E-Book, Deutsch, 366 Seiten
Amann Sexueller Missbrauch an Kindern
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8444-3022-6
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Grundlagen, Therapie und Prävention
E-Book, Deutsch, 366 Seiten
ISBN: 978-3-8444-3022-6
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sexueller Missbrauch an Kindern ist ein komplexer Problembereich mit großer gesellschaftlicher Tragweite und oftmals schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen. Der vorliegende Band liefert einen zusammenfassenden Überblick zu Themen und Konzepten, die ein fundiertes Verständnis dieses Gegenstandsbereichs ermöglichen, wobei sowohl die Seite der Opfer als auch jene der Täter fokussiert wird.
Einleitend behandelt der Band die Grundlagen des Problembereichs, nimmt begriffliche Abgrenzungen vor und berichtet Daten zur Häufigkeit und Verbreitung. Die Entstehungsfaktoren werden ausführlich in ihrer gesamten Komplexität dargestellt, wie unterschiedliche Facetten der Tätermotivation oder Einflüsse von inneren und äußeren Hemmnissen. Ein weiteres, zentrales Kapitel setzt sich mit den Initialeffekten und Langzeitfolgen auseinander, die ein sexueller Missbrauch nach sich ziehen kann.
Zusätzliche Schwerpunkte des Bandes bilden eine differenzierte Betrachtung von Bewältigungsstrategien und die Behandlung der Opfer. Unter dem Blickwinkel der Psychotherapieforschung werden psychotherapeutische Strategien dargestellt und diskutiert – mit dem Ziel, eine fundierte Indikationsstellung und Therapieplanung zu ermöglichen. Das abschließende Kapitel stellt unterschiedliche Konzepte und Strategien zur Prävention von sexuellem Missbrauch umfassend vor und behandelt diese kritisch unter dem Blickwinkel ihrer empirischen Evidenz.
Der Band liefert neben wertvollem Grundlagenwissen auch praxisbezogene Erkenntnisse für alle Fachpersonen, die sich in Forschung, Beratung, Therapie und weiteren Berufsfeldern mit dem Thema „sexueller Missbrauch an Kindern“ auseinandersetzen.
Zielgruppe
Ärztliche und Psychologische Psychotherapeut_innen, Fachärzt_innen für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen, Klinische Psycholog_innen, Rechtspsycholog_innen, Pädagog_innen, Sozialarbeiter_innen, Jurist_innen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
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|49|2 Entstehungsfaktoren
Die weite und in alle gesellschaftlichen Schichten reichende Verbreitung von sexuellem Missbrauch lässt vermuten, dass dieses Problem durch einen komplexen Prozess vielfältiger Faktoren verursacht wird. Die für diesen Prozess verantwortlichen Bedingungen werden nicht nur auf der individuellen Ebene zu suchen sein, vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass sexueller Missbrauch auf ein vielschichtiges System individueller, familiärer, sozialer und kultureller Faktoren zurückzuführen ist. Das Modell der vier Voraussetzungen von Finkelhor (Four Preconditions Model) (Finkelhor, 1984; Finkelhor, Cuevas & Drawbridge, 2016) bietet einen sehr brauchbaren Rahmen, jene komplexen und vielschichtigen Faktoren zu strukturieren und zu systematisieren, die für das Entstehen von sexuellem Missbrauch relevant sind. Finkelhor beschreibt in diesem Modell vier Bereiche, die als Voraussetzung dafür gelten, ob ein sexueller Missbrauch stattfindet: die Motivation des Täters, innere und äußere Hemmnisse sowie der Widerstand des Opfers (siehe Abbildung 2.1). |50|Ausgangspunkt für diesen Prozess bildet die Motivation des Täters, die sich