E-Book, Deutsch, 231 Seiten
Alberts Zielperson unbekannt
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95865-686-4
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 231 Seiten
ISBN: 978-3-95865-686-4
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jürgen Alberts, geb. 1946, Studium in Tübingen und Bremen, Promotion über die BILD-Zeitung, lebt als Schriftsteller und Journalist in Bremen. Seine zahlreichen Romane, darunter auch Krimis, sind mehrfach ausgezeichnet worden.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
»Hohlkopf drei Strich siebzehn«, die dunkle Stimme legte eine Pause ein, »keinen blassen Schimmer.«
»Soweit bin ich noch nicht«, antwortete Helmut Tappert, der an diesem Morgen Kaiser werden wollte. »Was ist mit Zehennagel vier halb zwölf?«
»Das ist doch ganz einfach, denk an Sonnenschein im Winter«, kam es prompt zurück.
»Ach ja, klar«, Tappert schrieb das Wort hin.
»Ich komme wieder. Roger.«
Immer die alten Töne vom alten Bach. Er saß vier Büros weiter, war zwei Gehaltsstufen über ihm und stand kurz vor der Pensionierung. Helmut Tappert konzentrierte sich wieder auf den laufenden Wettbewerb. Wie immer hatten sie den Konspi abgestellt, um sich ganz dieser Aufgabe widmen zu können. Das machte zwar keinen guten Eindruck, wenn dauernd die Leitung besetzt war, aber wer würde sie schon anrufen. Vielleicht würde man sie sogar loben, dass sie so früh am Morgen eine Aktivität entfalteten. Da gab es ganz andere Gestalten, die um die Zeit im Büro nichts als die Morgenlektüre erledigten. Hatte doch ein früherer Präsident gesagt: »Jeder meiner Männer muss mindestens fünf Tageszeitungen lesen.« Er hatte diesem öffentlich geäußerten Begehren jedoch keine Dienstanweisung folgen lassen. Der Hörer lag neben dem Konspi. Durch das Wählen einer Nummer war er zum Schweigen gebracht.
Das Telefon klingelte. Die hausinterne Amtsleitung. »Schulterstück ganz oben?«, fragte eine krächzende Stimme.
»Ja, hab ich, sag ich aber nicht«, gab Tappert zurück, »nur so viel: ein Maikäfer im April.«
»Das zählt nicht als Hinweis, Helmut, Hinweise müssen konkret sein, sonst zahlst du in die Kasse, ist das klar?« Gönnerwein konnte einen widerlichen, militärischen Tonfall anschlagen, so dass Tappert den Hörer ein wenig vom Ohr nahm.
»Gut, gut, ich sag mal weißer Schimmel«, er wusste, dass damit alles verraten war.
»Danke, Kamerad. Und immer daran denken, die Parole muss stimmen. Ist das klar?«
Tappert legte den Hörer sacht auf die Gabel, ohne zu antworten. Er mochte diesen Gönnerwein nicht, sein ganzes Gehabe, sein Auftrumpfen, wenn er von der Aktion sprach. DER Aktion, wie er sie nannte.
Kurt Gönnerwein lebte nicht wie die anderen. Familie, Eigenheim, bescheidenes Auto. Er war und blieb Einzelkämpfer. Befriedigte gelegentliche Bedürfnisse in luxuriösen Bordellen oder, was auch vorgekommen war, nach Dienstschluss im Amt. Das hatte bei einigen zu seiner Reputation hinzugetan. Tappert griff zum Hörer und wählte die Nummer von Nutzke. Der war noch nie Kaiser geworden, weil er einfach den Kopf nicht dazu hatte.
Erst nach mehrmaligem Ruf nahm Nutzke ab. »Nutbohm«, sagte er.
»Quatsch, Fritz! Ich bin's, Helmut. Was macht denn Brust-bein Mitte hoch zwei?«
»Wart mal«, Nutzke zögerte. Tappert wusste, dass sein jüngerer Kollege erst mal in die Verschlüsselung schauen musste, um zu wissen, was er gefragt worden war.
»Brillenschlange«, kicherte Nutzke.
