E-Book, Deutsch, 180 Seiten
Alt Widerstand!
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7365-0475-2
Verlag: Vier Türme
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gegen eine Wirtschaft, die tötet
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-7365-0475-2
Verlag: Vier Türme
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
P. Dr. Jörg Alt SJ, ist Priester des Jesuitenordens und Mitarbeiter der Jesuitenmission Deutschland in den Bereichen Forschung, Networking und Advocacy und zudem als Hochschulseelsorger in Nürnberg tätig. Im Vier-Türme-Verlag sind bereits die beiden Titel 'Handelt!' und Einfach anfangen!' erschienen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
5 Das Außergewöhnliche an der heutigen Situation
5.1 Nicht einiges, sondern alles steht auf dem Spiel
Das für uns im globalen Norden Angenehme war bislang, dass diese Wirtschaft vor allem anderswo tötete, weit weg von uns. Das änderte sich 2021. Es gab in Deutschland fast 200 Tote und Milliardenschäden durch Flutkatastrophen, das vierte Jahr in Folge hat Deutschland unterdurchschnittliche Ernteerträge und in den ersten Gegenden Deutschlands wird das Wasser knapp. Zunehmend erwachen auch Nicht-Experten zu der Erkenntnis, dass wir es nicht mit einer wachsenden Zahl isolierter Krisen und Katastrophen zu tun haben, sondern dass wir gerade dabei sind, die natürlichen Lebensgrundlagen insgesamt zu zerstören.
Erstmals realisierte ich während meiner Arbeit mit den Maya in Mittelamerika, dass dem Westen etwas abhandengekommen ist, was in anderen Kulturen stets lebendig war: Das Wissen darum, dass das Erdsystem ein lebendiges Ganzes ist und dass wir als Menschen aufgrund bestehender Wechselwirkungen keinen Raubbau betreiben dürfen, wenn wir unser eigenes Überleben nicht gefährden wollen. Insofern stimmt ein weiser Spruch, der während des Bundestagswahlkampfs die Runde machte: Artensterben und »die Klimakrise (sind) nicht ein weiteres Problem auf der Bühne. Sie bedroh(en) die ganze Bühne« als solche (Dohm & Schurmann, 2021). Dabei hatte man durchaus den Eindruck, dass sich alle im Bundestag vertretenen Parteien (ausgenommen der AfD) des Ernstes der Lage bewusst sind. Was wurde nicht alles vorgeschlagen und versprochen, um den im Pariser Abkommen völkerrechtlich verbindlich zugesicherten Beitrag Deutschlands zu leisten, die Erderwärmung auf deutlich unter 2, idealerweise 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen! Auch der Koalitionsvertrag vom Dezember 2021, die Synthese der Absichten gleich dreier Parteien in Regierungsverantwortung, betont:
Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität. Klimaschutz sichert Freiheit, Gerechtigkeit und nachhaltigen Wohlstand. Es gilt, die soziale Marktwirtschaft als eine sozialökologische Marktwirtschaft neu zu begründen. Wir schaffen ein Regelwerk, das den Weg frei macht für Innovationen und Maßnahmen, um Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen.
Nur: Kann das 1,5-Grad-Ziel überhaupt noch erreicht werden?
5.2 Auf Kurs in eine 3 Grad heißere Welt
Es ist ein Satz von Deutschlands bekanntestem Klimaforscher, Prof. Hans Joachim Schellnhuber, der aufhorchen lässt. In einem Interview sagte er im Oktober zum Pariser Vertragsziel der 1,5-Grad-Begrenzung: »Paris war zweifellos ein Wunschkonzert [...] Die 1,5 Grad [...] kriegen wir leider nicht mehr hin – so sinnvoll es auch wäre« (Schellnhuber, 2021b). Leider ist das keine Einzelmeinung. Forscht und gräbt man ein wenig, finden sich auch Äußerungen anderer prominenter Wissenschaftler, die davon ausgehen, dass wir das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr erreichen können (Dyke, Watson, & Knorr, 2021). Die Prozesse, die wir angestoßen haben, legen laut dem »Weltklimarat« (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) nahe, dass wir die 1,5-Grad-Schwelle ab 2030 reißen können, die 2-Grad-Grenze könnte bereits 2040 überschritten werden (IPCC, 2018, 2021, 2022).
