihm noch mal den Fall aus seiner Perspektive erläutert. Aber damit überschritt er seine Kompetenzen. Kriminaldirektor Matthies, der mit seinen fünfundfünfzig Jahren nur vier Jahre älter als Lindow war, hatte ihn mehrfach ermahnt, sich nicht weiter um diesen Mordfall zu kümmern. Sie waren miteinander befreundet, hatten gemeinsam kriminalpolizeiliche Lehrgänge besucht, aber Matthies war die Treppe höher hinaufgefallen und spielte gerne den Vorgesetzten. Dennoch ließ Lindow sich nicht abhalten, wenigstens alle Prozesstage zu beobachten. Es wären nicht sehr viele.. Die Tatsache, dass der Angeklagte vielleicht ein Homosexueller war, der niemals vergewaltigen würde, eine Tatsache, die einer der beiden Gutachter als gegeben annahm, wurde vom Staatsanwalt mit der Bemerkung abgetan: “Sexuell verirrte Menschen sind im Moment des Affektes in der Lage, die Grenzen ihres sexuellen Handelns zu überspringen.“ Die Plädoyers waren gesprochen, und Wolfgang Lindow hatte einen Kloß im Hals, der immer härter wurde.

Diesmal wechselte er an den Wallanlagen die Richtung, wollte durch den Park zurückgehen; auch wenn er keine Lust verspürte, sich an seinen Schreibtisch zu setzen. Der Fall Merthen, der seit einem Monat ungelöst schmorte, interessierte ihn nicht mehr. .Die Spurenakte war so dünn, dass man. damit Fliegen jagen konnte.

Am Reiterstandbild, seit Jahren mit Graffitis übersät, musste sich Lindow entscheiden; entweder machte er einen großen Bogen durch die Contrescarpe, am Theater vorbei, oder er stieg den Wall wieder hoch und stand vor dem Polizeipräsidium. „Heute beginnt der Rest des Lebens“, die grüne Farbe auf dem Sockel war noch frisch. Der Reiter, der sein Pferd führte, ließ sich von dieser Aufforderung wenig beeindrucken.

Wir sind doch nichts anderes als Hilfssheriffs. Wenn die Staatsanwaltschaft übernimmt, haben die das Sagen. Bei einer Weihnachtsfeier hatte .Lindow sich diesen Gedanken mal erlaubt, er war den Kollegen sauer aufgestoßen. „Ich trinke auf alle Hilfssheriffs des ersten Kommissariats. Immer wenn's ernst wird, müssen wir den Fall abgeben. Prost Kollegen, lasst euch dadurch nicht stören.“

Lindow war ein Einzelkämpfer in diesem Kommissariat, ein Mann, dem Matthies die Fälle übertrug, mit denen er auf Pressekonferenzen zu glänzen gedachte, Fälle, die nicht innerhalb einer Woche fix und fertig gelöst waren, keine leichten Kreuzworträtsel. Aber es waren auch die Fälle, an denen sich einer die Zähne ausbeißen konnte oder zumindest solange darauf herumkauen musste, bis sie. die Staatsanwaltschaft verdauen würde; Dabei hielt Matthies große Stücke auf seinen Kriminalhauptkommissar.

Doch dass er ihn bei seinen Reden unterbrach, die er gelegentlich im Kollegenkreis hielt, dass er selbständig dachte, redete ohne gefragt zu werden, dass er sich nicht abbringen ließ von einer Meinung, auch wenn sie wieder mal völlig quer lag, das störte Matthies gewaltig. Obwohl im Mordkommissariat mindestens zwei Leute einen Fall zu behandeln hatten, im Einzelfall waren es oft zehnmal so viele, mit Lindow wollte niemand, arbeiten. Es ging einfach nicht. Wie oft hatte Matthies Klagen gehört, Versetzungswünsche, „bitte nicht mit Lindow“, sie waren alle gleichlautend. Mit Lindow zu arbeiten, das war etwa so, als müsse man nachsitzen, Strafarbeit machen. Natürlich kam es vor, dass Lindow in einer schwierigen Sache hinzugezogen wurde, aber dann musste man ihn schnell mit einer Spezialaufgabe. betrauen, sonst konnte es sein, dass es in kürzester Zeit Krach gab.

