Alberts | Der Anarchist von Chicago | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Alberts Der Anarchist von Chicago


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95865-708-3
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-95865-708-3
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wer am 4. Mai 1886 die Bombe auf dem Haymarket von Chicago warf, ist nie geklärt worden. Sie detonierte gegen Ende einer friedlichen Demonstration für den Achtstundentag. Acht führende Anarchisten wurden verhaftet, vier von ihnen zum Tode verurteilt. Schon einige Jahre später war klar, dass es sich um einen Justizirrtum handelte. Soweit die historischen Ereignisse, vor deren Hintergrund Jürgen Alberts die Geschichte des Attentäters entwickelt. Die Wege des Idealisten und Schustergesellen Karl Schasler aus Regensburg führen in die anarchistischen Zirkel Europas; er trifft Bakunin, landet in der Pariser Commune. Dann wandert er nach Amerika aus, schlägt sich durch und beginnt schließlich im Hinterstübchen seines Devotionalienladens, Bomben zu basteln. Als die Polizei wieder einmal gewaltsam gegen Arbeitgeber vorgeht, wirft er die Bombe, taucht unter - und erkennt bald, dass er einen verhängnisvollen Fehler begangen hat. Jürgen Alberts verbindet Fakten und Fiktion zu einer spannenden Geschichte. In seinem Roman fängt er die Atmosphäre der anarchistischen Bewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein: ein bewegtes Fest von Boheme, Romantikern, utopistischen Handwerkern und Gewaltbesessenen.

Jürgen Alberts studierte nach dem Abitur (1966) in Tübingen und Bremen Germanistik, Politik und Geschichte und promovierte 1973 am Fachbereich Kommunikation und Ästhetik der Bremer Universität zum Thema 'Massenpresse als Ideologiefabrik am Beispiel BILD'. Er arbeitete als freier Mitarbeiter für den WDR und das ZDF und lebt heute als Schriftsteller in Bremen. Er schrieb Drehbücher, Hörspiele und 1969 den Roman NOKASCH U.A. sowie 1980 DIE ZWEI LEBEN DER MARIA BEHRENS, bevor er sich auch mit Kriminalgeschichten zu beschäftigen begann. Gemeinsam mit Fritz Nutzke (Pseudonym für Sven Kuntze) veröffentlichte er 1984 den mit Science-Fiction Elementen durchsetzten Kriminalthriller DIE GEHIRNSTATION und ein Jahr darauf als Alleinautor die Fortsetzung DIE ENTDECKUNG DER GEHIRNSTATION. Nach dem Roman TOD IN DER ALGARVE (gemeinsam mit Marita Kipping) schrieb Alberts den Polizeiroman DAS KAMERADENSCHWEIN, in dem es um den Fall eines Bremer Kommissars geht, der sich gegen die Weisungen seiner Kollegen als Nestbeschmutzer betätigt, weil er hartnäckig in einem Fall von Polizeigewalt gegen einen Verdächtigen ermittelt. In seinen weiteren Romanen DER SPITZEL, DIE CHOP-SUEY-GANG und DIE FALLE befasste sich Alberts in den darauffolgenden Jahren immer eingehender mit dem Innenleben der Bremer Polizei und ihrer Führung, bis schließlich mit KRIMINELLE VEREINIGUNG 1996 der zehnte Roman der später so bezeichneten Serie 'Bremen Polizei' vorlag. 1987 veröffentlichte Alberts den semi-dokumentarischen Roman LANDRU, in dem es um mögliche politische Hintergründe zum Fall des französischen Frauenmörders Henri Desire Landru (1869 - 1922) geht, der zu Beginn dieses Jahrhunderts wegen Mordes an zehn Frauen verurteilt und hingerichtet wurde. 1988 erschien Jürgen Alberts' Kriminalroman ENTFÜHRT IN DER TOSKANA, den er gemeinsam mit Marita Alberts schrieb, ebenfalls mit seiner Frau schrieb er den Griechenland-Krimi GESTRANDET AUF PATROS. Von 1990 bis 1991 und von 2001 bis 2005 war Jürgen Alberts einer der Sprecher der 'Autorengruppe deutsche Kriminalliteratur DAS SYNDIKAT' Preise: 1988 Glauser - Autorenpreis deutsche Kriminalliteratur für 'Landru' 1990 CIVIS-Preis des WDR und der Freudenbergstiftung für 'Eingemauert' 1994 Deutscher Krimi Preis für 'Tod eines Sesselfurzers' 1997 Marlowe Preis der Deutschen Raymond Chandler-Gesellschaft für 'Der große Schlaf des J.B. Cool'
Alberts Der Anarchist von Chicago jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