auf verschiedene innerpsychische Variablen der Person gründet. Dieser Motivation stehen unterschiedliche Faktoren gegenüber, welche die Motivation des Täters herabsetzen können und letztlich darüber entscheiden, ob es zu einem sexuellen Missbrauch kommt. Diese Faktoren lassen sich inneren Hemmnissen (d.?h. innerpsychischen Faktoren des Täters), äußeren Hemmnissen (d.?h. sozialen oder kulturellen Faktoren) und dem Widerstand des Opfers (d.?h. Verhaltensweisen und Eigenschaften des Opfers) zuordnen. In seinen Überlegungen, Planungen und Verhaltensinitiativen analysiert und wägt der Täter mehr oder weniger bewusst ab, welche Voraussetzungen im vorliegenden Fall gegeben sind bzw. welche Faktoren er erwarten kann. Vom Täter wird jeweils ausgelotet, welche Hemmnisse seiner Motivation entgegenstehen und in welchem Ausmaß er mit einem Widerstand des Opfers rechnen kann. Das Ergebnis dieses Prozesses des Analysierens und Abwägens bestimmt, ob der Täter aktiv wird und erste Initiativen setzt. Vom Ausgang dieser ersten Initiativen wird es abhängen, ob er seine Strategien fortsetzt oder diese abbricht. Der Täter wird dann seine Initiativen beenden, wenn Hemmnisse oder der Widerstand des Opfers seine Motivation so weit herabsetzen, dass er von seinem ursprünglichen Ziel, das Kind zu missbrauchen, ablässt. Wenn seine Motivation hingegen stark genug ausgeprägt bleibt, bestehende Hemmnisse oder Widerstände des Opfers zu überwinden, so wird er sein Ziel weiterverfolgen. Ob diese Prozesse des Auslotens oder Abwägens explizit oder implizit erfolgen, vom Täter bewusst gesetzt werden oder unbewusst ablaufen, wird von den jeweils gegebenen Konstellationen des Einzelfalles abhängen. Auf der Suche nach den Entstehungsbedingungen von sexuellem Missbrauch ist die Frage der Bewusstheit dieser Prozesse letztlich irrelevant. Eine Klärung der Frage nach den Entstehungsbedingungen von sexuellem Missbrauch erfordert, die genannten Bereiche zu analysieren und jene Faktoren zu isolieren, die für den Prozess der Entstehung von sexuellem Missbrauch tatsächlich relevant sind – unabhängig davon, ob dieser Prozess bewusst oder unbewusst geschieht. Dieses Modell der vier Voraussetzungen darf jedoch nicht als allgemeingültige Theorie missverstanden werden, die geeignet ist, die Gesamtheit der beschriebenen Faktoren auf alle Tathandlungen anzuwenden, um in jedem Einzelfall erklären zu können, warum es zum sexuellen Missbrauch gekommen ist. Bei jedem Fall wird es unterschiedliche Schwerpunkte geben, manche der Faktoren werden relevant sein und andere Faktoren hingegen keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. Auch wenn dieses Modell nicht als Theorie zu sehen ist, so hilft es doch, das Spektrum der prinzipiell relevanten Faktoren zu strukturieren und mögliche Zusammenhänge aufzuzeigen. |51|2.1 Motivation des Täters
2.1.1 Emotionale Kongruenz mit Kindern Finkelhor (Finkelhor, 1984; Finkelhor et al., 2016) beschreibt die emotionale Kongruenz als einen zentralen Faktor für die Motivation des Täters. Sich zu Kindern und ihrer Welt hingezogen zu fühlen, dem Denken und Fühlen von Kindern näher zu sein als dem Denken und Fühlen von Erwachsenen, ist häufig in Schilderungen von Pädophilen zu finden (Berner, 2005). Bereits Krafft-Ebing (1912/1984) beschreibt dieses Erleben von emotionaler Kongruenz mit Kindern im Zusammenhang mit Pädophilie. Daten belegen, dass ein Gefühl der emotionalen Kongruenz mit Kindern bei bestehendem sexuellen Interesse an Kindern nicht nur das Risiko erhöht, einen sexuellen