E-Book, Deutsch, 252 Seiten
Alvarez Die Nacht und die Helle
2. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7481-1507-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 252 Seiten
ISBN: 978-3-7481-1507-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist Samstagabend und es gibt Fußball im Fernsehen. Während sich andere Männer das Länderspiel anschauen, bereitet sich Claudio Alvarez darauf vor, zum Tango zu gehen. Die Milonga ist voller schöner Frauen. Die Blicke gehen hin und her. Ein bloßes Kopfnicken und sie tanzen zusammen. Es ist auch ein Abend der Erinnerungen: an das Nachtleben von Buenos Aires und an eine Fahrt am frühen Morgen in einem weißen Jaguar durch Paris. Und dann erscheint eine extravagante Amerikanerin, die wunderbar tanzt...
Claudio Alvarez lebt als Autor in Berlin und Buenos Aires.
Autoren/Hrsg.
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Die Nacht
Vor der Milonga1 ... es war sehr warm, die Männer saßen in weißen Oberhemden, und als der Ansager das berühmte Paar mit seinem Mikrofon in der Hand angekündigt hatte, reichte die Frau ihrem Mann sein Jackett für das Tanzen. Alle Plätze waren besetzt, selbst hinter den Tischreihen standen die Menschen und vor den Tischen saßen viele Japanerinnen und Japaner auf dem Fußboden, die zum Tango nach Berlin gekommen waren, und dieses alte Paar tanzte mit einer Intensität, so innig, unerklärlich und faszinierend… Das war aber nur ein Traum. Als er erwachte und langsam zu sich kam, war es ihm wichtig, für sich klar zu stellen, dass er Carlos Perez und Rosa Forte beim großen Festival im letzten Jahr gesehen hatte, aber nicht tanzen, sondern nur für einen Moment, als sie durch die dicht gedrängte Menge an ihm vorbei in den Tanzsaal gegangen waren. Den Tango hatten sie einige Monate früher im Club Sunderland in Villa Urquiza getanzt, als der Geburtstag von „El Negro Firpo“ gefeiert worden war. Der Boden hatte so hell und grell wie ein bei Nacht beleuchtetes Fußballfeld geglänzt. Tatsächlich wurde hier die Woche über Basketball gespielt, und an den Samstagen stellten die Veranstalter für die festlich gekleideten Gäste Tische und Stühle auf, die Männer in Anzug, Hemd und vereinzelt auch mit Krawatte, die Frauen in Abendkleidern. Sie hatten an Tischen mit weißen Tischdecken gesessen. Es war an diesem Abend sehr warm und die Männer hatten ihre Jacketts ausgezogen und saßen in Hemdsärmeln und als Carlos Matera das berühmte Paar angekündigt hatte, reichte Rosa Forte ihrem Mann sein Jackett. Die Plätze im Sunderland waren bis auf den letzten Platz besetzt. Selbst hinter den Tischreihen hatten die Menschen bis zu den Wänden gestanden und vor der ersten Tischreihe hatten junge tanzbegeisterte Menschen auf dem Fußboden gesessen, darunter manche Japanerinnen und Japaner, die vermutlich nur zum Tangotanzen nach Buenos Aires gekommen waren. Die Träume - er fand, dass dies ein romantisches Wort für die untergründigen Aktivitäten jenseits des Wachzustandes sei, die seinen Schlaf mit lebhaften Bildern begleiteten; die Träume kamen, wenn er sich am frühen Abend für eine Stunde schlafen gelegt hatte. Sie gehörten zu den seltsamen Begleiterscheinungen, die seine Vorbereitungen mit sich brachten, um zum Tanzen zu gehen. In Buenos Aires begannen die Tanzveranstaltungen spät, und in einer Milonga wie dem Salón Canning kam der Abend erst kurz vor Mitternacht in Gang, erst dann trafen die besten Tänzerinnen und Tänzer ein, sie waren jung oder auch nicht, schön oder auch nicht, und dies änderte die Atmosphäre des Abends, die Paare bewegten sich leichtfüßiger und flüssiger, die Garderobe der Tänzerinnen und Tänzer wurde ausgefallener, der Abend wurde exklusiver und ging für ein paar Stunden in die Festlichkeit der Nacht über, bis der Exodus begann. Milongas mit einer vergleichbaren Exotik waren in Europa kaum zu finden; und wenn nur auf großen Tangofestivals mit Gästen aus dem ganzen Land, den großen europäischen Städten und den USA - und selbstverständlich den berühmten Tänzerinnen und Tänzern aus Argentinien. Um für die Nacht gewappnet zu sein, hatte er von sieben bis acht Uhr geschlafen. Wenn er nach einem Vorabendschlaf erwachte, hatte er oft das Gefühl einen Kieselstein im Mund zu haben. So war es auch dieses Mal; so, wie er sich fühlte, mussten Menschen ausschauen, die gerade aus einer Ohnmacht erwacht waren, mit einem Ausdruck von etwas Frischem und zugleich Entlegenem. Nach einigen Minuten stand er benommen auf und ging in die Küche, dort fiel ihm ein, dass er erst im Wohnraum den Fernseher einschalten wollte, danach lief er zurück, aber dort ging ihm durch den Kopf, dass er nicht vergessen durfte, was er heute Abend anziehen wollte; im Schlafzimmer hängte er einen Anzug aus dem Schrank, die Tagesschau war