2. Kapitel: Berlin, Mai 1856


Nach monatelanger Tippelei war Karl Schasler endlich ans Ziel gelangt. Auf der anderen Straßenseite lag jene Berliner Weinstube, in der er Stirner anzutreffen hoffte. Friedrichstraße 94, so hatte man ihm gesagt. Er musste nur noch durch den Torbogen gehen, dann würde er dem Lehrmeister gegen-übertreten. Er kannte ganze Passagen seines Buches auswendig, hatte immer wieder anderen daraus deklamiert, gab manchmal an, es seien seine eigenen Gedanken, die er vor-trage. Aber kaum einer seiner Zuhörer glaubte ihm. Mit seinen achtzehn Jahren war er noch zu grün hinter den Ohren. Kein Schustergeselle kann solche Sätze sagen.

Karl war das sechste Kind einer Buchbinderfamilie, die in der Nähe von Regensburg lebte. Sein Vater leimte tagsüber Bücher zusammen und prügelte nach Feierabend seine Kinder. Die Mutter hatte auf einer Liste die Vergehen zusammen-gestellt, die jedes einzelne sich zuschulden kommen ließ, und der Vater wählte aus seiner Sammlung von Schlagwerkzeugen jenes aus, das er für die Bestrafung angemessen hielt. Es gab Ruten, Ochsenziemer, Rohrstöcke, Kleiderbügel mit Eisen-haken, zusammengeflochtene Bassgeigen Saiten. Wenn Karl Glück hatte, kam er mit ein paar Watschen davon. Er sah, welche Freude es seinem Vater bereitete, Hiebe auszuteilen. Nicht selten sang er bei der Prügelei. Oder er grinste ganz vergnügt. «Die Bosheit steckt tief im Herzen des Knaben, aber die Zuchtrute treibt sie heraus, so spricht der weise Salomon», diesen Spruch zitierte er häufig bei den Züchtigungen. Die Mutter stand dabei und rief die Kinder herein. Wenn einer seine Tracht bekommen hatte, strich sie den Namen auf der Liste durch.

Kaum hatte Karl das dreizehnte Lebensjahr erreicht, äußerte er den Wunsch, die Gewerbeschule zu verlassen und sich als Schusterlehrling zu verdingen. Seinen Eltern war dies recht, weil ein Esser weniger am Tisch saß. Schuhmacher König war einer jener Krauter, die keinen Lohn zahlten, um aus den Lehrlingen das meiste herauszuschinden. Karl musste gegen vier in der Früh das Haus verlassen und kam erst nach Sonnenuntergang zurück. Er hörte die Schreie seiner Geschwister, während er erschöpft in der Schlafstube lag.

Durch einen angezettelten Streit gelang es ihm, schon vor der Zeit seinen Lehrbrief zu erhalten. Er hatte dem Meister zwei Paar Schuhe derart versohlt, dass dieser in Regress genommen wurde.

«Aus dir wird nie ein guter Schuster», brüllte ihn der Meister an.

«Aber ein wilder Bursche», erwiderte Karl. Er erbat das Arbeitsbuch, ohne das er sich nicht von Ort zu Ort bewegen durfte. Der Abschied von zu Hause war sein glücklichster Tag. Die Mutter weinte, während Karl nicht mal versuchte, ein trauriges Gesicht zu machen. Als er weit genug von seinem Elternhaus entfernt war, drehte er sich um und rief seinem Vater zwei Worte zu, die er nie bereute: «Mastbürger, damischer!»

