E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Alioth Die Überlebenden
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-85787-995-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-85787-995-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman 'Der Narr'. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebu?cher und Theaterstu?cke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Fu?r ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet. www.gabriellealioth.com.
Autoren/Hrsg.
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Mina
Sie faltet die Seiten und schiebt sie in den Ofen: 1937 wird genauso gut brennen wie die Jahre davor. Sie schliesst die Ofenklappe, bevor das Feuer die Blätter erfasst. Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit sie diese Briefe schrieb.
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Während Mina die Kellertreppe hinaufsteigt, bemerkt sie die Russspuren an ihren Fingern. Sie hat sich angewöhnt, beim Treppensteigen auf ihre Hand am Geländer zu blicken; die Stufen vor ihr lassen sie schwindeln. Ihre Finger fahren über die Risse in der Bemalung des Geländers. An manchen Stellen ist die weisse Deckfarbe abgeblättert und entblösst eine dunklere Farbschicht darunter. Oskar hatte ihr befohlen, die Kinder in den Keller zu sperren, wenn sie nicht gehorchten. Sie schloss sie im WC ein, durch dessen vergittertes Fenster ein Stück Himmel zu sehen ist. Mina schliesst die Kellertür. Sie schrieb Oskar nicht, dass sie seine Anweisungen nicht befolgte.
Mina schrubbt ihre Hände über dem Spülbecken in der Küche mit der Bürste und dem Stück Kernseife, das sie für hartnäckigen Schmutz verwendet. 1938 war sie zweiunddreissig Jahre alt, Mutter von drei Mädchen, und Oskar, ihr Mann, arbeitete im Aussendienst der Georg-Fischer-Werke. Welche wichtigen Mitteilungen hatte sie damals ungewollt aufgeschoben? Sie trocknet die Hände ab. Seit sie begonnen hat, die Briefe zu verbrennen, bilden sich schwarze Ränder um die Ofenklappe. Das nächste Mal wird sie einen Lappen mit in den Keller nehmen, um die Russspuren wegzuwischen.
In der Stube setzt sie sich in den Sessel, den sie nach Oskars Tod neu bespannen liess. Mit einem schmerzhaften Ziehen fügt sich ihr Rücken der Form der Lehne. Mina legt den Kopf auf das weisse Schutztüchlein über dem altrosa Samt und schliesst die Augen. Seit ihr Gehör nachlässt, füllt sich das Haus mit Klängen: Kindergelächter, Stimmen, und manchmal fällt irgendwo eine Tür ins Schloss. Zuerst hat sie versucht, sie auseinanderzuhalten, den Verkehrslärm, der nun bis spät in die Nacht von der Strasse heruntertönt, von den Schritten auf dem Kies draussen zu unterscheiden. Aber die Geräusche kommen alle aus der gleichen Entfernung, und es gibt keinen Grund, die Vergangenheit von der Gegenwart zu trennen.
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Sie war einsam gewesen in Paris. Vater hatte ihr erlaubt, ein Volontariat in der Küche der Zunft zur Zimmerleuten in Zürich zu machen, wo man ihn als Kantonsrat kannte. Aber von ihrem Wunsch, Köchin zu werden, hielt er nichts. Als Dienstmädchen in Frankreich verdiene sie ihren eigenen Unterhalt. Sie wollte vorschlagen, die Auslagen für ihre Lehrzeit zurückzuzahlen, wenn sie die Ausbildung fertig habe, aber Vater hob die Hand, noch während sie sprach. Einen Moment zögerte er, als überlege er es sich nochmals, dann schlug er auf den Tisch. Kein Wort wolle er mehr davon hören.
An einem Sonntagstreffen des Schweizer Clubs in Paris fragte Oskar Röderer sie, ob sie Lust habe, mit ihm die Seine entlangzuspazieren. Er trug weite Kniehosen mit gestreiften Socken, wie es Mode war, und ein kariertes Jackett. Sie muss schäbig ausgesehen haben neben ihm in ihrem dunkelblauen Kleid und der Strickjacke. Er hörte aufmerksam zu, als sie von zu Hause erzählte, stellte Fragen. Es kam ihr wie ein Wunder vor, dass er ihre Bäckerei in Feuerthalen kannte, die Schule, in die sie und ihre drei Geschwister gegangen waren, und Oskar wusste auch, dass ihr Vater, August Stutz, als Erster im Dorf ein Auto gehabt hatte, eine schwarze Horch 8 Limousine. An ihrem nächsten freien Nachmittag lud Oskar sie zum Tee ein. Sie merkte erst später, dass er meinte, sie sei eine gute Partie.
