Alioth | Die letzte Insel | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 229 Seiten

Alioth Die letzte Insel

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03925-725-6
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 229 Seiten

ISBN: 978-3-03925-725-6
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In einer von Klimawandel und gesellschaftlichen Verwerfungen geprägten Zukunft führt ein letzter Auftrag den Forscher Holm auf eine Insel, die dem Untergang geweiht ist. Dort soll er die verbliebenen Spuren des Lebens für die Nachwelt festhalten. Zwei Generationen vorher verliert eine Frau in einer Flutkatastrophe ihren Mann, den Zeugen ihrer Vergangenheit. Trotzdem bleibt sie ihrer Insel und deren reicher Natur verbunden und findet Trost in der Auseinandersetzung mit dem Erlebten. Ihre Geschichten verweben sich; beide Figuren teilen eine tiefe, mystische Verbindung zu ihrer Insel und erfahren sie als Schauplatz existentieller Fragen. In atmosphärischer, bildhafter Sprache beschreibt Gabrielle Alioth die Schnittstellen zwischen Gestern und Morgen, zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Utopie und Vergangenheit. Eindringlich führt uns der Roman auch die Zerbrechlichkeit der Natur und die menschliche Sehnsucht nach Halt in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, vor Augen.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman 'Der Narr'. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet. Sie ist Präsidentin des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.
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Wolken und Wogen rollten ineinander. Eine Welle hob die Bootsschale hoch und warf sie aufs Wasser zurück. Für einen Moment glaubte Holm, sie falle auseinander wie eine welke Blüte. Dann sass er wieder im Brausen des Sturms auf der Bank, spürte den Boden unter seinen Füssen, das Paddel in den Händen. Das Salz brannte in seinem Gesicht. Nebelfetzen formten die Umrisse rennender Hunde.

In einer Lücke zwischen den Schwaden, dort, wohin der erste Offizier gedeutet hatte, glaubte Holm den Rücken der Insel zu sehen, kahl und schwarz. Wie lange war es her, seit das Schiff der Küstenwache ihn abgesetzt hatte? Kaum hatte es beigedreht, war sein Thermoantrieb ausgefallen. Ein paarmal hatte er noch die Resettaste gedrückt. Dann hatte er das Notpaddel aus dem Bootsboden gebrochen und begonnen zu rudern. Die Wirbel im Wasser zogen seinen Blick auf sich. Je länger er hinschaute, umso heftiger zerrten sie an ihm. Wenn er die Augen schloss, füllte das Tosen des Sturms seinen Kopf.

Als der Bootsrumpf über den Strand schleifte, fuhr Holm aus dem Schlaf. Seine Glieder waren starr. Es musste Morgen sein, die Flut lief bereits wieder aus und zog die Bootsschale ins Meer zurück. Er zögerte nicht. Wie ein Sack tauchte sein Leib in die Gischt. Noch bevor er Grund unter den Füssen hatte, riss die Strömung ihm die Schale aus der Hand. Die nächste Woge brach über ihm, er konnte nicht zurück. Er watete dem Ufer zu. Die Flut trug das Boot noch einmal heran, und für einen Augenblick meinte er, es werde ihn erschlagen. Aber die Welle zerlief, bevor sie ihn erreichte. Vom Strand aus sah er, wie das Boot mit seiner Ausrüstung in den Felsen am Rande der Bucht kenterte.

Der Himmel war grau gewesen, als Holm am Tag zuvor am Hafen aus seinem Mietwagen gestiegen war. Das Schiff der Küstenwache lag am Kai vertäut. Es schien riesig neben den rostenden Trawlern, den Wellblechschuppen, und seine Antennen ragten wie Fühler in die Luft. Unschlüssig stand Holm vor der Gangway; ohne Erlaubnis ein Schiff zu betreten war vorschriftswidrig. Er überlegte, ob er rufen sollte, aber es war niemand zu sehen. Sein Rücken schmerzte von der langen Fahrt. Der Autopilot hatte die Küstenstrasse gewählt, das Mittelland war weitgehend überschwemmt, und die Felder, die noch über Wasser lagen, wurden schon lange von Ernterobotern bewirtschaftet. Holm ging bis zum Ende der Hafenmauer. Aus den Felsplatten jenseits ragten eiserne Stacheln, wohl um raubgierige Seehundemeuten fernzuhalten. Als er sich umdrehte, sah er die kleinen, aneinandergedrängten Häuser, die sich um den eingestürzten Kirchturm scharten. Eines davon musste das Gästehaus sein, in dem ihm das Institut für die letzte Nacht an Land ein Zimmer gebucht hatte.