Karl Schasler war kräftig gewachsen und während seiner Tippelei keinem Gefecht aus dem Weg gegangen. In jeder großen Stadt, die er erreichte, gab es Herbergen seiner Zunft. Am schwarzen Brett konnte er lesen, wer Arbeit für einen Schuster hatte. Dann musste er sich vorstellen. Er wurde wie ein Sklave gemustert, die Feilscherei um Arbeitszeit und Lohn begann: 14 Stunden für einen Gulden pro Woche nebst Kost und Logis. Mit seinem Arbeitsbuch musste er sich beim Bürgermeister melden, wurde vom Stadtchirurgen untersucht, ob er hautrein sei, dann ging's zur Polizei, wo er lange anstehen musste, und endlich gab es den ersehnten Stempel: Kann in Arbeit treten. Die Polizei prüfte zuvorderst, ob ein Steckbrief gegen den betreffenden Gesellen vorlag.

Es war in Bremen, wo ihm ein Exemplar des Buches «Der Einzige und sein Eigentum» in die Hände fiel. Zunächst verstand er kaum etwas, mühsam entzifferte er Zeile um Zeile. Las manche Stellen zehn- und zwanzigmal, unterstrich hier und da, machte sich Kreuzchen an den weißen Rand. Was für ein Buch, was für Gedanken, was für ein Name! Endlich einer, der keinen Gott und keinen Vater über sich gelten ließ. Das Buch hatte mehr gekostet, als er in drei Wochen verdiente. Es wurde seine Bibel.

Die Tippelei führte Karl Schasler bis Dänemark, nach Jütland, wo er lange am Meer saß und in seinem Buch las, und auch nach Italien, wo er als Deutscher oft verjagt wurde. «Maledetto Tedesco!», schrie man hinter ihm her. Wenn er kein Geld verdiente, verlegte er sich aufs Fechten: Er bettelte in reichen Häusern, trug Gedichte vor, die er in seiner Schulzeit hatte lernen müssen. Ein einziges Mal musste er sitzen, weil er wegen Landstreicherei aufgegriffen wurde. Er ließ die Stadt Hagen danach bei seiner Tippelei links liegen. Dann kam ihm der Gedanke, dass er den Autor seiner Bibel kennenlernen wollte, den Verfasser der hochverehrten Zeilen. Er dachte sich den Mann als wilden Burschen, als wüsten Ketzer, als ungezügelten Helden des Geistes. Ein Meister antistaatlicher Gedanken. «Der Staat beruht auf der Sklaverei der Arbeit. Wird die Arbeit frei, so ist der Staat verloren.»

Ein Gerücht erzürnte Karl Schasler sehr. Ein Lehrbursche in Hamburg behauptete frech, er wisse ganz genau, dass Stirner sich nicht an den Barrikadenkämpfen im Jahre 1848 beteiligt habe. Dem Lehrburschen hatte Karl eins aufs Maul gegeben. Dennoch wollte er den Verfasser danach fragen.

Karl Schasler war gewohnt zu hungern, denn von dem Schusterlohn blieb selten etwas übrig. In Düsseldorf erhielt er einen preußischen Taler pro Woche, Arbeitszeit zwölf Stunden täglich. Die Meisterin hatte sich in ihn verguckt, gab ihm, wenn der Alte liefern war, gelegentlich mal einen Schnaps zum Pumpernickel mit fettem Speck. Die Tippelei war weniger anstrengend, wenn er etwas Alkoholisches bei sich trug.

Er ging durch den Torbogen und wandte sich nach rechts, woher die lautstarken Reden kamen. Die Weinstube Hippel war ein geräumiges Zimmer, ganz schmucklos, in der Mitte ein langer Tisch. Dort tagten allabendlich die Freien. In einer Ecke spielten Herren Karten, Eichel-Mariage. Die Gäste qualmten Pfeifen, dicke Rauchschwaden hingen unter der niedrigen Decke. Verstohlen setzte sich Karl auf einen freien Stuhl.

«Die Kirche, wenn ich das Wort nur hör, wird mir speiübel. Was sind das für Laffen, die sich im Himmel wähnen und doch wie andere Menschen scheißen gehn? Die Mutter Kirche, mein Lieber, wenn ich so eine böse Mutter hätt, wär ich lieber tot.»