Wissenschaftler warnen, und dies wurde im Umfeld der Glasgower Klimakonferenz im November 2021 für alle hörbar, die es hören wollten: Gibt es keine dramatischen Einschnitte, befinden wir uns auf dem Kurs in eine ca. 3 Grad heißere Welt – vielleicht sogar mehr. Wenn dem so ist, können wir schon zur Mitte des Jahrhunderts von hunderttausenden Toten, Milliarden Vertriebenen und Billionen an wirtschaftlichen Schäden ausgehen. Haben wir noch Zeit, das zu ändern?
5.3 Zeit ist ein Faktor
Zeit ist ein Gut, das wir gerade verlieren, und weil dieser Punkt so wichtig ist, danke ich Dr. Michael Stöhr, einem der Koordinatoren bei den Münchener Scientists For Future, für seine Unterstützung bei der Abfassung dieses Abschnitts.
Zum einen stellt sich heraus, dass bereits in einer 1,5 Grad wärmeren Welt gigantische Klimafolgeschäden wie Dürren und Überschwemmungen auftreten. Zum anderen kann das Erd-Klima-System zu einem schwer bestimmbaren Zeitpunkt in einen Zustand kippen, in dem sich die Atmosphäre auch ohne menschliches Zutun zunächst um ein paar weitere Grad erwärmt und dann für mehrere 100.000 Jahre auf hohem Temperaturniveau bleibt, bevor sie sich durch natürlichen Abbau von Kohlendioxid wieder abkühlt. Diesem Zeitpunkt sind wir möglicherweise näher als bislang gedacht. Entscheidend sind die sogenannten Kipppunkte, die wie umfallende Dominosteine eine unaufhaltsame Kettenreaktion anstoßen können. Zum Beispiel: Ein Kipppunkt im Erd-Klima-System ist der grönländische Eisschild. Seine Dicke beträgt teilweise mehr als 3.000 Meter und an großen Teilen seiner Oberfläche herrschten bislang ganzjährig Minustemperaturen. Mittlerweile tauen jedoch selbst hochgelegene Teile des grönländischen Eisschilds im Sommerhalbjahr sehr stark, und die Dicke des Eisschildes nimmt ab. Je dünner sie wird, desto länger ist sie jedes Jahr Plustemperaturen ausgesetzt, was das Abschmelzen beschleunigt. Verschwindet der Eisschild ganz, steigt der Meeresspiegel um sieben (7!) Meter. Erst in einer neuen Eiszeit könnte er wieder aufgebaut werden.
Ähnliches geschieht in der Antarktis. Dort steht das vorzeitige Abrutschen des Thwaites-Gletschers, auch bekannt unter dem Spitznamen »Weltuntergangsgletscher«, unmittelbar bevor und mit ihm des gesamten westantarktischen Eisschilds. Damit steigt der Meeresspiegel unaufhaltsam um (nochmals) mehr als drei (3!) Meter.
Besonders kritisch ist der Kipppunkt des sibirischen Permafrostbodens. Dort sind Unmengen an tiefgefrorener organischer Materie gespeichert. Taut der Boden auf, beginnt diese sich zu zersetzen. Dabei entstehen Kohlendioxid und Methan. Das ist in den ersten 20 Jahren nach seiner Emission 87 Mal stärker treibhauswirksam als Kohlendioxid, in den ersten 100 Jahren nach seiner Emission 36 Mal stärker. Es wurde lange angenommen, dass dieser Permafrostboden ab dem Jahr 2090 nennenswert auftaut. Nun brennen schon drei Sommer in Folge unvorstellbar große Flächen der sibirischen Tundra und Taiga, so groß, dass man sich erst gar keine Mühe gibt, sie löschen zu wollen. Das Auftauen des Permafrostbodens hat also 70 Jahre früher als vermutet begonnen.