Seine Ungeduld zügelnd, kehrte Holm zum Schiff der Küstenwache zurück. Unwillig rief er hallo und ging die Gangway hinauf. Auf dem Helikopterdeck war das Beiboot aus Myzel aufgebockt, das er für das letzte Stück der Überfahrt auf die Insel bestellt hatte; es gab dort keine Anlegestelle. Die Tür zu den Kabinen war unverschlossen, er stiess sie auf, rief nochmals. Ein altmodischer Geruch nach Diesel und feuchten Decken kam ihm entgegen. Ärger packte ihn. Er hatte seine Ankunft angekündigt; der Tracker in seinem Handgelenk bestätigte, dass er pünktlich war. Er stapfte die Gangway wieder hinunter. Sollte er den Mietwagen von der Ladestation ans Schiff heranholen und beginnen, seine Ausrüstung auszupacken? Während er in seinen Manteltaschen nach der Autofernbedienung suchte, blieb sein Blick an einem Schild über einem der Wellblechschuppen hängen: The King of Thule Bar und Restaurant. Thule, die nördlichste Insel der Welt. Sechs Tagesreisen von Britannien entfernt, eine Tagesreise vom Ende der Welt, so hatte sie der griechische Seefahrer Pytheas im vierten Jahrhundert vor Christus beschrieben. Vielleicht hatte er Island gemeint, die Färöer, die Lofoten, oder hatte er Thule einfach erfunden?

Warme Bierluft schlug Holm entgegen, als er die Bar betrat. Der Raum war dunkel und leer bis auf eine Gruppe, die an einem Tisch in einer Ecke vor halbvollen Gläsern sass. Die Besatzung des Küstenwachschiffs begrüsste Holm wie einen alten Bekannten. Der erste Offizier bestand darauf, ihm ein Bier zu bestellen, und als Holm die lauwarme Flüssigkeit auf der Zunge schmeckte, legte sich sein Ärger. Sie redeten über das Wetter. Seit Tagen warnte der meteorologische Dienst vor einer Störungsfront, aber niemand konnte sagen, wann sie die Küste erreichen würde. Erst nach einer Weile begriff Holm, dass die Besatzung darüber diskutierte, ob sie ihn wie geplant am nächsten Tag zur Insel hinausfahren könne. Ihm wurde mit einem Mal heiss. Ob es nicht möglich sei, sofort in See zu stechen, bevor die Störung näher komme, fragte Holm. Eine der Frauen lachte wie über einen Witz. Als Holm darauf beharrte, seine Ausrüstung noch an diesem Abend aufs Schiff zu bringen, wurden sie und die anderen ernst. Sie tranken ihre Gläser aus, und eine halbe Stunde später war Holms Gepäck an Bord. Um sechs Uhr dreissig am nächsten Morgen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, würden sie ablegen. Holm bemerkte die Herablassung in den Gesichtern der Besatzung, als er die vereinbarte Zeit wiederholte.

In der Nacht weckte ihn der Wind, der im Garten hinter dem Gästehaus an den Weissdornhecken zerrte, und er versuchte, zu hören, ob er stärker wurde. Er dachte an die Wetterkarten im Institutsarchiv, mit denen einst Landfall und Stärke eines Sturms vorausberechnet worden waren. Damals lag die Eintrittswahrscheinlichkeit noch bei neunzig Prozent, und man sagte, das Wetter wiederhole sich alle hundert Jahre. Kaum war Holm wieder eingeschlafen, vibrierte sein Tracker.

Der Hafen lag ausgestorben in der Morgendämmerung, der Mietwagen war bereits zurückbeordert worden. Ein beständiger Westwind blies, Stärke fünf. Auf dem Meer trieben weisse Schaumkronen. In den Kabinen des Küstenwachschiffs brannte Licht. Die Besatzung sass in der Bordküche. Auf einem zerkratzten Tablett zwischen Kaffeetassen tickten die neusten Wetterdaten. Holm tat, als sähe er die krummen Garben der Isobaren nicht.