«Die Kirche sorgt für die Armen.»

«Dreck!»

«Die Kirche sorgt zuerst mal für sich selbst. Damit die Fettwänste was zum Fressen haben, zum Saufen, damit sie sich in goldenen Gewändern zeigen können. Und ab und zu ein kleines Almosen. Das nennen sie dann Samaritertum.»

Karl Schasler wusste nicht, wohin er zuerst hören sollte. Am langen Tisch, auf dem die Weinschoppen standen, unzählige leere in der Mitte und vor den Gästen volle oder halbgefüllte, erregten sich die Gemüter. So frei hatte er noch nie eine Gesellschaft reden hören.

«Und wieder mal die hohe Zensurbehörde. Was gibt es heute zu zensieren? Was ist nicht geeignet fürs geschätzte Publikum? Da wird geschnitten, dort gekürzt. Meinen Sie denn, wir wüssten nicht, dass uns die Wahrheit nur in kleinen Scheibchen verabreicht wird.»

«Die Zensur ist eine Himmelsmacht.»

«Dreck!»

«Die Herrschenden brauchen die Zensur, sonst wären sie gänzlich verloren. Glauben Sie, wenn das Publikum erführe, wie die Herren sich die Taschen füllen, dass einer von diesen Gaunern noch am Leben wär?»

Karl Schasler bestellte beim Wirt einen Schoppen und musste Vorauskasse leisten, da sein Gesicht hier nicht bekannt sei. Der Wein schmeckte derart sauer, dass er beschloss, keinen weiteren zu ordern. Eine einzige Frau saß mit am langen Tisch, ganz elegant, in Männerkleidern. Die silberne Fliege war akkurat gebunden. Sie sprach von der freien Universität, die zu gründen sei.

«Wir müssen eine eigene Universität haben, nicht diese hochgelehrten Duckmäuseranstalten, nicht diese lächerlichen Geistesdressuren und auch nicht diese kriecherischen Professoren. Wir brauchen frische Geister, die sich den Wind um die Nase haben blasen lassen, freie Denker und Redner, die unsere Jugend erziehen sollen, damit sie endlich emanzipiert wird.»

«Ganz richtig, Frau Aston, ganz richtig. Wir sollten gleich damit beginnen, ein Komitee zu gründen für eine solche Lehranstalt.»

«Dreck. Lehranstalten sind Dreck! Das muss unter freiem Himmel geschehen, mitten in der Natur. Heraus aus allen muffigen Gebäuden, die den preußischen Drill geatmet haben. Nur die freie Wildbahn kann unsere Schule sein.»

«Ein Komitee, wozu schon wieder ein Komitee? Da wird geredet und nichts kommt dabei heraus.» Mit einem Mal war Stille in der Weinstube.

Karl Schasler wusste nicht, wieso. Dann hörte er von seinem Nebenmann, der Wirt pumpe nicht mehr, es gebe keinen weiteren Kredit.

Ein Herr im steifen Gehrock, der die ganze Zeig geschwiegen hatte, sagte hinein in diese Stille: «Ihr wollt frei sein und merkt nicht, dass ihr bis über beide Ohren in einem stinkenden Schlamm steckt! Reinigt euch zuerst selbst, bevor ihr anderen Freiheit beibringen wollt.»

Sofort erhob sich wütender Protest. Die meisten Teilnehmer der langen Tafel verließen die Weinstube, ohne ihren Mantel oder Überzieher mitzunehmen. Der Schuster folgte ihnen. Frau Aston kam an seine Seite.

«Wo bist du her? Du siehst so neu aus, gar nicht wie ein Berliner?» Ihre Stimme leise, fast zärtlich. Sie hakte sich bei Karl ein.

«Ich bin ein freier Handwerksbursche! Ich kann hingehen, wohin ich will.»

«Gut gebrüllt, Löwe», sagte sie und lachte mit ihrer tiefen Altstimme. Sie roch nach Tabaksqualm und süßlichen Veilchen.

«Wo...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.