»Oh, danke, Fritz, sehr liebenswürdig.« Tappert füllte die Buchstaben ein. Hatte ihm der Rollschuhfahrer tatsächlich das Lösungswort verraten, anstatt, wie es üblich war, einen Hinweis zu geben. Jetzt fehlten ihm nur noch drei Worte.
Fritz Nutzke hatte eine steile Karriere hinter sich, obwohl er erst siebenundzwanzig Jahre war. Er hätte es zu etwas bringen können. Nicht nur, weil er der einzige war, der morgens mit Rollschuhen ins Amt kam. Er ließ sich von seiner Frau am Hauptbahnhof absetzen, schnallte die teuren Skates unter und sauste dann in Höchstgeschwindigkeit bis zur Inneren Kanalstraße. Autofahrer, die ihm zu folgen versuchten, hatten stets das Nachsehen. Außerdem besaß Fritz Nutzke einen schwarzen Neufundländer, dessen rosa Zunge zur Seite hing und triefte. Man hatte ihn trotz dieser Panne in Frankfurt zum Regierungsoberinspektor befördert, A 10. Aber diese Gehaltsstufe konnte auch schon die letzte sein. Nur ungern dachte Fritz Nutzke an seine Niederlage zurück. Als sie ihn in dieser Wohnung eingesperrt hatten. Als sie ihn stundenlang verhörten. Als er auf diese Frau hereingefallen war. Als er alles zugab. Als sie ihm dann geraten hatten, sofort aus Frankfurt zu verschwinden. »Beim nächsten Mal, wenn wir dich erwischen, gibt's einen dauerhaften Knochenbruch.« Dieser Satz klang ihm im Ohr. Das Ende eines V-Mannes, der behauptete, aus Süddeutschland zu kommen, aber dessen Ruhrgebiets-Dialekt schon beim Husten zu erkennen war. Der V-Mann, der ein Auto mit Kölner Kennzeichen fuhr, obwohl er vorgab, aus Freiburg zu stammen. Der V-Mann Fritz Nutzke, der sich zum Wochenende bei seinen Genossen abmeldete, um zu den Eltern zu fahren, dann aber seinen zu teuren Wagen nach Köln steuerte, weil dort Frau und Fußballklub auf ihn warteten. Es waren einfach zu viele Fehler. Trotz der Pannen blieb er zwei weitere Jahre in der Abteilung III, Linksextremismus. Er sollte Quellen in alternativen Stadtzeitungen anwerben. Bis man ihn dann endlich abschieben konnte. Das Telefon klingelte. Tappert nahm den Hörer ab.
»Sag mal, Helmut, hab ich dir vorhin die Auflösung mitgeteilt? Das wäre ja fürchterlich...«
Auch dieser Verstoß führte dazu, dass einer der vier Mitspieler Geld in die gemeinsame Kasse abführen musste.
»Nein, nein, Fritz«, beruhigte ihr ihn Tappert, »ich sag's niemand weiter.«
»Danke, Helmut. Du bist ein echter Kumpel.«
Sie verabschiedeten sich.
Dem Regierungsamtmann fehlten nur noch zwei Worte. Aber er konnte sich die Lösung nicht vorstellen. War wie blockiert. Jede Sekunde würde das Telefon läuten und einer der Konkurrenten sagen: »Bingo!« Seit es die vertrackten Rätsel in dem Wochenmagazin gab, hatten sie die lächerlichen Riesen-rätsel aus den Heftchen aufgegeben.
