E-Book, Deutsch, 306 Seiten
Alberts Familiengift
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95865-071-8
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 306 Seiten
ISBN: 978-3-95865-071-8
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jürgen Alberts lebt als Schriftsteller in Bremen. 1987 wurde er für seinen Roman Landru mit dem »Glauser« ausgezeichnet. 2011 wurde er vom SYNDIKAT mit dem Ehrenglauser ausgezeichnet ('...in Würdigung seines Engagements für die deutschsprachige Kriminalliteratur und für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk im Bereich der Kriminalliteratur'). Neben historischen und Reiseromanen (zusammen mit seiner Frau Marita) hat er sich immer wieder dem Krimi-Genre verbunden gefühlt, wie es in dieser 10-Bände umfassenden Bremen-Krimireihe zum Ausdruck kommt. Mehr unter: www.juergen-alberts.de
Autoren/Hrsg.
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Als Emma Livingstone aus dem backsteinernen Bahnhof trat, hielt sie inne. Zwei Tage war sie unterwegs gewesen, Busse und Bahnen, die Fähre und wieder die Eisenbahn benutzend, um nach fünfundzwanzig Jahren die Stadt zu betreten, die sie für immer aus ihrem Gedächtnis hatte streichen wollen.
Alles kam ihr fremd und gleichermaßen vertraut vor. Die vierspurige Hochstraße, die den Blick auf die Innenstadt verwehrte, der leer gefegte Bahnhofsvorplatz, auf dem zwei Losbuden standen, die Sexshops und Spielsalons. Der alte Mann, der den »Wachtturm« feilbot. Eine heftige Böe trieb Abfall vor sich her.
»Versuchen Sie doch auch mal Ihr Glück! Mit nur einem Los den Haupttreffer erzielen! Eine Kreuzfahrt in die Karibik für zwei Personen im Gesamtwert von 15 000 Mark.« Die Lautsprecherstimme ließ Emma herumfahren. Solche Ansagen hatte es früher nicht gegeben.
Im braunen Lederkoffer befand sich die gesamte Habe. Soll ich wirklich ... Am besten umdrehen, Ticket lösen, schnell den Rückweg antreten. Noch kann ich umkehren.
Das Museum auf der rechten Seite des Bahnhofsvorplatzes, das sie als Schülerin einige Male aufgesucht hatte, zeigte eine Ausstellung mit asiatischen Kultgegenständen. Die ferne Welt als letzter Ort der Hoffnung.
»Kann ich Sie irgendwo hinfahren?«, fragte ein Taxifahrer, der sie von der Seite ansprach.
»No, thanks, I don't need a taxi!«
»War ja nur ne Frage!«
Der Mann in der Lederjacke ließ sie stehen.
Als Erstes muss ich diesen Koffer loswerden. Niemand sollte sie als Heimkehrerin erkennen.
Sie wechselte hundert Pfund in D-Mark, erstaunt über den günstigen Kurs, gab ihren Koffer bei der Gepäckaufbewahrung ab, only for a couple of hours, und stand wieder auf dem Bahnhofsvorplatz.
Emmas Blick fiel auf eine Bäckerei. Hastig marschierte sie los. Obwohl sie keinerlei Hunger verspürte.
Sie öffnete die Tür und fühlte sich umgehend wohler.
Emma stellte sich an, hatte genügend Zeit, den wunderbaren Duft einzuatmen, betrachtete die Auslagen an der rückwärtigen Wand. In der Mitte ein Plakat, das eine strahlende Morgensonne umringt von Weizenähren zeigte. Darunter die Zeile: Unser täglich Brot kaufen wir hier!
White bread, brown bread, rolls and scones. Emma sah nichts, was sie nicht selbst hätte backen können. Nur die Torten würden ihr nicht auf Anhieb gelingen, aber mit ein bisschen Übung ...
»Sie sind an der Reihe.« Die Verkäuferin mit der weißen Kappe zeigte auf Emma.