Missbrauch zu begehen (Hermann, McPhail, Helmus & Hanson, 2017; Konrad, Kuhle, Amelung & Beier, 2018; McPhail, Hermann & Nunes, 2013), sondern dass dieses Kongruenzgefühl auch das Rückfallrisiko erhöht (Hanson & Morton-Bourgon, 2005; McPhail et al., 2018). Für dieses Gefühl können unterschiedliche Faktoren verantwortlich sein. So können Täter in ihrem emotionalen Entwicklungsstand Kindern ähneln. Erlebnisse in der Kindheit, beispielsweise eigene traumatische Erfahrungen, können eine emotionale Reifung verhindern und dazu führen, dass Personen sich nicht über eine frühe Stufe der emotionalen Reife hinaus weiterentwickeln und daher Beziehungen zu Kindern jenen zu Erwachsenen vorziehen. Interessant in diesem Zusammenhang sind Befunde, dass Pädophile im Vergleich zu Personen, die sich sexuell zu Erwachsenen hingezogen fühlen, eine signifikant geringere Beinlänge aufweisen (z.?B. Fazio, Dyshniku, Lykins & Cantor, 2017). Eine reduzierte Beinlänge gilt als valider Marker für dysfunktionale Entwicklungsbedingungen, die prä- oder perinatal bzw. in der frühen Kindheit auftreten und die sich neben der körperlichen Entwicklung entsprechend auch auf die emotionale und psychische Entwicklung auswirken können. Defizite in der emotionalen Entwicklung können darüber hinaus auch zu einer ausgeprägten Identifizierung mit Kindern führen. Selbst wenn die empirische Evidenz nicht dafür spricht, dass eine Überidentifikation mit Kindern bei allen Missbrauchstätern zu finden ist, scheint dieser Faktor vor allem bei extrafamiliären Missbrauchstätern und bei Tätern, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit Kinder missbrauchen, relevant zu sein (Fisher, Beech & Browne, 1999; McPhail et al., 2018; Sullivan, Beech, Craig & Gannon, 2011). Neben den angesprochenen Aspekten scheint bei einer Gruppe von Tätern auch das Vorhandensein eigener Traumata aus der Kindheit und möglicherweise deren Bewältigung ein wichtiges Motiv zu sein, den Kontakt mit Kindern zu suchen. Ein eigener sexueller Missbrauch wird als zentraler Risikofaktor gesehen, selbst |52|zum Täter zu werden. Den psychischen Mechanismen, die an diesem Prozess der Opfer-Täter-Entwicklung beteiligt sind, wird ein eigener Abschnitt gewidmet (siehe Kapitel 2.1.6), in dem neben der empirischen Evidenz zu diesem Bereich die Bedeutung jener Faktoren diskutiert wird, die für diesen auf den ersten Blick nur schwer nachvollziehbaren Zusammenhang verantwortlich sind, der Opfer letztlich dazu bringt, ihre eigenen traumatisierenden Erfahrungen später selbst, durch eigene Handlungen, Kindern zuzufügen. 2.1.2 Mängel in der Bedürfnisbefriedigung Studien zeigen, dass sexuelle Missbrauchstäter häufig einen unsicheren Bindungsstil aufweisen. Zwar sind alle Sexualstraftäter eher unsicher gebunden, doch finden wir den unsicheren Bindungsstil deutlich häufiger bei Tätern mit kindlichen Opfern als bei Tätern mit erwachsenen Opfern (z.?B. Lyn & Burton, 2004). Dennoch konnte kein direkter Zusammenhang zwischen Bindungsstil und Sexualstraftaten nachgewiesen werden (z.?B. Seto & Lalumière, 2010). Die Auswirkungen des Bindungsstils zeigen sich vielmehr indirekt, über weitere Variablen. Ein unsicherer Bindungsstil ist häufig assoziiert mit Selbstwertproblemen, Gefühlen der Unzulänglichkeit und sozialen Kompetenzdefiziten. Entsprechend belegen viele Studien, dass Missbrauchstäter in diesen Bereichen deutliche Auffälligkeiten zeigen (Cohen et al., 2002; Marshall, Cripps, Anderson & Cortoni, 1999; Ward, Hudson & France, 1993; Whitaker et al., 2008). Bei...