Die Crew beschloss, das Myzelboot bereits im Hafen zu Wasser zu lassen und es hinter dem Schiff herzuziehen. Holm spürte wieder seine Ungeduld. Versuchten sie, die Abfahrt hinauszuzögern? Er liess die Leute nicht aus den Augen, während sie das Boot mit dem Bordkran über die Reling hoben und im Heck vertäuten. Als sie fertig waren, gesellte sich die Kapitänin zu ihm. Holm wusste, was sie sagen würde. Aber die Zeit war knapp. Wenn er Pech hatte, würde die Militärkommission ihren Termin vorziehen und die Insel besetzen, bevor er mit seiner Arbeit fertig war. Holm erklärte, er übernehme die Verantwortung. Es war sein letztes Projekt.

Das Schiff der Küstenwache glitt wie ein Bolzen durch das aufgewühlte Meer. Holm knöpfte seinen Mantel zu und schlug die Kapuze hoch, doch nach einiger Zeit wurde der Wind auch ihm zu bissig, und er ging zum ersten Offizier ins Steuerhaus. Auf allen Seiten lief Wasser über die Scheiben. Das Rauschen des Windes vermischte sich mit dem Lärm der Motoren. Der Offizier sprach über Funk mit jemandem, Holm verstand kein Wort. Die Küstenwache würde ihn bis auf dreihundert Meter an die Insel heranbringen, so war es ausgemacht. Unter gewöhnlichen Umständen würde er von diesem Punkt nicht länger als eine Viertelstunde brauchen, um den Sandstrand im Osten der Insel zu erreichen, der auf den Drohnenaufnahmen zu sehen war. An der Westseite zeigten die Aufnahmen Kliffe aus Kalkstein. Schweigend beobachtete Holm die weissen Schaumstreifen, die sich zwischen den Wellen gebildet hatten. Er würde den Wind gegen sich haben. Die optimale Route von dem Punkt, an dem die Küstenwache ihn absetzen würde, bis zum Ufer der Insel war in seinem Tracker gespeichert. Der Sturm beeinflusste die Stärke der Strömung, vielleicht auch ihre Richtung. Die Berechnungen waren nutzlos.

Holm verfolgte auf dem Radar, wie sich das Schiff den vereinbarten Koordinaten näherte. Es schien immer schneller zu gehen. Da, sagte der Offizier und deutete auf die Wogen. Nach einer Weile erkannte Holm einen Kamm: die Insel. In ihrem Ölzeug kamen die Leute aus den Kabinen und zogen das Myzelboot neben das Schiff. Holm merkte, dass seine Hände zitterten, als er nach der Strickleiter griff. Die Kapitänin hatte angeboten, ihn zurückzufahren und es morgen oder übermorgen, wenn der Sturm sich gelegt hätte, nochmals zu versuchen. Über die Kosten könne man reden. Holm hatte abgelehnt. Mit besorgten Mienen hievten die Leute die Truhe mit den Messinstrumenten über die Reling. Sie war zu schwer. Auch als Holm die Vorratskiste, den Rucksack mit Zelt und Kleidern und seine Mappe im Heck verstaut hatte, lag das Boot noch schief im Wasser. Die Wogen schlugen es gegen die Schiffswand. Die Crew schwieg, als Holm sich von ihnen verabschiedete.

~

Es regnet, während ich den Strand entlanggehe. Seit der Überschwemmung komme ich jeden Morgen hierher. Um mit dem Hund zu spazieren, sage ich Daniel. Heute hat das Meer Tang angeschwemmt. Es muss wieder gestürmt haben letzte Nacht, und ich überlege, ob ich im Schlaf den Wind gehört habe. Der Hund beschnuppert eine Qualle.

Daniel hat mir einen Artikel über die Definition von Inseln im internationalen Seerecht geschickt. Schon die Tatsache, dass eine Insel bei Flut aus dem Wasser ragen muss, wirft Fragen auf: Was bedeutet Flut? Springflut, Hochflut, Sturmflut? Noch problematischer scheint die Annahme, eine Insel gelte nur als solche, wenn man darauf autark leben könne. Heisst das in einer Gemeinschaft, die sich selbst genügt, oder als Mensch, der auf niemanden angewiesen ist? Der Hund hat das Interesse an der Qualle verloren und...


Alioth, Gabrielle
Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman "Der Narr". Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet. Sie ist Präsidentin des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman "Der Narr". Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet. Sie ist Präsidentin des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.



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