»Nein, ich war vorher da«, kam es von der Seite. »Geben Sie mir drei Brötchen, aber nur krosse.«
Die Verkäuferin zuckte mit den Schultern und ließ Emma stehen. Was soll ich kaufen, dachte sie. Vollkornbrot, Mischbrot, Weltmeisterbrot. Richtig, Deutschland war Weltmeister geworden, aber lag das nicht schon Jahrzehnte zurück? The Germans are always Weltmeisters, hatte sie in England häufiger zu hören bekommen. Manchmal rollten deutsche Panzer über die Titelseiten englischer Boulevardgazetten.
»So, nun aber«, forderte die Verkäuferin sie auf
»Ich hätte gerne ein Stück Butterkuchen«, sagte Emma. Mit schwerem britischem Akzent. Dabei hatte sie sich geschworen, auf keinen Fall deutsch zu reden.
»Der ist noch warm, ganz frisch. Wollen Sie ihn gleich auf die Hand?«
»No thanks. How much?«
Zu Emmas Verblüffung wurde ihr der Preis auf Englisch genannt. One Mark and ten Pfennigs.
Nun hatte sie Proviant, aber wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Hinausfahren zur Villa, zu ihrer letzten Wohnung oder zum Haus von Gabriele? Wohnte die überhaupt noch da? Drei unterschiedliche Richtungen, drei Anläufe, drei gänzlich verschiedene Lebensfahrten.
Lange studierte sie den Plan des Straßenbahnnetzes. Warum setzt du dich nicht einfach in die Tram und fährst durch die Gegend, bis du den Mut gefunden hast, jemandem zu begegnen, dachte sie.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ein Mann in dunkelblauer Uniform. An seiner Dienstmütze ein auf Hochglanz poliertes Abzeichen in Rot und Weiß.
Emma fragte, wie sie zur Marcusallee komme. Sie sprach nur den Straßennamen deutsch aus.
Der Beamte erklärte ihr in flüssigem Englisch, wie weit sie mit der Linie 4 zu fahren habe. »It's yourfirst time in our wonderfiil city?«, fragte er freundlich.
»I was here before. Long time ago.«
»Nothing has changed, except of the Ossis.«
Emma hatte nicht ganz verstanden, was der Uniformierte damit gemeint haben könnte, bedankte sich und ging zum Schalter, um ein Ticket zu lösen. Wieder stellte sie sich in die Reihe der Wartenden. »Halten Sie das passende Kleingeld bereit!«, las sie in Druckbuchstaben über dem gläsernen Guckloch. Die Straßenbahntarife, mein Gott, die Erhöhung des Fahrpreises um 20 Pfennig, damit hatte alles seinen Lauf genommen. Ihre erste Demo. Besetzung der Schienen, Zehntausende auf dem Marktplatz, Knüppelorgien der Polizei. Bernie hatten sie einen Schädelbasisbruch verpasst, die Veröffentlichung in der Schülerzeitung, der Prozess ... Wie eine Sturzflut kamen die Erinnerungen zurück.
Emma musste sich festhalten. Ihre Rechte griff nach dem Stehtisch neben der Fahrkartenausgabe. Wie hatte diese Stadt sie damals herausgefordert. Ins Visier genommen. Zum Objekt heftigen Streites gemacht. Sie hatte sich nicht kleinkriegen lassen. Nicht von diesem hanseatischen Spießertum, von diesen kleinkarierten Juristen, nicht vom Herrgott und seinem diktatorischen Gehabe ... ob er noch lebte, der alte Herr? Emma rechnete nach, er müsste in diesem Jahr hundert werden. Hatte er nicht am 1. September Geburtstag? Noch lange hin, sehr lange. An diesem Jubelfest würde sie unter gar keinen Umständen teilnehmen.