vorbei, und nebenan befragte der Sportreporter einen ehemaligen Fußballspieler, der jetzt Fußballsachverständiger war, nach den Aussichten der deutschen Nationalmannschaft für das anstehende Spiel gegen das Team aus Argentinien. Er ging zum Fenster des Wohnraums. Unten an der Straßenkreuzung in den Cafés saßen viele Menschen und er beobachtete das lebendige Treiben, bis er in der Küche den Wasserkocher knacken hörte. Später saß er dort mit einem Kaffee und blickte in den Hof auf einen riesigen Baum mit schwarzem Stamm und Ästen. Der Tisch war von einer Schreibtischlampe beleuchtet und deshalb blieb der obere Teil des schlauchförmigen Raumes im Dunkeln. Der melierte Steinfußboden machte diesen Teil der Wohnung kühler. Er hatte sich einen Salat zubereitet, aß in Ruhe und wartete darauf, dass er vollständig zu sich kam. Er betrachtete aufmerksam den großen Teller des altrosafarbenen Geschirrs, das er von seinen Großeltern geerbt hatte. Es war schon spät und er fühlte sich müde. An einem normalen Abend hätte er ernsthaft überlegt, ob er noch tanzen gehen sollte. „Wer wird in die Milonga kommen? Wird es voll werden? Welche Musik wird der DJ spielen?“ Diese Fragen stellten sich heute nicht, denn es war Samstagabend, und dazu noch ein besonderer. Also nahm er seine Müdigkeit nicht ernst, während er an unspektakulären Abenden hoffte, sie durch das Tanzen vertreiben zu können. Dann schloss er gleichsam eine Wette mit sich ab, dass er seine Mattigkeit überwinden werde. Aber an diesem Abend waren die „Neugier auf die Stadt und nach einem Leben außerhalb der alltäglichen Normen“ und die „Sehnsucht nach Begegnung“ entfacht. Das waren nach den Worten Louis Aragons die „Antriebskräfte, die Menschen nachts auf die Straßen treiben.“ Nächtliche Reise Als er eine Stunde später aus der Tür und auf die Straße trat, war das Café auf der gegenüberliegenden Seite voller junger Menschen. Sie waren quasi immer da. Ebenso wie die Taxen, die nur wenige Meter entfernt auf der linken Seite des Platzes warteten. Ihnen gegenüber: Leute über Leute, Fahrräder über Fahrräder. Zu dieser Jahreszeit saßen die Jungen zu Dutzenden draußen. Ein Motorradfahrer hatte seine Maschine bestiegen und ließ vor diesem Publikum den Motor seines schweren Geräts aufheulen. Stunden später, wenn er von der Milonga zurückkommend aus dem Taxi steigen würde, würde der Platz wie ausgestorben sein. Die Scheiben der Cafés würden dunkel sein, die Stühle würden kopfüber auf den Tischen stehen. Der große schwere Wagen, in dem er jetzt saß, strahlte Ruhe aus. Er fuhr mit einem leichten Surren über den Asphalt. „Merkwürdig“ dachte er, „die Stimmung im Inneren des Wagens entspricht der Atmosphäre draußen in der Stadt: die Ereignisse und das Geschehen sind heruntergefahren oder zurückgenommen.“ Ihn beschäftigte diese Entsprechung von drinnen und draußen. Die Ruhe im Innern entsprach der Ruhe draußen, Ereignislosigkeit entsprach Ereignislosigkeit, Entspanntheit Entspanntheit. Vor einigen Monaten hingegen war das kleine Taxi mit seinen verschlissenen Stoßdämpfern zu einer Milonga mehr gerattert und geschaukelt als gefahren, aber auch hier hatte es eine Entsprechung gegeben, jedoch von anderer Art. Die Federung des Wagens hatte den Zustand der Stadt auf expressionistische Weise ins Wageninnere übersetzt. In der Metropole Argentiniens war alles auf Ruhelosigkeit und Schlaflosigkeit ausgerichtet, und der Fahrstil des Fahrers, der auf den von Bäumen gesäumten Einbahnstraßen langsam fahrende Fahrzeuge rasant überholte, entsprach dieser Sommernacht mit den Straßen voller Autos und den Bürgersteigen und Parks voller junger Menschen. Sein Fahrer war mit den Sprüngen, die er aus seinem gelbschwarzen Wagen herausholte, gewissermaßen der Übersetzer des äußeren Geschehens gewesen. Auf dem Heimweg am frühen Morgen hatte sich die Ruhe der Nacht durchgesetzt. Er wurde ruhig über die großen Avenidas gefahren, und die herunter gekurbelten Fensterscheiben hatten den Fahrtwind hinein gelassen, der ihm durch die Haare gestrichen hatte. Aber jetzt waren die Fenster des Wagens geschlossen, die Schwere und Ruhe des Taxis schottete ihn von der Außenwelt ab. Dort schuf das Licht der Lampen und Beleuchtungen eine seltsame Farbschwäche. Als ob die gelben Leuchten, die über der Straßenmitte hingen, die Dunkelheit in Szene setzten. Das Motorgeheul eines Motorrads unterbrach die Ruhe im lässig dahin rauschenden Wagen. Aus großer Ferne hätte die Sirene eines Polizeiautos zu hören sein können. An einer Kreuzung schweißten Arbeiter in orangefarbenen Overalls beim Schein mächtiger Bogenlampen die Straßenbahnschienen und ließen im Halbdunkel der Straße dabei Funken und grelles Licht aufblitzen. Andere arbeiteten vor dem klaren Nachthimmel im Hebekorb eines Krans an der...