Als er die schwere; geschnitzte Holztür des Polizeipräsidiums aufdrückte, kam ihm Ritter entgegen.

„Tag, Lindow. Bisschen spät zum Dienscht, gell.“ Der Kollege vom Raubdezernat, mit dem er jeden Donnerstag Skat spielte.

„Allzeit bereit, Raubritter.“

Lindow sah auf seine Uhr und stellte nicht ohne Befriedigung fest, dass in einer halben Stunde Feierabend war. Im zweiten Stock ging er hocherhobenen Hauptes an der offenen Tür von Matthies vorbei; der Chef sah aus dem Fenster und rauchte. Schade, dass er keine Stempeluhr für seine Untergebenen einführen durfte. Matthies wäre dann sicher glücklicher. Sein Büro stank. Montags war es die frische Bohnerwachspolitur, die ihm die Putzfrauen antaten, dienstags war der Geruch trotz ständigen Lüftens noch nicht vergangen, mittwochs bis freitags rochen die Akten. Lindows Frau hatte früher die Angewohnheit gehabt, ihm 'einen Blumenstrauß ins Büro zu bringen. Damit war wenigstens für kurze Zeit der Büromief überdeckt gewesen. Aber seit es in ihrer Beziehung kriselte, war es aus mit den Blumen. Es war Montag, und das Bohnerwachs tat seine Pflicht.

Kaum hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt, wurde die Tür aufgestoßen, und zwei Uniformierte schoben einen hageren Mann hinein.

„Was soll das!“ schrie Lindow, „das ist hier kein Asyl. Bringt den Mann raus.“

„Moment, Moment“, erwiderte der ältere der Beamten. „Das ist eine Vorführung. Sie wollten doch Herrn Kandel vernehmen.“ Er machte Meldung. Wie beim Militär.

„Ach so.“ Lindow erinnerte sich; es war der Vertreter, der zur Tatzeit im Wohnblock der Frau Merthen gesehen worden war.

„Was hat er?“ fragte er den 'älteren Beamten. „Ihm ist nicht gut“, der Polizist war wortkarg. „Setzen Sie ihn mal ab.“

Lindow half, Franz Kandel auf seinen Plastikstuhl zu hieven.

„Krank?“ Der hagere Mann schwieg.

„Was ist los, Kollege — wie heißen Sie überhaupt?“ Lindow wurde böse. „So kurz vor Feierabend. Können Sie ihn nicht morgen vorführen?“

„Wir gehen“, sagte der ältere Beamte und schob den hochaufgeschossenen jungen Polizisten vor sich her.

„Das ist doch die Höhe. Ich habe Sie gefragt, wie Sie heißen.“ Mit einer Hand hielt Lindow den hageren Kandel auf seinem Stuhl, die andere griff an die Uniformjacke. Mit einem kräftigen Schlag wurde dieser Griff gelöst.

„Wir haben einen Mann zur Vorführung gebracht. Auftrag erledigt.“ Lindow verlor beinahe das Gleichgewicht.

Nacheinander verließen die Streifenbeamten das Büro.

„Können Sie nicht reden, Herr Kandel?“ Lindow schüttelte ihn vorsichtig.

An seinem verzerrten Gesicht stellte er fest, dass Kandel starke Schmerzen haben musste. Vielleicht war er deswegen nicht früher erschienen. Mehrfach war Lindow in der Absteige gewesen, die sich als Pension bezeichnete. Kandel hatte dort ein Zimmer gemietet. Dreimal hatte er dem schmuddeligen Besitzer seine Karte gegeben und gebeten, dass Kandel ihn anrufen sollte. Er werde als Zeuge dringend gebraucht. Aber er war nicht erschienen. Vielleicht war er krank gewesen.

...



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