Die Fahrt durch die Straßen. Fremd und vertraut. Die Fassaden frisch gestrichen, in altweiß, cremefarben oder grauweiß, die Straßenränder gesäumt mit Kastanien, Ahorn und Platanen, die Stadtteile wie kleine Dörfer aneinander gereiht. Die Bürgerhäuser erst drei- bis vierstöckig, je weiter sie sich vom Bahnhof entfernte, zwei- bis anderthalbstöckig. Viele Neubauten füllten die Lücken, die im Zweiten Weltkrieg entstanden waren. Hundertzweiundsiebzig Fliegerangriffe von britischen Bombern. Seltsam, dachte Emma, dass ich mich an diese Zahl noch erinnere.
Sie stieg an der Haltestelle Marcusallee aus.
Sofort erhöhte sich ihr Puls.
Ein paar hundert Meter, mehr war es nicht.
Ein paar hundert Meter, bis zum steinernen Eisschrank, der sich Familiensitz nannte.
Emma hatte sich vorgenommen, an der Auffahrt stehen zu bleiben. Keinen Fuß auf den Kiesweg setzen. Nur schauen, nur kurz einen Blick auf die herrschaftliche Villa werfen.
Schon von weitem sah sie den Baum, der noch mächtiger geworden war. Die Blutbuche thronte in der Mitte des gewaltigen, leicht abfallenden Rasenstücks und zeigte die ganze Größe der Sippe Huneus. So hatte der Herrgott immer seine Familie bezeichnet. Das Bäumchen war beim Einzug von ihrer Urgroßmutter Helene gepflanzt worden. Beinahe wäre sie hundert geworden. Die bleiche Helene in ihrem Sarg, an dem Emma über Stunden gewacht hatte, ihre pompöse Beerdigung, zu der Emma im grasgrünen Kleid erschienen war, die geheuchelten Beileidsbekundungen, der Bürgermeister, der sie wegen ihres unpassenden Aufzuges angegangen war. »Jeder sollte die Farbe seiner Trauer selbst bestimmen dürfen!«, hatte sie dem Bürgermeister damals erwidert. Ohne jeglichen Respekt vor dem hohen Amt des stiernackigen Politikers.
Je näher sie kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Desto schneller schlug ihr Herz.
Die prachtvolle Villa im matten Mittagslicht. Achtung: Sie verlassen den demokratischen Sektor.
Emma lehnte sich an eine Kastanie, in gebührendem Abstand auf der anderen Straßenseite. Ein klassizistischer Prachtbau mit verzierten Fenstersimsen, einem säulenbewehrten Eingangsportal, zu dem eine steinerne Treppe hinaufführte, vier Stockwerke kalte Pracht. Auch Gabriele war froh gewesen, als sie diesem Eisschrank entflohen war.
Die andauernden Streitereien beim sonntäglichen Pflichtdinner, die Maßregelungen, die Anordnungen des Herrgottes, die peinlich genau zu beachten waren. Der Ohrfeigen-Schlagabtausch zwischen ihrem Vater und ihr. All das kam Emma wieder in den Sinn. Obwohl das ganze Haus voller Juristen war, hatte sie niemand verteidigt, als sie vor fünfundzwanzig Jahren wegen Verleumdung und Verbreitung pornografischer Schriften angeklagt worden war. Feiglinge, allesamt rückgratlose Feiglinge, denen die Reputation ihrer ehrwürdigen Sozietät wichtiger war als der eigene Spross.
Ein dunkelblauer Mercedes brauste den Kiesweg herunter. Die weißen Steinchen spritzten zur Seite. Ohne an der Ausfahrt anzuhalten schnellte der Wagen heraus und beschleunigte auf der baumbestandenen Allee.
Mein Bruder, dachte Emma, das muss mein Bruder gewesen sein. Sie verbarg sich schnell hinter einem Baumstamm. Wer sollte sie schon erkennen, in ihrem Tweedkostüm? Very British. Manchmal war es besser, sich auffällig zu tarnen.
Unverkennbar, das war ihr Bruder Martin Thomas. Der einzig geliebte Nachwuchs, dem alles in den Schoß fallen würde, wenn die Altvordern das Zeitliche gesegnet hatten. Hoffentlich würde sie ihm nicht begegnen. Ich muss mich in mein englisches Schneckenhaus zurückziehen. Ihn einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Dazu...