Sein ärgster Konkurrent war Armin Bach. Der hatte viele Abteilungen hinter sich. Regierungsoberamtsrat, das klang nach etwas, aber für einen 63jährigen war der gehobene Dienst nicht gerade ein Ruhmesblatt. Nur die hundertprozentige Pension konnte die Aussicht auf den Ruhestand verschönen. Armin Bach war »Differenzler«, so nannte man die schon pensionierten Offiziere im Amt, denen es erlaubt war, sich die restlichen fünfundzwanzig Prozent zur Pension hinzuzuverdienen. Sie alle waren zwischen 1910 und 1920 geboren, hatten den gleichen Fasson-Haarschnitt, waren schlank, manche hager, andere mit kantigem Gesicht. Da machte Armin Bach eine Ausnahme. Zu bestimmten Zeiten leuchtete sein Kopf wie ein roter Vollmond. Man nannte diesen Haufen im Amt auch »Rentnerband« oder »Kalkgeschwader«. Die letzte Stelle vor seiner letzten Umsetzung hatte Armin Bach in der Abteilung V absolviert: Sicherheitsüberprüfungen. Nicht erst seit dem Radikalenerlass 1972 prüfte das Amt die Gesinnung von Beamten und Angestellten in sicherheitsempfindlichen Bereichen. So führte das Engagement für linke Ideen dazu, dass Entlassungen aufgrund getarnter Sicherheitsüberprüfungen ausgesprochen wurden. Wenn es an die abschließende Stellungnahme ging, schrieb er in das Formular: »Obwohl Angehöriger der SPD, dürfte der Überprüfte auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.« Oder: »Trotz seiner gewerkschaftlichen Orientierung dürfte er den gestellten Anforderungen gerecht werden.« Oder er formulierte: »Nahkampfspange - Gewähr für Staatstreue.« Oder auch schon mal: »Ritterkreuzträger haben ein abgewogenes Urteil.« Die eigentlichen Höhepunkte seiner Arbeit feierte Armin Bach immer dann, wenn er jemand ablehnen konnte. Aus politischen Gründen. Aber auch, weil der Überprüfte trank, schwatzhaft oder sexuell hörig war. Der Abteilungsleiter V hatte die Arbeit so umschrieben: »Die Sicherheitsüberprüfungen arbeiten nach dem Prinzip der chemischen Reinigung. Wir garantieren nicht den Erfolg der Fleckenbeseitigung. Wir garantieren nur die Gleichbehandlung aller Fälle.«
»Bingo«, kam es durch das Telefon. Gönnerwein war an diesem Donnerstag Kaiser geworden. Tappert war deprimiert. So kurz vor dem Ziel. Und dann auch noch Gönnerwein. Wie immer legte er den Hörer des Konspi auf, erhob sich langsam von seinem Bürostuhl, schraubte den Füller zu. Nächste Woche gab es Revanche. Irgendwie schaffte es dieser Gönnerwein immer wieder, als erster das Rätsel zu lösen. Aber jetzt würden sie genau überprüfen, ob er auch nicht geschummelt hatte. Schon häufiger musste jemand den Sieg zurückgeben, weil er Buchstaben doppelt verwandte oder einfach abgeschrieben hatte.
Kurt Gönnerwein war der einzige von ihnen, der schon immer in der Abteilung IV, Spionageabwehr, gearbeitet hatte. Auch schon, als es das Amt noch gar nicht gab. Damals hieß seine Dienststelle Abwehr fremder Dienste, Abwehrstelle Niederlande. Ein Außenposten des Reichssicherungshauptamtes. Und was für ein Posten war das gewesen. Tappert brauchte nur ein geringes Stichwort zu sagen, und schon sprudelte Gönnerwein hervor, wie damals DIE Aktion abgelaufen war. Von Mal zu Mal hatte er seinen Auftritt größer gemacht, als habe er selbst das »Unternehmen Nordpol« geplant. Damals hatten sie die Tommies hereingelegt. Es gab keine größere Aktion als diese. Gönnerwein wurde nicht müde zu erzählen. Wie sie die Funkstationen der Engländer angepeilt und ausgehoben haben. Wie sie diese illegalen Sender zurückspielten und damit Zeichen nach London gaben, auf dass die Briten erst Material, später dann Hunderte von Spionen per Fallschirm abwarfen. Wie sie Tote und Verwundete nach London meldeten, die friedlich im Gefängnis saßen. Wie sie in holländischen Zeitungen Falschmeldungen lancierten. Wie sie einen Sender sprengten, damit die Tommies dachten, diese Aktion hätten ihre eigenen Leute vollbracht. »Es war DIE Aktion meines Lebens«, betonte Gönnerwein, »es gab nie eine größere.« Helmut Tappert hatte mal...