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Sie hatte nicht an Liebe gedacht, während sie mit Oskar die Seine entlangspazierte. Sie war einfach froh, den vertrauten Dialekt zu hören, und als er nach einigen Monaten vorschlug zu heiraten, glaubte sie, die Liebe würde allmählich kommen, als Lohn für die Treue, die Fürsorge, die Mühe. Er ist Monteur, erklärte Mina ihrer Mutter, als sie nach Weihnachten für ein paar Tage nach Hause durfte. Madame hatte sie über die Festtage gebraucht und ihr ein paar Handschuhe aus grauem Wildleder geschenkt. Sie lagen in Seidenpapier eingeschlagen in einer blauen Schachtel, auf der ›Articles de ganterie, Paris‹ eingeprägt war. Mutter stand in der Backstube vor der Waage und füllte Paniermehl in Tüten. Er ist reformiert, fuhr Mina fort, seine Eltern haben einen kleinen Bauernhof in Herblingen, und sein Vater arbeitet zudem als Coiffeur. Die Röderers sind einfache Leute, aber – Darum geht es nicht, sagte Mutter. Sie trug eine Backstubenschürze über der blauen Werktagsbluse, und in ihrem Haar, das sie zu einem Knoten im Nacken zusammengesteckt hatte, waren die ersten grauen Strähnen zu sehen. Er wird auswärts sein, auf Montage, und du – Die Ladenglocke klingelte, und Mutter streifte die Schürze ab. Mina kam nicht dazu, zu erklären, dass sie bereit war, sich das Glück zu verdienen.
Mina öffnet die Augen, und die Helligkeit überrascht sie. Draussen hat es zu schneien begonnen, grosse, pelzige Flocken, die im ersten Moment auch durch die Stube zu wirbeln scheinen.
Sie war sicher, Vater würde Oskar abweisen, nachdem Mutter bereits Zweifel geäussert hatte. Ohne Begründung, dafür war es nicht wichtig genug, und sie würde nicht wagen, Fragen zu stellen. Oskar trug einen neuen Anzug und die dunkelrote Krawatte, die sie für ihn gehäkelt hatte. Sein Gesicht war ernst an dem Sonntagnachmittag, als er Vaters Büro betrat. Mina wartete in der Stube mit Mutter, die die Zeitungen der letzten Woche nachlas, und Hildi, ihrer jüngsten Schwester, die an einem Stück Stoff herumnähte. Der grüne Kachelofen verströmte eine zähe Wärme. Mina horchte auf die Stimmen im Büro, aber sie waren nicht mehr als ein Murmeln. Sie betrachtete das Buffet, in dem das Sonntagsgeschirr mit den goldenen Rändern und dem Rosenmuster aufbewahrt wurde, die Pendule, deren Zeiger kaum vom Fleck rückten. Sie würde nach Paris zurückkehren müssen, weiter für Madame arbeiten, und alle hier zu Hause wüssten, dass sie sitzengeblieben war. Man würde sie bemitleiden, auslachen. Als die Bürotür sich öffnete, blickte Mutter von den Zeitungen auf, und Mina sah ein Zucken um ihren Mund, bevor sie selbst den Kopf wandte. Vaters Hand lag auf Oskars Schulter; Oskar grinste. Ein junger Mann mit bürgerlichen Überzeugungen, urteilte Vater später; er werde ihn für die Partei vorschlagen. An dem Sonntag tranken sie zusammen Kaffee aus dem Sonntagsgeschirr, das plötzlich auf dem Tisch stand. Jemand holte Kuchen aus dem Laden, Vater bot Oskar einen Stumpen an. Oskar strich Hildi über den Kopf und lobte die Sonntagsschleifen an den Zöpfen der Elfjährigen. Mina spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, nun würde sie bald selbst Kinder haben.
Es war dunkel, als sie Oskar auf den Bahnhof begleitete. Sie hatten ein Datum für die Verlobung festgelegt. Oskar sprach von dem Haus, das sie mit Minas Mitgift bauen würden. Als der Zug einfuhr, griff er nach ihrer Schulter. Einen Moment zögerte er, als überlege er es sich nochmals, dann küsste er sie auf den Mund.
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