Diese an sich getrennt stehenden Situationen können sich »verketten«, wechselseitig verstärken sowie unaufhaltsam und unumkehrbar beschleunigen: die dunkle Erdoberfläche wirft deutlich weniger Hitze zurück als eine weiß verschneite und gefrorene Oberfläche, die globale Erwärmung gewinnt an Fahrt, was das Abschmelzen des Eises in Arktis und Antarktis beschleunigt, was wiederum zur Verlangsamung des Golfstroms führt, der für das bislang angenehme Klima und vor allem stabile Wettersystem in Europa zuständig ist und so weiter.
Natürlich ziehen sich die meisten Prozesse über lange Zeiträume, teils über hunderte von Jahren hin. Aber die entscheidenden Weichen dafür werden jetzt, in unseren Tagen gestellt. Erneut spielen Kipppunkte die entscheidende Rolle: Vor 100 Jahren konnte bedenkenlos umgesetzt werden, wozu der Mensch als Einzelner oder die Gesellschaft als Ganze Lust hatte, weil die natürlichen Systeme damals noch weit entfernt von Kipppunkten und ihre Widerstandsfähigkeit deshalb sehr stark waren. Heute nähern wir uns einer »kippeligen Instabilität« – was ein Kippen wahrscheinlich macht, ohne es exakt vorhersagen zu können beziehungsweise es erst zu merken, wenn es bereits geschehen ist.
Das Gemeinte verdeutlicht ein Blick auf das seit der griechischen Philosophie bekannte »Haufen-Paradox«, welches lautet: Ab wann ist die Ansammlung von Sandkörnern ein Haufen? Ein Sandkorn? Nein. Zwei Sandkörner? Nein. Aber ab wann ist es ein Haufen? Wir alle wissen, dass es Haufen gibt! Ähnlich beim CO2-Ausstoß: Ab wann ist der Ausstoß von CO2 katastrophal? Am Anfang? Nein. Später? Nein. Noch später? Vielleicht. Noch später? Ja, mit wissenschaftlicher Sicherheit! Ein weiteres Beispiel kennt jeder, der schon einmal ein Glas umgestoßen hat: Am Anfang ist dazu Kraft erforderlich. Ist aber der Kipppunkt erreicht, genügt ein federleichter Druck, um das Umkippen unaufhaltsam zu machen. Das Gleiche gilt für die Kipppunkte des Erd-Klima-Systems. Und so kann es – bildlich gesprochen – tatsächlich mein Steak, meine Flugreise, mein Auto sein, die zu dem Gramm zu viel an Schadstoff führen, welches das System insgesamt in einen neuen Zustand kippen lässt. Darum die Verantwortung jedes Einzelnen, seinen Konsum und sein Verhalten zu ändern. Darum umso mehr die Verantwortung, den uns möglichen Beitrag zu gesellschaftlicher Bewusstseinsbildung und gesellschaftspolitischem Engagement hinsichtlich der Veränderung des Systems als Ganzem zu leisten.
Natürlich gibt es viele Variablen, die unsicher sind. Aber, so die Wissenschaft: Wollen wir angesichts dessen, dass zu viele der bisher getroffenen Vorhersagen schneller eintreffen als angenommen, wirklich unsere Hoffnungen auf einige »Vielleichts« und »Womöglichs« und »Wir brauchen noch mehr Forschung« setzen? »Es ist zu riskant, darauf zu wetten« – sagt die Wissenschaft, und zunehmend ahnen Menschen, dass dies tatsächlich der Fall sein könnte (Lenton, Rockström, & al., 2019).
Zeit ist also der entscheidende Unterschied zu ähnlich umfassenden Umwälzungen in früheren Epochen der Menschheitsgeschichte. Bei bisherigen Herausforderungen, so heftig, schmerzhaft, drängend sie waren,...